Kaiser Lothar der III und der Kaiserdom

 

Was der Mensch erjagen will, das bindet ihn, was er erjagt hat, dem unterliegt er.

 

Der Thesenanschlag von Königslutter

von Otto Kruggel

 

 

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Die von Kaiser Lothar III. 1135 zur Ausbreitung des neuen religiösen Kultes herbeigeholten Hirsauer Reformer (1) verkündeten ihre wichtigsten Thesen am Allerheiligsten ihrer sensationellen kaiserlichen Klosterkirche mittels modernstem Bildwerk.

 

 

Kaiser Lothar hatte in den zehn Jahren seiner Herrschaft in zähem Ringen Frieden im Reich und an allen Grenzen hergestellt. Die Chronisten dieser Zeit vermerken dies ausnahmslos und meist mit lobenden Worten. Auf der Bleiplatte, die man dem toten Kaiser unter den Kopf legte, wird er als pacificus bezeichnet (2). Leider konnte der 60 jährige Imperator diesen Frieden nur kurzfristig genießen und nicht zum wirtschaftlichen und kulturellen Auf- und Ausbau , und somit nicht zur Konsolidierung seines Ansehens nutzen, da der Hilferuf des Papstes Innozenz II. ihn zum Heerzug gegen Roger II. von Sizilien zwang.

 

Nach dem Fußfall des Herzogs Friedrichs II. von Schwaben am 18.3.1135 während des großen Hoftages von Bamberg (3) und der Verkündigung eines zehnjährigen Landfriedens am Pfingsttag , dem 26.5.1135 in Magdeburg (4), legten der Kaiser und die Kaiserin am Peter und Paulstag 1135 den Grundstein für den Bau ihrer Gedächtnis- und Grabeskirche, die den Keim der künftigen königlichen Residenz bilden sollte (5).

 

Höchstwahrscheinlich war es Bischof Otto von Bamberg (1102 - 1139), der dieses gediegene Bauwerk und seine sensationelle Botschaft entwarf. Er hatte 1097 bis 1102 die Dombaustelle in Speyer verwaltet und danach als Bischof fast 30 Klöster, Stifte und Zellen ins Leben gerufen, wobei sich Vorlieben für die Hirsauer und nach 1134 für die Prämonstratenser abzeichnen. (6)

 

Lothar unterstützte die herausragende Rolle des Bambergers, der von ihm wie kein anderer geistlicher Fürst mit Privilegien überhäuft wurde (7). "In ihnen sind Gunstbeweise weniger für geleistete als für solche Dienste zu erblicken, die Lothar von dem Bamberger Ordinarius erhoffte" (8). Auch Ottos Brüder Friedrich von Mistelbach und Luitfried waren Wohltäter der Hirsauer (9). In den Viten des Bischofs, die erst nach Lothars Tode, also in der Stauferzeit geschrieben wurden, ist dieses besondere Verhältnis nicht erwähnt, denn Bischof Otto war ein Vetter des neuen Königs Konrad III.

 

Vorstufen für den Spitzenbau in Königslutter, der einzigen kaiserlichen Kirche der "Deutschen Cluniazenser", lassen sich an den romanischen Kirchen des heiligen Bischofs Otto von Bamberg (10) , besonders an St. Michael in Bamberg (gew.1121) und SS. Maria und Stephan in Biburg (ab 1133) ablesen. Es gab keinen erfahreneren architectus für den Bau, den Kaiser Lothar als Krönung seines Lebenswerkes den fortschrittlichsten  Kräften stiftete.

 

Da für Lothars Übereignung des Klosters Münchsmünster und der dortigen Pfarrkirche St. Vitus im Jahre 1133 an das Bistum Bamberg keine Gegenleistung genannt ist, könnte diese in den Bemühungen Ottos um Lothars großartige Gründung gesehen werden. (11)

 

Sicherlich war dem Bauexperten die Modewelle der Darstellung antikisierender Jagdfriese an Kirchen bekannt. Eines der schönsten Beispiele für diesen Trend ist die figurenreiche füllige Darstellung eines passionierten Hauens und Stechens auf Hirsch und Eber durch typische "Römerköpfe", die Meister Girauldus um 1100 im Tympanon von St. Ursin in Bourges nach Muster antiker Sarkophage meißelte. (Abb.  )

 

Die Verwendung beliebten antiken Formengutes für christliche Aussage begann allerdings schon im 4. Jahrhundert. Auf dem Mittelmedaillon der Seusoplatte (Abb.  ) bekennt sich der reiche Römer noch ziemlich zurückhaltend aber doch dezent zur neuen Religion. Die Umschrift beginnt mit dem Christusmonogramm im Siegeskranz, und die Damen des  Banketts nehmen Wein und Brot an dem genau in die Mitte gesetzten Opfertisch mit dem Fisch ein. Im langen endlosen Jagdfries am Plattenrand sind der Hirsch, der Keiler, die springenden Hunde und derHasenträger zu finden. (12)

 

Mit der Übernahme der Eustachiuslegende aus östlich angrenzenden Kulturen kam die Allegorik, das Hineinlegen moralischen Sinns, in die Präsentation von Jagdszenen. Der trajanische Feldherr Placidus wollte einen besonders großen Hirsch erjagen, wurde aber selbst von diesem gefangen, der zu ihm sprach: "O, Placide, warum verfolgst du mich ? Ich bin dir zu Lieb in dieses Tieres Gestalt erschienen, denn ich bin Christus, welchen du unwissend ehrest. Deine Almosen sind zu mir empor gestiegen, darum bin ich zu dir gekommen, daß ich dich durch diesen Hirschen fahe, den du selbst zu erjagen wähntest," heißt es in der Legenda Aurea des Jacobus von Voragine. (13)

 

Das Strukturelement der Peripetie (14), das plötzliche Umschlagen, das nach Goethe "Unerhörte", das jede novellistische Begebenheit an sich haben muß, die entscheidende Wendung durch das Kreuzzeichen, tauchte etwa gleichzeitig in der Legende von Sanct Barlaam und Josaphat (15) auf. In dieser christlichen Adaption der Buddhalegende wird der Zauberer Theodas, der den Königssohn Josaphat vom christlichen Glauben abbringen sollte, schließlich selbst von diesem bekehrt, "von ihm selber gefangen, den er fangen wollte" (16)

 

In Georgien sind zwei eindrucksvolle Darstellungen der Eustachiuslegende  aus dem 7. Jahrhundert erhalten : An der Zionskirche von Ateni ragen die Relieffiguren des heranreitenden Bogenschützen und eines von zwei kleineren flankierten großen Hirsches aus drei Quadern der Westfassade. Der einzige Zugang zu der Kirche hoch über der Tana führt von der Treppe genau auf dieses Bildwerk hin. (17). (Abb.  )

 

Bei der Kathedrale von Martwili füllt das Bild des auf den Hirsch anlegenden Reiters das nördliche Drittel des Apsisfrieses ! (18). (Abb.  ) Durch die byzantinische Rekonquista des  9. /10. Jahrhunderts in Apulien gelangte die Eustachiuslegende ins Abendland. In der berühmten Basilika Sainte-Madeleine von Vézelay erscheint um 1120 eine schöne dekorativ-illustrative Darstellung der Jagd des Eustachius in einem Kapitell des Langhauses  (Abb. ), und an der 1130 geweihten Kathedrale Saint-Lazare in Autun befindet sich eine im Gewände des grandiosen Westportals. Seit dem 14. Jahrhundert wird Eustachius in der Reihe der 14 Nothelfer dargestellt und seit dem 15. Jahrhundert teilweise durch Hubertus ersetzt.

 

Der Fundus, der dem Schöpfer der ehernen allegorischen Darstellung in Regis Luttera zur Verfügung stand, war also reichlich gefüllt, aber die entscheidende Komponente dafür kam aus dem Programm der aktuellen Reformbewegung.

 

Um 1130 wurde im Benediktinerkloster Ochsenhausen bei Memmingen, dessen Vogt Heinrich der Stolze, der Schwiegersohn des Kaisers war, ein seit Jahrzehnten bekanntes Gedicht in ahd. Sprache in die Handschrift eingetragen, die auch Teile des Ezzo-Liedes enthält und dem sein Neuentdecker K.A. Barack 1878 die Überschrift   "Memento mori" gab. (19) Dieser Titel wie auch die oft gebrauchte Bezeichnung Bußpredigt sind unzutreffend.

An diesem ersten deutschsprachigen Dichtwerk, das voll und entschieden dem Ernst und Eifer der religiösen Erneuerungsbewegung entsprossen ist, wird zugleich die Absicht der Erfassung der Laienwelt, in erster Linie der adligen, sichtbar. (20)

 

Der Aufforderung "Nu denchent wib unde man, war ir sulint werdan" in der ersten Zeile folgt die Schilderung der Übel der Welt (du vil ubeler mundus). Wer ihrem Zauber verfällt, den läßt sie nicht mehr frei, der unterliegt ihr und versäumt das Sorgen um sein Seelenheil, seine künftige Glückseligkeit (die ewigun mendin, dar ir immer solltint sin). Diese wird nur erreicht durch rechtzeitige Umkehr zum steten Leben in gottgewollter Gleichheit der Menschen, ein Leben in Brüderlichkeit und Gerechtigkeit. Das verlangt vom Reichen, seinen Reichtum mit den Brüdern zu teilen, bevor der Tod, der große Ausgleicher (ebenare), ihm alles, auch die Möglichkeit nimmt, gut zu werden.

 

Mit dem Bild vom Pilger auf dem rechten Wege, der bei der Rast unter einem schönen Baum einschläft und dadurch sein Ziel verfehlt, warnt der Dichter vor den Verlockungen des Bequemen und Angenehmen. Die folgende Auslegung des Bildes: "Ir bezeichint allo den man ... ter boum bezeichint tisa werlt" auf Jagdbilder übertragen hieße dann: "Ihr seid alle durch den Jagenden versinnbildlicht, das Wild ist das Sinnbild der Welt."

 

Eine Darstellung des unter dem Baum eingeschlafenen Pilgers befindet sich in den Museen Preußischer Kulturbesitz in Berlin. (Abb.    ) Damit wird belegt, dass dieses epochale Gedicht  im 16. Jahrhundert bekannt war, als Luther und Erasmus von Rotterdam um Wert und Rang der Willensfreiheit stritten.

 

Nach dem Aufruf zum Nachdenken, der Schilderung der Mißstände und der Mahnung zur Umkehr folgt schließlich die entscheidende und ermutigende Mitteilung: Solange wir hier leben, hat Gott uns die Selbstwahl (selbwala), die Willensfreiheit gegeben, der gleich die Bitte um rechte Erkenntnis folgt.

Das ist die erstmalige Proklamation der Willensfreiheit in deutscher Sprache und damit der Individualität des Menschen !

 

Da aber nur wenige Menschen damals schriftkundig waren, predigten die Reformmönche es ihnen außerhalb von Gottesdienst und Gotteshäusern auf Straßen und Plätzen. An einem dieser Plätze, und nicht nur irgendeinem,  sondern am prominentesten im Reich, dem Platz am Allerheiligsten des Gotteshauses der künftigen Residenz, ließen sie es für allezeit in Stein meißeln.

 

Als Blickfang dieses Appells an alle wählten sie die beliebten Jagdbilder, die den Menschen seit Anbeginn zur Symbolisierung seiner Herrschaft über die Tierwelt reizten und nun zur Beherrschung seiner vitalen Triebe und bösen Begierden, zur Selbstbeherrschung mahnen sollen.

 

Selbstverständlich kann hier nicht der privilegierte Adlige gezeigt werden, der seiner Jagdleidenschaft frönt. Schon Plato schrieb, dass die gesamte Jägerei, so reichhaltig und erfinderisch sie ist, weder Weisheit noch Seelenadel erzeugen könne (21).

 

Deshalb wird hier der einfache Mensch im schlichten Chiton dargestellt.  Ohne Roß und Waffen jagt er Hase, Eber und Hirsch nach, die, durch Rosetten separiert,  seine weltlichen Wunschobjekte symbolisieren, kleine, mittlere und große.

 

Im überraschenden Mittelbild wird er selbst vom kleinsten, das er erjagte, gebunden und unterlieget ihm. Was der Mensch erjagen will, das bindet ihn, und was er erjagt hat, dem unter- liegt er, soll und kann der Betrachter hier ablesen. Wer dem Geld nachjagt, bindet sich ans Geld und unterliegt ihm (Ecl 5.10). So ist es mit allem, was der Mensch erstrebt und erreicht hat. Es legt ihn fest, prägt ihn und gibt ihm seine Identität.

 

Nach der Lehre des Hugo von Saint-Victor (1096 - 1141) vom mehrfachen Schriftsinn ist für sein Erfassen das Durchdenken der Anschauung nötig. (22) Wenn das überraschende Mittelbild den Betrachter zum Nachdenken anregt, ob er auch zu sehr Geld, Gut und Gewalthabe nachjage wie die, deren Tun die Reform dringend notwendig macht, oder ob er zu denen zähle, die Leben, Gerechtigkeit und Ehre dadurch finden, weil sie Gerechtigkeit und Güte nachjagen, (5 Mo 16.20 und Spr 21.21) dann ist die Stufe des Erfassens erreicht.

 

Selbstverständlich ist das alles in der Bibel bereits gesagt. Allerdings schreibt Eras- mus von Rotterdam in der Vorrede seiner Diatribe " Vom freien Willen " (Göttingen 1998): "Unter den vielen Schwierigkeiten, die einem in der Heiligen Schrift begegnen, ist kaum ein so unergründlicher Irrgarten wie der vom freien Willen. Dieser Gegenstand hat schon manchmal in alter wie neuerer Zeit den Geist der Philosophen und der Theologen in erstaunlichem Maße beschäftigt,  jedoch - wie mir scheint - mit mehr Mühe als Erfolg."

 

Origenes (184 - 253), der 28 Jahre lang an seiner Textanalyse des Alten Testaments arbeitete, "Vier Bücher über die Grundlehren des Glaubens" schrieb und meinte, dass die universale Lehre des Christentums auch in philosophischer Form ihren Ausdruck findet, erklärte in seiner Schrift "Vom Gebet" (VI. 2): "Wer die freie Selbstbestimmung leugnen will, wird sich zu einigen sehr törichten Annahmen gezwungen sehen: erstens, dass wir keine vernünftigen Wesen sind; zweitens, dass wir wohl nicht einmal lebende Wesen sind; drittens, dass wir, so könnte man dann sagen, immer nur infolge äußerer Einwirkungen mechanisch ausführten, was wir nach allgemeiner Meinung willentlich tun...".

Aus der Fülle der Belegstellen in der Bibel seien folgende genannt, zu denen viele philosophische Entsprechungen und Suren des Koran zu finden sind:

-(Gott) hat den Menschen von Anfang an geschaffen und ihm die Wahl gegeben. (Sir 15.14)

 

- Siehe der Mensch ist geworden wie unser einer, zu erkennen Gutes und Böses. (1 Mo 3.22)

 

- Es ist dir gesagt, o Mensch, was gut ist, und was fordert Gott von dir, als Recht üben, Güte lieben und demütig zu wandeln mit deinem Gott. (Mi 6.8)

 

-Der Mensch hat Leben und Tod vor sich, was er will, das wird ihm gegeben werden. (Sir 15.17)

 

 vgl. Koran 3.139: Wer den Lohn der Welt begehrt, dem geben wir von ihr, wer den Lohn des Jenseits begehrt, dem geben wir von ihm.

- Ich richte niemand. (Joh 8.15)

vgl. Plato, Der Staat, 617: Verantwortlich ist der Wählende, die Gottheit hat damit nichts zu tun...

 

Für den liegt ein wünschenswertes Lebenslos bereit, der mit Verstand wählt und ein angespannt tätiges Leben führt, und kein schlimmes. Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, auf daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn gerettet werde. (Joh 3.17)

 

-  Der Gerechtigkeit sollst du nachjagen, auf daß du lebst und und das Land einnimmst, welches der Herr, dein Gott dir gibt. (5 Mo 16.20)

 

-  ... werdet verwandelt durch die Erneuerung  eures Sinnes, daß ihr prüfen mögt, was der gute und wohlgefällige und vollkommene Wille Gottes ist. (Röm 12.2)

 

-  Und er führte mich im Geiste hinweg auf einen hohen Berg und zeigte mir die heilige Stadt, Jerusalem, herniederkommen aus dem Himmel von Gott. (Offb. 20.10)

 

-  Alles, was du zu tun vermagst mit deiner Kraft, das tue; denn es gibt weder Tun noch Überlegung noch Weisheit in der Unterwelt, wohin du gehst. (Ecl 9.10)

 

-  Was du tust, so bedenke das Ende, so wirst du nimmermehr Übles tun. (Sir 7.40)

 

Diese weise Lehre ist auch in den Gesta Romanorum Nr. 103 zu lesen. "Domitianus, ein sehr weiser und in allem gerechter Kaiser, der niemanden verschonte, auf daß er nicht den Pfad der Gerechtigkeit verließe, " ließ sie an die Wände seines Thronsaales und seines Gemaches schreiben: Quidquid agis, prudenter agas et respice finem.

Kaiser Marc Aurel mahnte in seinen "Selbstbetrachtungen" (IV.17): "Werde gut, solange du noch lebst, solange noch die Möglichkeit dazu besteht."

Heinrich der Löwe legte sie illustriert in einem kostbaren Evangeliar auf den Altar seiner Grabeskirche.

 

Kaiser Lothar ließ es sie an alle gerichtet und für alle lesbar am Allerheiligsten seiner geplanten Residenzkirche mitteilen, die er im zukunftsträchtigsten Reichsgebiet am Schnittpunkt der wichtigsten West- Ostverbindung und dem lauteren Abfluß der wasserreichsten echten Quelle Deutschlands errichten ließ.

Bemerkenswerterweise ohne Heiligenfiguren und Teufel !

 

Die 12 Konsolfiguren symbolisieren die schändlichen Götzen, denen zu dienen alles Bösen Anfang, Ursache und Ende ist. (Sap 14.27)  Der Rückgriff auf antikes Formen- und Gedankengut erforderte Deklarierung der antiken Götter zu Götzen: "Denn alle Götter der Heiden sind Götzen. (1 Chron 16.25; Ps 96e. 5). Sie sind Werk von Menschenhänden (5 Mo 4.28; Ps 115 u. 135), sie können weder helfen noch schaden (Jer 10.5), sie haben Augen, aber können nicht sehen" (Ps 115). Die Augen sind aus Blei.

"Weil ihr wißt, daß es keine Götter sind, so fürchtet euch nicht vor ihnen" (Bar 6.24). Germanische Götter sind hier nicht dargestellt, denn die germanischen Religionen hatten keine Götterbilder. Tacitus, Germania IX : " Im übrigen glaubten die Germanen, daß es der Hoheit der Himmlischen nicht gemäß sei, Götter in Wände einzuschließen oder sie irgendwie der menschlichen Gestalt nachzubilden. Sie weihen ihnen Lichtungen und Haine, und mit göttlichem Namen benennen sie jenes geheimnisvolle Wesen, das sie nur in frommer Verehrung erblicken."

 

Zu sehen sind von Süd nach Nord

 

1. zwei Sirenen (Jes 13.22),

2. zwei Basilisken (Jes 14.29, Jer 8.17),

3. ein Jupiterkopf (Jupiter Tonans),

4. zwei  Amphisbaenadrachen,

5. ein Bärenkopf mit anhängenden Drachen,

6. ein Widderkopf (Offb 13.11),

7. ein römischer Wasserspeier aus dessen Munde gefiederte Schakale kommen,

8. ein Stierkopf (Suovetaurilia-Opfertier),

9. zwei Geier (Offb 18.2),

10. ein Faunkopf,

11. zwei verschlungene Drachen (Jes 30.6),

12. eine Blattmaske, (Ov. met I. 549: "grünend erwachsen zu Laub die Haare") 

      s.a. Großer Tempel von Hatra, Kathedra Petri, Konsole unter dem Bamberger

      Reiter, Kapitelle in Modena, Fensterkonsole an der Südwand von St. Katharinen in       Braunschweig.

 

 

Wie die Blattmaske, von der ein sehr schönes Exemplar aus dem 2. Jh. in den Ruinen des großen Tempels von Hatra erhalten ist, so sind selbstverständlich beim Musterbau der deutschen Protorenaissance in Königslutter auch die anderen Figuren gute Nachbildungen antiker Gestaltsvorbilder. Ein verwandtes Muster für die Hundedarstellungen ist in einer Reliefplatte aus dem Amphitheater von Hierapolis in Phrygien (heute Pamukkale) erhalten. (Abb.  )

 

Ebenso sind alle Rahmungs- und Gliederungselemente beste Nachbildungen antiken Formengutes. Auf attischer Basis fußen  Lisenen mit Wulst- Karniesprofil,  das unter den Akanthusblattkapitellen zu den Blendarkaden fortgeführt wird. Darüber wölbt sich die kräftige dreistufige (!) Akanthusblattwelle mit abschließendem Astragal.

 

Die Bleifüllung der Augen aller Figuren ist vermutlich aus Biburg , eventuell auch mit den zugehörigen Fachleuten übernommen worden, so wie 1120/21 eine Kolonne Steinmetze von Hirsau nach Paulinzella kam. (23).  Die Technik besteht darin, pilzförmige Plomben in konisch erweiterte Bohrungen zu stauchen. Eine Nut in der Bohrungsseitenwand soll das Drehen der Plombe verhindern. Die Metallfüllung bei Augen von Steinfiguren war bereits in der Antike bekannt. Die mittelalterliche Literatur nennt 7 Metallarten, die sie oft den Planeten zuordnete. Hier wurde das Blei als die niedrigste Stufe gewählt, das seiner "Stoffheiligkeit" wegen als Zeichen der Demut und Buße galt.  Die Nachbildungen der Insignien des Kaisers und die Inschrifttafel in seinem Grabe sind ebenfalls aus Blei.

 

Wenig beachtet ist die Wiederkehr des positiven Portallöwen auf der Spitze des Halbkegeldachs, der Spitze des Allerheiligsten, als Schlußpunkt dieses bekannten und so  sehr verkannten Bildwerks dieses noch immer zu gering geachteten großartigen Bauwerks. Beide Löwen beschützen als Symbol Christi den aus der Erde kommenden Widder als Zeichen der Auferstehung (Joh 5. 28-29). Diese ist der Lohn derer, die die Forderung der Reformmönche einhielten. "Ich, Gefangener des Herrn, ermahne euch, wandelt würdig der Berufung , die an euch gegangen ist, mit aller Demut und Sanftmut, mit Geduld, und vertragt einander in Liebe  und befleißigt euch, die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens zu erhalten." (Eph 4.1-3).

 

Durch den Tod des Kaisers und die Nachfolge der Staufer und der Mystiker unterblieb die Interpretation dieses bedeutendsten Bildwerks der deutschen Romanik.

Es wurde nicht verstanden !

Aber seine Aussage wurde mündlich und schriftlich unzähligemale wiederholt und ist bis heute aktuell. Es gibt bisher keine bessere Antwort auf die Frage nach dem besseren Leben !

 

Hans Jonas (1903-1993)  gab im Anschluß an Kant dem kategorischen Imperativ diese neue Form, die im Jahr 2003 auf einer Briefmarke der Deutschen Post gedruckt wurde: "Handle so, daß die Wirkung deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden".

                                                           

Papst Benedikt XVI formuliert sie in seiner Enzyklika "Deus caritas est" vom 25.12.2005 so: Die gerechte Gesellschaft kann nicht das Werk der Kirche sein, sondern muß von den Politikern geschaffen werden. Aber das Mühen um Gerechtgkeit durch Öffnung von Erkenntnis und Willen für die Erfordernisse des Guten, geht sie zutiefst an.                                                                

                                                               + + +

 

Die in Silben getrennte spiegelbildliche Inschrift  + HOC OPVS EXIMIVM VARIO CELAMINE MIRUM  +  SC  gehört nicht zu der Verkündigung der Reformer, sondern ist die später eingemeißelte unvollendete Signatur des "Meisters von Königslutter". Sie beginnt mit einem Chrismon und heißt übersetzt : Dieses hervorragende Werk, wunderbar durch verschiedenes Verbergen ...

 

Das Chrismon ist seit merowingischer Zeit der symbolische Anruf Christi. In diesem Sinne setzen es Bischöfe noch heute vor ihren Namen. "Niemand soll sich unterfangen, das Zeichen des Erlösers Christi, es möge in Stein oder Marmor gehauen oder darauf gemalt sein, zu ebener Erde anzubringen," gebietet der Codex Justinianus 1.8.1.

Manchmal, wie z.B. im Gipsfußboden von St. Ludgeri in Helmstedt (um 1150), wurde es auch einfach als Trennungszeichen gebraucht. So könnte auch das Kreuz vor den Buchstaben SC gesehen werden, oder aber ein Bezug zum Ruhmesverbot des Paulus in Gal 6.14 :"Es sei mir ferne, mich zu rühmen als nur in dem Kreuze unseres Herrn Jesus Christi."

 

Offensichtlich war die Signatur nicht an dieser Stelle vorgesehen, sondern, wie üblich, am Hauptportal. Da nach dem Tode des Kaisers und der Kaiserin der Bau an der Naht zwischen Quer- und Langhaus für längere Zeit eingestellt wurde, blieb dem Meister als würdigster Signaturplatz nur sein sensationelles Bildwerk an der Apsis. Als würdigste Signaturform kam nur die der "heroischen Phase" (1100-1150) in Frage, die während des fruchtbaren Wettbewerbs beim Wiederaufbau der Lombardei nach dem Erdbeben von 1117 entstanden war.(24)

In drei gereimten Leoninischen Hexametern wird zuerst das Werk gelobt, dann der Name des artifex genannt und schließlich in der Fürbitte der Betrachter zum Gebet für das Seelenheil des sehr selbstbewußten Künstlers aufgefordert. Ein bemerkenswertes Zeugnis des damaligen Wettbewerbs der Steinmetze in dieser Epoche der zweiten, der eigentlichen Mission, mit ihrem gewaltigen Bauboom.

 

Die Fürbitte gehört nach Hab 3.3 in den Süden. Um das in Königslutter einhalten zu können, mußte entweder die Kirche oder  die Schrift umgedreht werden. Die Spiegelschrift erfüllt 1 Kor 13.12: "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in ein Rätsel.."

Durch die Dehnung in Silben füllte das erste Drittel des Textes das erste Drittel der erwählten Ersatzstelle. Der Meister beanspruchte nur dieses eine Drittel der Signatur, da er ja nur an einem Drittel der Kirche mitgebaut hatte.Seinen Namen durfte er an dem unvollendeten Bau nicht einmeißeln. Aber er fand einen Weg, ihn im Namensdrittel gut verhüllt finden zu lassen.

 

Dieses Drittel enthält nur die beiden Buchstaben SC, die wiederholt als abgebroche-nes sculpsit gedeutet wurden und vermutlich fürs erste auch so gesehen werden sollten. Könnten sie aber nicht zugleich das verhüllte Monogramm des Künstlers sein. Den einzigen kaiserlichen Bau dieser Zeit mit hervorragendem Bildwerk versehen zu haben und kein Kennzeichen zu hinterlassen, das entspräche nicht der Gewohnheit der anspruchsvollen und erfinderischen Meister der heroischen Phase.

 

Unter den mit S beginnenden Künstlernamen im damaligen Italien ist die eines Sasso bekannt. Er signierte in der Zeit von 1144 bis 1153 viermal zusammen mit seinen Brüdern Johannes, Petrus und Angelus als Magister und Söhne des Marmo-rarius Paulus in Rom an der Renovierung von S. Croce in Gerusalemme, S. Lo- renzo fuori le mura, SS. Cosma e Damiano und S. Marco. (25)

Dabei fällt auf, daß sein Name italienisch und nicht wie bei den Brüdern lateinisch ist. Es ist wohl unwahrscheinlich, daß dieser Name im Volgare sein Taufnahme sei, sondern der auszeichnende  Übername, den ihm die Mitmenschen zur Unterscheidung von seinen Brüdern gaben. Sasso bedeutet Stein oder Sachse. Die Benennung Stein für einen von vier Steinmetzen zeichnet nicht aus. Aber nach jahrelan-ger Tätigkeit in Sachsen, der Sachse genannt zu werden, tut dies, zumal sein Können dort dem sensationellen Bildwerk der Hauskirche des Kaisers und dem Spitzenbau der deutschen Reformbewegung galt.

 

 

 

Sicherlich wurde auch er in Deutschland, wie es seit Jahrhunderten für die aus Italien stammenden Steinmetze üblich war, Comacini genannt. Sasso Comacini wäre demnach der Meister, der das hervorragende, durch verschiedenes Verbergen wunderbare Werk in Regis Luttera leider nicht vollenden konnte und seinen Namen deshalb in dem Kürzel für sculpsit verbarg.

Er verbarg aber dazu noch  etwas Außergewöhnliches in diesem durch mannig-faches Verbergen wunderbarem Werk, das trotz seiner enormen Größe scheinbar 850 Jahre lang nicht entdeckt wurde.

 

Sein überraschendes und sinntragendes Mittelbild meißelte er zusammen mit dem Hirsch, dem Zeichen der Christusnachfolge nach Ps 42 und in das Fürbittefeld ragend in einen Quader von 13 Fuß = 3.64 m  Breite !  Das Verfahren, Baumaße aus der Anzahl der Namensbuchstaben des Patrones oder der Patrone der Kirche abzuleiten, soll hier wohl in Umkehrung die Buchstabenzahl des verborgenen Künstlernamens angeben.

Daß der Hirsch nach Physiologus auf die Schlange tritt, darf wohl auch zu dem vielfältigen Verborgenen zählen.

 

Die außergewöhnlich korrekt angeordneten und eingemeißelten Buchstaben der Inschriftenkapitalis im Stil der kaiserzeitlichen Inschriften weist mit den zurückgebogenen Ausläufern der R-Abstriche eine stilwidrige Besonderheit auf. Vermutlich ein modischer Schnörkel, der ansatzweise an einigen der damaligen Inschriften auftauchte, aber auch Hinweischarakter haben könnte.

Allerdings ist keine der anderen Inschriften von solcher kalligraphischen Schönheit und keine andere zuvor war rückläufig, silbisch gesetzt, unvollendet und geheimnisvoll wie diese. Vier bemerkenswerte Besonderheiten mehr an diesem einzigen Gotteshaus, das ostentativ am Allerheiligsten und für alle lesbar das Göttlichste im Menschen,  die Willensfreiheit verkündet.

 

Der Bautrupp, der den Ostbereich dieses Münsters in Großquadertechnik aus Elmmuschelkalkstein mit dichtester Fügung errichtete (26), hinterließ am klosterseitigen Abschluß der Hauptapsis deutlich sein Zeichen: das Würfelkapitell mit den Hirsauer Nasen. (27)

 

 

                                                                Nachweise

 

 1.  J.F. Böhmer, Regesta Imperii IV,1, (1994) 448, 450

     

 2.  MIÖG Bd. 97/ 3-4.(1989) S. 433 Abb. 1

 

 3.  Böhmer, Reg. 429

 

 4.  Böhmer, Reg. 440

 

 5.  Otto Kruggel, Die Grundsteinlegung zur Stiftskirche Königslutter

      in: Das Moosholzmännchen, heimatkundliches Beiblatt des lutterschen Stadtbüttels 174

 

 6.  Alexandra Fink, Romanische Klosterkirchen des hl. Bischofs Otto von Bamberg (1102-

      1139): Studien zu Bauherr und Architektur - Petersberg: Imhof, 2001                                                            

 

 7.  Marie-Louise Crone, Untersuchungen zur Reichskirchenpolitik Lothars III. (1125-1137)

      zwischen reichskirchlicher Tradition und Reformkurie

      in: Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Bd. 170, Frankfurt am Main - Bern

 

 8.  Wolfgang Petke, Kanzlei, Kapelle und königliche Kurie unter Lothar III. (1125-1137)

      Köln; Wien; Böhlau, 1984

       Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters; 5

 

,9.  Hans-Martin Decker-Hauff, Das Staufische Haus

      in: Die Zeit der Staufer Geschichte-Kunst-Kultur, Katalog der Ausstellung, Stuttgart 1977

 

10.  Alexandra Fink, Romanische Klosterkirchen... S. 15

 

11.  Böhmer, Reg. 369, 408

 

12.  Marlia Mundell Mango, Der Seuso-Schatzfund,

       in: Antike Welt, Zeitschrift für Archäologie und Kunstgeschichte 21. Jg. 1990/2, S. 70-88

 

13.  Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, übers. von Richard Benz, Heidelberg 1984

 

14.  Aristoteles, poet. 1452 a 22 ff

 

15.  F. Dölger, Der Griechische Barlaam-Roman, Ettal 1953

 

16.  Die Legenda aurea ... S 943 - 958

 

17.  Beridse/Neubauer/Beyer, Die Baukunst des Mittelalters in Georgien, Berlin 1980

 

18.  N. Janberidse, I. Tsitsishvili, Architectural Monuments of Georgia, Stroyizdat, 1996

 

19.  K.A. Barack, s v. Memento mori, in: Zs für Altertum und deutsche Literatur, 23. Bd. 1879

 

20.  Ewald Erb, Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis 1166, Berlin 1982

 

21.  Plato, Epinomis

 

22.  Hugo von Saint-Victor, De scriptoris et scriptoribus sacris, MPL 175, 9-28

 

23.  Johannes Schuster, Kloster Biburg und Wallfahrtskirche Allersdorf, www-alt.kim-forum

       de 2004/03

 

24.   Peter Cornelius Claussen, Künstlerinschriften, in Ornamenta Ecclesia Kunst und

        Künstler der Romanik, Kat. zur Ausstellung des Schnütgenmuseums... Köln 1985

 

25.   Peter Cornelius Claussen, Magistri doctissimi romani, Die römischen Marmorkünstler

        des Mittelalters, Stuttgart 1987, S. 13 ff

 

26.   Rolf Berger, Hirsauer Baukunst - ihre Grundlagen, Geschichte und Bedeutung,  1995/97

 

27.   Strobel, Richard,  Die Hirsauer Reform und das Würfelkapitell mit Ecknasen,

        in Zs für Württembergische Landesgeschichte 30, 1971

 

Otto Kruggel