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Die Aufnahmen des Magdeburger Doms stammen aus 2016. Die Bezeichnung der Aufnahmen im Chorumgang ist an das Werk von Joachim Fait: Das Danielbuch in Stein - Deutung und Bedeutung der Kapitellbilder im Chorumgang des Magdeburger Domes. Evangelische Verlagsanstalt GmbH Berlin 1986 angelehnt.

 

 

 

Dom-Custos Brandt 1866 über die Kapitelle des Doms

Einige Worte über die Kapitäle des Doms zu Magdeburg.

Vom Dom-Custos Brandt.

 

Die Kapitäle am Dom zu Magdeburg verdienen, abgesehen von der an ihnen sichtbaren Mannigfaltigkeit der Erfindung, Sauberkeit und Feinheit in der Ausführung, auch deshalb eine sorgfältigere Betrachtung, weil sie aus verschiedenen Zeiten des Mittelalters, aus dem Zeitraum von etwa 1210 bis 1300 stammen und daher in ihren Formen und Ornamenten uns eine fast vollständige Geschichte der Veränderung und Ausbildung des gothischen Kapitäls überhaupt geben können. Indem wir diesen Standpunkt hier festhalten, übergehen wir die an ihnen häufig vorkommenden symbolischen Figuren, und legen auf die muthmaßliche Bedeutung derselben, welche schon an einem andern Orte besprochen ist, *) kein Gewicht, wir wollen uns vielmehr nur kurz mit der Entwickelung der Kapitälformen und deren Verzierungen beschäftigen und dabei besonders hervorheben, wie diese in ihren Uebergängen aus dem romanischen in den gothischen Baustil neben einander in derselben Kirche vorkommen.

Der erste von Otto dem Großen im zehnten Jahrhundert erbaute Dom war im Jahre 1207 ein Raub der Flammen geworden und das stehengebliebene Mauerwerk wurde schon im folgenden Jahre abgebrochen, um für den Neubau Platz zu gewinnen. Die von Otto gebaute Kirche scheint ein Prachtbau gewesen zu sein, da historisch fest steht, daß dieser Regent aus Italien werthvolles Material, namentlich Marmorsäulen, zur Ausschmückung des Doms schickte.

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*) Der Dom zu Magdeburg von Brandt. Magdeburg bei E. Baensch 1863. S. 45 ff.

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Schon im Jahre 1208, nach andern Nachrichten 1210, fing der Erzbischof Albert den neuen Dom zu bauen an, und zwar, wie bei allen großen Kirchen, welche man nicht gleichzeitig in allen ihren Theilen in die Höhe führen konnte, mit dem Chore, um nur erst für die Stiftsherren einen heiligen Ort für ihren Gottesdienst zu gewinnen.

 

 

Hier, besonders in dem fünfseitigen Chorschluß, stellte man die aus dem ersten Dom geretteten antiken Säulen, welche aus polirtem ägyptischen Granit, aus Porphyr und Marmor gearbeitet sind, wieder auf, gab ihnen aber, um Schaft und Kapitäl in Einklang zu bringen, ein Kapitäl mit den bekannten Akanthusblättern, wie man diese an antiken korinthischen Bauten findet. — Diese Kapitäle mußten wir, weil ihre Ornamente in die vorgothische Zeit gehören, hier zuerst erwähnen, obgleich sie für unsern speziellen Zweck nicht weiter in Betracht kommen können.

Die romanische Bauweise hatte das Würfelkapitäl angewandt mit seinen nach unten laufenden abgeschrägten Ecken, welche die Vermittlung mit der sich nach oben mehr oder weniger verjüngenden Säule bildeten. Die einfachen Ornamente auf diesem Kubus bestanden anfangs nur aus krummen Linien, meistens Kreissegmenten; nur vereinzelt treten Bildwerke, welche aber auch nur sculptirten Zeichnungen gleichsehen, auf, wie z. B. die Symbole der Evangelisten an vier Kapitälen der Krypta des Brandenburger Doms. In ihren Ornamenten mehr ausgebildet sind schon die romanischen Kapitäle in dem südlichen Theile unsers Domkreuzganges aus der Zeit von 1130. Ihre verschieden gebildeten, dem Kern des Kapitäls anliegenden Blattformen sind schon tief eingeschnitten und neben ihnen finden wir sogar einige Male Thierfiguren und Darstellungen aus der Thierfabel.

 

 

Gegen das Ende des 12. Jahrhunderts, also am Anfange der Uebergangsperiode, wo die ersten Elemente des mehr in die Höhe strebenden gothischen Stils, wenn auch noch unsicher und inconsequent, sichtbar werden, ändert sich auch die Form des Kapitäls: an die Stelle des Würfels tritt der mehr gestreckte Kelch. Solche Kelchkapitäle finden wir im Dom besonders an den Außenseiten der fünf Chorkapellen, welche mit dem Chore, dem Querschiffe und einem Theile des Langschiffes um 1210 zu bauen angefangen wurden. Im Innern des Chores ist der Würfel halbirt und statt der

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abgeschrägten Ecken stellt sich unter diesen die Vase dar, sowohl an den Rundstäben, als an den Pfeilern, an welchen nun ein vollkommener Kapitälkranz entsteht. Die Verzierungen an allen diesen Kapitälen bestehen aus Arabesken, jenem phantastischen Blatt- und Rankenwerk, welches man vorsätzlich dem Naturblatte nicht nachbildete, und von dem man behauptet, daß es von den Saracenen oder Arabern in ihren Prachtbauten zuerst angewandt, und von diesen während der Kreuzzüge auch in die christliche Baukunst des Abendlandes übergegangen wäre. — Diese Arabesken sind in unserm Dom, wie in gleichem Grade vielleicht in keiner anderen Kirche, mit außerordentlichem Geschick und Fleiße gemacht, an vielen Stellen ganz hohl und frei von dem festen Kapitälkerne gearbeitet, so wie mit dem größten Scharfsinn erfunden, so daß ihre Mannigfaltigkeit sich allein dadurch erklären läßt, daß beim Bau der alten Kirchen der Obermeister zwar die Form des Kapitäls bestimmte, die Verzierungen aber den unter ihm arbeitenden geschickten Meistern und Parlirern überließ, von denen jeder etwas Vorzügliches leisten und seine Mitarbeiter entweder übertreffen, oder ihnen wenigstens ebenbürtig erscheinen wollte.

Die Arabesken sind oft mit menschlichen, thierischen und phantastischen Figuren, Köpfen, Larven u. s. w. vermischt, ohne daß jedoch dabei eine Consequenz beobachtet ist. Es scheint der eine Arbeiter sie mehr, der andere weniger geliebt zu haben. Nur so viel sei hier erwähnt, daß diese Figuren allein im Chore vorkommen, im Kreuz- und Langschiffe aber nicht mehr angetroffen werden, mit der einzigen Ausnahme, daß an einer Stelle des zweiten nördlichen Pfeilers zwischen den Arabesken ein Löwenkopf heraussieht. —

 

 

Hatte sich im Laufe der Zeit von 1210 bis 1230, wo man nach und nach den Chor und einige Theile des Quer- und Langschiffes bauete, der Geschmack verändert, oder wollte man den vornehmsten Theil der Kirche, den Chor, (Sanctuarium) mehr auszeichnen?

Bei diesen Kapitälen ist noch auffallend, daß das eine derselben, das des zweiten südlichen Pfeilers des Langschiffes, also das letzte dieser Bauperiode, nicht ganz vollendet ist, wie eine genauere Besichtigung ergiebt.

 

 

Es sind zwar einige Theile an dem auch diesen Pfeiler umgebenden Kapitälkranze fertig, andere aber sind nur in ihren Hauptformen angegeben und entbehren daher der vollkommenen

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Ausarbeitung der Details, besonders in den Linien und Rippen der Blätter. Diese Erscheinung möchte die hier und da von Alterthumsforschern ausgesprochene Ansicht bestätigen, daß die Kapitäle in alter Zeit immer zuerst in der Bauhütte aus dem Rohen gearbeitet und dann in das Mauerwerk gebracht wurden, wo sie erst ihre Vollendung erhielten, denn die Ornamente, besonders die tiefer oder flacher auszuarbeitenden Linien, mußten auf die Entfernung, aus welcher sie vom Fußboden der Kirche aus gesehen werden sollten, berechnet werden Der Bau des Doms scheint danach an dieser Stelle, vielleicht nach Vollendung des Chores c. 1230 plötzlich auf einige Zeit sistirt zu sein. Bei Wiederaufnahme der Arbeiten nach etwa 30 Jahren hatte sich der Geschmack in der Formation der Kapitäle bedeutend verändert, auch hielt man nun entweder das bezeichnete Kapitäl für vollendet, oder das an demselben noch Restirende für so unbedeutend, daß es ohne Störung auch fehlen konnte.

Ehe wir jedoch den angegebenen Zeitraum der Uebergangsperiode verlassen, müssen wir noch einen Blick aus Kapitälformen des oberen Chorumganges richten. Schon in der beschriebenen Periode finden wir davon vereinzelte Beispiele, daß man an der Stelle der Arabesken Nachbildungen von Aesten und Blättern unserer vaterländischen Pflanzen anbrachte. Noch mehr aber ging man mit der Veränderung der Kapitälform selbst vor, indem man die Kelchform verließ und den halben Würfel als eine für die neue entstehende gothische Bauweise zu schwere Form beseitigte und nur die Vase beibehielt. An dieser aber zeigen sich auch ganz neue Ornamente, nämlich an jedem Kapitäle zwei Reihen Knospen, welche sich auf vortretenden Stengeln befinden.

 

 

Diese Knospenkapitäle sehen wir auf dem sogenannten Bischofsgange. Uebersehen aber dürfen wir dabei nicht, daß auch hier der Humor der alten Baumeister uns einmal entgegentritt, wo an einem Kapitäl statt der Knospen kleine Menschenköpfe gesehen werden, die mit Unbefangenheit und Naivetät den Beschauer anzublicken scheinen.

Die Form des gothischen Kapitäls war mit diesem Knospenkapitäl gefunden, es bedurfte nun bis zur Vollendung nur noch einer andern Verzierung, als der Knospen. Wohin aber hätten sich diese anders entwickeln können, als zu Blättern? Und so sind wir denn an den Punkt gelangt, wo das frühgothische Kapitäl uns seit

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etwa 1260 bis 1300 in unserm Dom entgegentritt mit seiner leichten Kelchform und den zwei übereinander stehenden Blattreihen von den verschiedensten Pflanzen (Wein, Eichen, Epheu u. s. w.) entlehnt, und hier und da auch mit Früchten (Eicheln, Trauben) ausgestattet.

Man hat behauptet, daß die alten Steinmetze allenthalben ihre Blattformen nur von denjenigen Pflanzen entlehnt hätten, welche in der Gegend des auszuführenden Baues gewachsen wären. Die Wahrheit dieser Behauptung möchte sich aber wohl nicht beweisen lassen. So viel steht wenigstens auf der andern Seite fest, daß die Steinmetze bei ihren Wanderungen aus einer Gegend in die andere, wie wir dies ja aus ihren aus dem Mittelalter uns noch erhaltenen Statuten kennen lernen, nicht allein die Formen des Maßwerks, sondern auch des Laubwerks aus einem Lande in das andere verpflanzten.

Zum Schlusse sei hier nur noch bemerkt, daß zwar an diesen gothischen Kapitälkränzen der westlichen Pfeiler des Magdeburger Doms die größte Verschiedenheit der Blattformen herrscht, daß aber die Kunst von dieser Zeit an es fast ganz vermied, Thiergestalten mit dem Blattschmuck zu vermischen. Es finden sich nur einige Male als Reminiscenzen aus früherer Zeit Menschengesichter, deren Haare durch Blätter ersetzt sind (Sonnenblumen?), zwei kleine Menschenfiguren, die gemeinschaftlich einen Stein halten (Steinmetze?) und eine Eidechse zwischen dem Laubwerk.

So hätten wir denn bei unserer kleinen Untersuchung folgende Wahrnehmungen gemacht: Ausgehend von dem Würfelkapitäl der romanischen Bauweise kamen wir im Dom zu Magdeburg zu den Kapitälen der Uebergangsperiode, den Kelchkapitälen, wo als Ornamente die Arabesken auftreten. Daraus entsteht im zweiten Jahrzehend des 13. Jahrhunderts das Vasenkapitäl mit den Knospenverzierungen, und daraus endlich entwickelt sich nach der Mitte desselben Jahrhunderts das gothische Kapitäl mit der Vase und dem Blätterschmuck.

 

 

Veröffentlicht in:

Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde des Herzogtums und Erzstifts Magdeburg 1. 1866 S. 31-35

 

Dieser Jahrgang der Zeitschrift wurde durch die Bayerische Staatsbibliothek digitalisiert. Der Artikel ist hier unter folgendem Link einsehbar:

http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10013030_00127.html

 

Hinweis: Die Aufnahmen sind nicht Bestandteil der zitierten Veröffentlichung. Sie wurden 2016 aufgenommen und in den Text eingefügt.

 

 

Adolph Goldschmidt 1902 über die französischen Vorbilder des Doms zu Magdeburg

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22 STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER SÄCHSISCHEN SKULPTUR

 

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FRANZÖSISCHE EINFLÜSSE IN DER FRÜHGOTISCHEN SKULPTUR SACHSENS

 

An den Innenwänden des Chores im Magdeburger Dom ist eine Reihe kleiner Skulpturen eingemauert, die bei den Untersuchungen der Architektur und Plastik des Domes im besten Fall mit einer flüchtigen Bemerkung abgethan wurden. Eine genauere Prüfung dieser Stücke aber ergiebt, dass sie für die Geschichte der deutschen Skulptur im XIII. Jahrhundert einen wichtigen Ausgangspunkt liefern und uns ein deutliches Beispiel dafür bieten, wie man zur Einführung der neuen Kunstformen französische Vorbilder nachahmte.

 

Die Zahl der in der Höhe zwischen dem Scheitel der unteren Arkaden des Umganges und der Bodenhöhe des oberen Bischofsganges eingemauerten Stücke gliedert sich in drei Bestandteile:

 

1. 20 kleine Gruppen von meist zwei Figuren, fast frei vor dem Grund herausgearbeitet, überdacht von einem Rundbogen, der auf Säulchen ruht, 38 cm hoch (Taf. I);

 

2. 10 Figuren der klugen und thörichten Jungfrauen, ebenfalls fast frei vor dem Grund ausgearbeitet, 75 cm hoch (Taf. II);

 

3. 5 stehende Engelsgestalten, im Relief wie die anderen, 85 cm hoch (Fig.20, 21, 32 und 41).

 

Alle diese Figuren sind aus feinem Sandstein gearbeitet und stilistisch eng miteinander verwandt. Dem gleichen Stil gehören aber auch jene sechs großen Gestalten aus gröberem Kalkstein an, welche darüber an den Chorpfeilern in der Höhe des Bischofsganges angebracht und dort mit den Dreiviertelsäulen, die als Dienste hinauf zu den Gewölben führen, verwachsen sind (Fig. 22, 23 und 27).1) Es ist leicht nachzuweisen, dass sämtliche Skulpturen nicht für den Platz bestimmt waren, den. sie jetzt einnehmen.

 

Die kleinen Gruppen stellen, wie später gezeigt werden wird, die Tugenden und Laster dar. Bei diesen würde man unter allen Umständen eine gewisse Ordnung beanspruchen können, sie sind aber ganz willkürlich durcheinandergemischt, ihre Anordnung auf den beiden Seiten des Chores ist nicht symmetrisch, und sie sind unregelmäfsig einzeln oder bis zu vieren aneinanderschließend angebracht. Ferner erkennt man, dass alle diese kleinen Bogen ursprünglich eine zusammenhängende

 

1) Abbildungen aller sechs Figuren bei Flottwell, Mittelalterliche Bau- und Kunstdenkmäler in Magdeburg, 1891, Blatt 37.

 

 

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Arkadenreihe bildeten oder bilden sollten, einen Bogenfries, in dem jedes Feld durch eine Säule von dem nächsten geschieden war. Die Gruppen sind, wie man an den Grenzfugen der Blöcke beobachten kann, so abgeschnitten, dass das überragende freischwebende Ende des Bogens eines Stückes auf die zur Hälfte noch freie Deckplatte des Kapitells eines anderen Stückes passt. Aus dem Zusammenhang genommen, besitzen nun einzelne Stücke beide Seitensäulen, während andere sie dementsprechend entbehren oder nur eine behalten. Reiht man die Reliefs wieder aneinander, gleicht sich die Zahl der Trennungssäulchen aus.

 

Scheint es bei den klugen und thörichten Jungfrauen an den fünf Polygonseiten des Chores unwahrscheinlich, dass man so kleine Figuren für eine solche Höhe geplant hat, so ist es noch ungewöhnlicher, dass man kluge und thörichte Jungfrauen sich je abwechseln ließ, während sie im allgemeinen in zwei gegenüberstehende Gruppen gesondert sind. Auch ist das Bogenstück, welches jede Jungfrau bedacht, nicht ursprünglich dazugehörig, sondern der Block, aus dem die Figur mit der Nische gemeißelt ist, geht nur bis zur oberen Grenze des Kopfes, soweit auch die gerade Seitenkante reicht; der Bogenstein aber zeigt eine andere, rohere Bearbeitung und eine ungenaue Anpassung der Bogenwandung an die Seitenwandungen der Nische, ist also erst bei der Einmauerung hinzugearbeitet.

 

Am auffälligsten ist die unzweckmäßige Verwendung der Engel. Von diesen sind an der nördlichen Seite des Chores zwei, an der südlichen drei angebracht, und zwar ist bei einigen, bei denen der Kopf an das Gesims stieß, ein Stück aus dem letzteren herausgeschlagen. Die Grundfläche ihres Reliefs ist nicht flach wie bei den anderen, sondern bildet eine Kehle. Die Achse ihres Körpers ist ein wenig geneigt, und die Richtung der Bodenfläche steht zu ihr im schiefen Winkel. Endlich sind bei zweien unter der Fußplatte noch die Reste einer baldachinartigen Bekrönung vorhanden (Fig. 20). Dies zeigt klar, dass wir es mit Figuren einer Archivolte zu thun haben.

 

Dass es sich endlich auch bei der jetzigen Stelle der sechs großen Figuren nicht um einen ursprünglichen Plan handelt, wird durch mehrere Umstände bewiesen. Erstens begegnet uns eine derartige Aufstellung von Statuen an den Pfeilern der Kirche hier zum erstenmal; die ähnlich angebrachten Figuren in den Domen zu Naumburg, Meißen, Münster sind jüngeren Datums und vielleicht gerade nach dem Vorbild der Magdeburger erst geschaffen. Gleichzeitige oder frühere sind mir auch in Frankreich nicht bekannt, während es dort an ebenso konstruierten, mit Säulen verbundenen Statuen an Portalen nicht fehlt. Ferner sind die konsolartig kauernden Könige, auf denen die Füße der Statuen stehen, offenbar nicht berechnet, auf einer weit vorragenden Platte zu ruhen, wie das jetzt geschieht, sondern sie sollten die Vermittelung zu einem weiter zurücktretenden Glied bilden, wie das sonst bei ähnlichen Formen der Fall ist. Überhaupt gehören die Dienste in den Chorecken, welche die Figuren in sich schließen, gar nicht dem ursprünglichen Bauplan an, sie sind ganz außer Verband mit den Mauern und sind von dem späteren Baumeister nur vorgeklebt.

 

Nach diesen Beobachtungen und mit Rücksicht auf die Einheitlichkeit im Stil und die deutliche Zusammengehörigkeit getrennter Teile bleibt es nicht mehr zweifelhaft, dass die sämtlichen Skulpturen Teile eines Portales bildeten. Engel in der Archivolte, Figuren der klugen und thörichten Jungfrauen, Darstellungen der Tugenden und Laster, große HeiligenFiguren an Säulen bilden einen so speciell an Portalen des XIII. Jahrhunderts gebräuchlichen Schmuck, dass man sich keinen anderen Zweck mit einiger Wahrscheinlichkeit ausdenken könnte. Es handelt sich offenbar um RundFiguren und Reliefs, die, ursprünglich für ein Portal bestimmt, nach der Verwerfung

 

 

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desselben bei dem Aufbau des Chores an möglichst passender Stelle zum Schmuck mit eingebaut wurden. Dass es nicht die Reste eines schon vollendeten, später abgerissenen Portals sind, geht daraus hervor, dass die einzelnen Stücke bei ihrer intakten Erhaltung und Frische dem Wetter nicht ausgesetzt gewesen sein können, und dass viele Glieder, die noch zu einem fertigen Portal gehört hätten, vollständig fehlen.

 

Die sechs großen SeitenFiguren des Portals stellen die vier Schutzheiligen des Domes dar, nämlich die gekrönten Ritter St. Mauritius mit Schwert und Schild und St. Innocentius, seinen Fahnenträger, mit Lanze und Schwert (Fig. 22), Petrus mit dem Schlüssel (Fig. 23) und Paulus mit dem Schwert, ferner Johannes den Täufer, der mit

 

 

 

Fig. 20 Fig. 21

Engel im Dom zu Magdeburg Engel im Dom zu Magdeburg

 

beiden Händen eine runde Scheibe mit der Darstellung des Kreuzeslammes und der Umschrift „Johes Babtista Ecce Agnus Dei“ hält, und einen dritten langbärtigen Apostel, in dessen Linker nur noch der stabförmige untere Teil seines Attributs vorhanden ist. Die Überlieferung nennt ihn St. Andreas (Fig. 27). Alle stellen die Füße auf die Schultern eines kauernden Königs, nur die StützFigur des Andreas trägt keine Krone. Der Rücken der stehenden Figuren ist in Zusammenhang mit einem Säulenschaft, der bis zur Scheitelhöhe geht und an dem frei hinter dem Kopf ein tellerförmiger Nimbus klebt; auf diesem Nimbus setzt das Kapitell an mit einem Baldachin darüber. Die Figuren sind verschieden gut gearbeitet. Am engsten zusammen gehören die drei Apostel; ihre Bewegung ist noch befangen, die Arme und Hände liegen dicht am Körper, das Gewand ist einfach drapiert, und die Falten

 

 

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bewegen sich in engen parallelen Linien, wobei die gerade herabfallenden Faltenzüge scharfe Kanten haben und an den freihängenden Säumen eckige, etwas schematische Grenzlinien bilden. Haare und Bart sind strähnenartig mit parallel eingemeißelten Linien behandet.

 

Dass die beiden Ritter derber und roher scheinen, ist zwar zum Teil auf die Rüstung zu schieben; dennoch muss man diese Figuren einem Gehilfen zuschreiben, bei dem auch der Faltenwurf des Waffenrockes eine gewisse Zusammengehörigkeit mit den Aposteln verrät. Dasselbe betrifft Johannes den Täufer, der von den Aposteln dadurch abweicht, dass er neben gleichen Faltenmotiven und einer gleichen Haarbehandlung noch eine Neigung zu unruhigen Linien und zu rundlich vertieften Faltenthälern zeigt. Die Ohren sind viel roher gearbeitet, an den Händen und Füßen stark die Adern hervorgehoben.

 

Von den kleineren Figuren sind vor allem die Engel vollständig im Gewandstil übereinstimmend mit den Aposteln, doch schließen sich ihnen auch die Jungfrauen und die kleinen Gruppen eng an; nur ist hier der Eindruck mehrfach verändert durch die langen weiblichen Gewänder. Denn sobald diese die Erde berühren, verlieren die Falten ihre Straffheit, und eine Masse runder, schnörkelhafter Bildungen macht den Abschluss. Die kleinen Gruppen der Tugenden und Laster sind etwas freier in der Bewegung als die großen Einzelstatuen.

 

Um nun nach den Figuren die Stellung, welche das geplante Portal in der Baugeschichte des Domes einnimmt, zu bestimmen, müssen sie auf irgend eine Weise mit den Bauteilen in Verbindung gebracht werden. Dass sie noch aus dem alten ottonischen Bau stammen, wie die Verfasser der Flottwellschen Publikation und noch Hasak in seiner Arbeit über den Magdeburger Dom annehmen, 1) ist gänzlich ausgeschlossen; auch waren schon lange vorher Kugler, Lotz u. a. zu der Erkenntnis gekommen, dass sie dem XIII. Jahrhundert angehören müssen 2) Schon die Säulenfigur als solche mit ihren Konsolen ist nicht früher denkbar, ferner ist

 

Fig. 22 St. Innocentius im Dom zu Magdeburg

 

1) Flottwell, a. a. O. S. V. — Hasak, Zur Geschichte des Magdeburger Dombaues S. 18. Berlin 1896. — Derselbe, Geschichte der Deutschen Bildhauerkunst S. 33. 1899.

 

2) Kugler, Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte I, S. 123. 1853. — Lotz, Kunst-Topographie Deutschlands I, S. 417. 1862.

 

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26 STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER SÄCHSISCHEN SKULPTUR

 

uns eine monumentale Skulptur in derartig plastischer Ausbildung der Gewandung und der Köpfe nicht vor dem XIII. Jahrhundert bekannt, endlich sind die Bewegungsmotive in den kleinen Gruppen, das Fassen des Mantelbandes, das Überschlagen eines Beines erst mit dem XIII. Jahrhundert aufgekommen, und die Rüstung der beiden Ritter ist vollständig die derselben Zeit, wie wir sie aus den Miniaturen kennen.

 

Für den Verlauf des Baues im XIII. Jahrhundert nun bilden den besten Führer die verschiedenen Kapitelle, die auch Hasak in seiner Analyse des Dombaues ausführlich bespricht. Zu unterscheiden sind zunächst die Kapitelle des romanischen Baumeisters, welcher den Plan des Domes 1208 schuf und den Bau fast des ganzen Untergeschosses mit Ausnahme der südwestlichen Teile der Kirche ausführte, und die frühgotischen Knollen- oder Hörnerkapitelle, mit denen der gotische, nach Hasak aus Maulbronn stammende Baumeister seine Teile, den Bischofsgang und die oberen Chorwände, ausstattete.

 

Zwischen diese beiden Gruppen fällt eine Reihe von etwas ungeschickteren frühgotischen Kapitellen mit ängstlichen Knollenbildungen und gelappten Blattformen, die sich fest an den Kern des Kapitells anlegen. Diese Kapitelle gehören einem Baumeister an, der, wie Hasak nachgewiesen hat, vor dem Einsetzen des geübten Gotikers schon anfängt, den romanischen Bauplan zu gotisieren, indem er den romanischen Kapellenkranz im Chor außen gotisch umkleidet.

 

Zu dieser letzten Gruppe nun gehören auch die Kapitelle der Säulchen zwischen den kleinen figürlichen Reliefs; wir müssen also das begonnene Portal diesem ersten, etwas ungeschickten Gotiker zuschreiben. Damit stimmen auch die übrigen Thatsachen überein. Hasak zeigt, dass dieser Meister nur ganz kurze Zeit thätig war und dann von dem besseren abgelöst wurde. Das erklärt, weshalb sein Portal Fragment blieb. Ferner sind die Skulpturen gerade an der Stelle des Baues eingesetzt, wo der zweite Gotiker beginnt. Das erkennt man aus den Knollenkapitellen und den Profilen dicht unter dem Abschluss der unteren Chorwand, beim Beginn des Bischofsganges. Dem neuen Baumeister passten also die begonnenen Portalfiguren seines Vorgängers nicht mehr in seinen Plan, oder sie waren ihm nicht gut oder schon nicht mehr modern genug — die Entwickelung

 

Fig 23

St. Petrus im Dom zu Magdeburg

 

schritt damals sehr schnell vorwärts —, und er brachte nun die bereits ausgeführten Stücke, so gut es eben ging, bei seinem Weiterbau unter; war es doch Bestimmung bei den Steinmetzen, wenigstens lesen wir das in den späteren Ordnungen, dass einmal fertige Stücke auch bei dem Eintritt eines neuen Baumeisters mit versetzt werden mussten.

 

Während wir dem Wechsel der Meister und Pläne, wie sie Hasak vorführt, gefolgt sind, können wir seine Zeitangaben nicht so unbedingt annehmen. Nachdem der alte Dom 1207 teils abgebrannt, teils niedergerissen war, wurde 1208, nach anderer Angabe erst im Januar 1209, der Grundstein zum neuen gelegt. Nun soll nach Hasak

 

 

 

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schon 1210 der zweite Baumeister, also der Schöpfer des Portals, ihn abgelöst und die Chorkapellen gotisiert und fertiggebaut haben. Es müssten demnach in der kurzen Zeit von höchstens zwei Jahren von dem romanischen Baumeister der untere Teil fast des ganzen Domes, einschließlich der zahlreichen Kapitelle, vollendet und noch viele Stücke fertiggestellt sein, die beim Bischofsgang mit verwandt wurden. Das ist wenig wahrscheinlich. Hasaks Beweis dafür besteht nur darin, dass 1211 und 1212 schon eine Kapelle des Domes erwähnt wird, und er versteht darunter eine der durch den zweiten Baumeister zu Ende geführten Chorkapellen. Eine solche wird aber kaum gemeint sein, sie wäre doch auch für eine kirchliche Handlung zu klein gewesen; es mag vielmehr noch während des Baues ein Stück des alten Domes als Kapelle stehen geblieben sein, die einstweilen zur Aushilfe diente, vermutlich in der Südwestecke, wo der Neubau erst in späterer Zeit in Angriff genommen wurde, als der Chor schon vollendet war, und wo nach Hasak die Kirche St. Nikolai gestanden haben soll.

 

Ist es also nicht erwiesen, dass der erste gotische Baumeister schon 1210 thätig war, so ist diese Zeit auch nicht für die Portalfiguren gegeben; die umfangreiche Thätigkeit des romanischen Baumeisters spricht vielmehr dafür, das Einsetzen des Gotikers etwas weiter herabzusetzen.

 

Dieser bringt nun auch im figürlichen einen neuen Stil. An den spätromanischen Kapitellen unten im Chor befinden sich mehrere figürliche Darstellungen. Dieselben zeigen eine große Verschiedenheit von den Portalskulpturen. Abgesehen davon, dass sie in flacherem Relief gehalten sind, findet sich bei ihnen nichts von der straffen, scharfkantigen, parallelen Faltenanordnung, sondern eine unorganische Belebung der Gewandung durch zahlreiche Überschneidungen und rundliche

 

Fig. 24 Kapitell im Chor des Magdeburger Domes

 

Fig. 25 Miniatur der Hamburger Stadtbibliothek

 

Vertiefungen, die ein unruhiges Gefältel darstellen. Es ist das eine zeichnerische und keine plastische Art der Behandlung, wie wir sie in zahlreichen Miniaturen um 1200 finden. Man vergleiche z. B. den Engel der Verkündigung von einem Kapitell (Fig. 24)

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mit einer sächsischen Miniatur vom Anfang des XIII. Jahrhunderts in der Hamburger Stadtbibliothek (Fig. 25). 1)

 

Dieser Manier gegenüber bilden die im Chor eingemauerten Figuren etwas Neues; sie repräsentieren eine wirklich statuarische Plastik, und das Zusammentreffen des neuen Bildhauers mit dem älteren kann man an der Figur des Täufers beobachten, die schon oben als verschieden von den Apostelfiguren hingestellt wurde. An ihr sieht man, wie ein Bildhauer seine Statue im Stil der Apostelfiguren gestalten will, aber noch befangen ist in der Faltenmanier der romanischen Kapitelle.

 

Woher bringt nun der Meister des Portals seinen neuen Stil? Die Antwort liefern uns die Figuren selbst: aus Paris und Chartres. Zunächst beweisen dies die 20 kleinen Reliefs. Dieselben teilen sich in zwölf Darstellungen von ruhig nebeneinander sitzenden Figuren und in acht bewegtere Scenen. Diese acht Vorgänge erklären sich leicht, sobald man ihre Zugehörigkeit zu einem Cyklus von zwölf Lastern erkennt, der sonst nur in der Isle de France vorkommt. Es ist ein so besonderer Cyklus, dass er unmöglich unabhängig erfunden sein kann, und er findet sich nur an dem mittleren Westportal von Notre-Dame in Paris an dem Sockel der Seitenwandungen und noch einmal in den Glasfenstern der großen Rose darüber, 2) in Chartres an den Pfeilern des Südportals der Kathedrale 3) und an dem von Paris ganz abhängigen Portalschmuck des Domes von Amiens 4) an gleicher Stelle wie in Paris. Darstellung und Reihenfolge sind in allen Beispielen fast vollständig übereinstimmend, und zwar wie folgt:

 

Fig. 26 Superbia Chartres, Südportal des Domes

 

 

 

Tafel I: Reliefs der Tugenden und Laster an den Chorwänden des Magdeburger Domes

 

1. Superbia. — Jüngling mit dem Pferd stürzend;

2. Stultitia. — Halbnackte Figur mit Keule, auf einen Gegenstand (Stein oder Eichel?) beißend;

3. Luxuria. — Ein vornehmer Jüngling und eine mit Reif oder Krone geschmückte Frau umarmen sich;

4. Avaritia. — Frau legt Geld in eine Kiste;

5. Desperatio. — Frau oder Mann ersticht sich mit dem Schwert;

6. Idolatria. — Frau oder Mann kniet vor einem Götzenbild;

 

 

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1) In Scrinio 85. Vergl. A. Haseloff, Eine Thüringisch—Sächsische Malerschule des XIII. Jahrhunderts. Straßburg 1897. S. 17. Dort auch andere verwandte Miniaturen abgebildet.

2) Einzelne Abbildungen bei Lassus et Viollet-le-Duc, Monographie de la Cathédrale de Chartres Pl. 22.

3) Ebendort und bei Marcou, Sculptures Comparées du Trocadero, II Pl. 24.

4) De Caumont, Bulletin Monumental, Sér. II, Tome I, 1845, p. 431.

 

 

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7. Ignavia. — Mann entflieht vor einem Hasen, der neben einem Busch hervorkommt, und lässt sein Schwert fallen;

8. Ira. — Eine Frau zückt ein Schwert gegen einen Greis oder Mönch mit Buch;

9. Malignitas. — Frau schlägt mit der Hand und stößt mit dem Fuß nach einem Diener, der ihr einen Becher reicht;

10. Discordia. — Mann und Frau raufen sich und lassen dabei Krug und Spinnrocken fallen;

11. Contumacia. — Mann steht unehrerbietig vor einem Bischof;

12. Inconstantia. — Mönch verlässt ein Gebäude (sein Kloster) und lässt seine Schuhe vor demselben zurück.

 

Mit diesen Darstellungen stimmen die Magdeburger vollständig überein; die geringen Veränderungen gegenüber dem französischen Cyklus sind unwesentlich; so hat in 8 der bedrohte Mann kein Buch, in 10 sind die beiden Raufenden Männer. Ferner sitzen die Personen oft, wo sie im französischen Cyklus stehen — offenbar mit Rücksicht auf die niedrige Arkadenform —, und schließlich sind die meisten Kompositionen im Gegensinn. Ganz fehlen in Magdeburg 2, 3, 4 und 5, die entweder noch nicht fertig waren oder verloren gegangen sind.

 

Der Cyklus in Amiens kommt als Vorbild nicht in Betracht, da er einem späteren Stil angehört als die Magdeburger Gruppe. Es ist ferner unwahrscheinlich, dass die Zeichnung des hochgelegenen Pariser Glasfensters zum Modell für die Skulpturen diente. Es bleiben also nur die Portalreliefs von Chartres und Paris übrig, von denen die Pariser die größere Wahrscheinlichkeit für sich haben, weil sie sich in Arkadenreihen befanden wie die Magdeburger, während die in Chartres an Pfeilern übereinander angebracht sind. 1)

 

Über den zwölf Lastern sind in dem französischen Cyklus zwölf Tugenden angebracht, sitzende weibliche Gestalten mit einem Schild, das ihr Emblem zeigt:

 

1. Humilitas. — Taube;

2. Prudentia. -— Schlangenstab oder Nagel (?);

3. Castitas. — Phönix;

4. Caritas. — Widder (sie giebt einem Armen einen Mantel);

5. Spes. — Kreuzesfahne;

6. Fides. — Kelch mit Kreuz darüber;

7. Fortitudo. — Löwe (sie trägt eine Rüstung);

8. Patientia. — Rind;

9. Dulcedo. — Lamm;

10. Concordia. — Dreiteiliger Busch (Ölzweig);

11. Obedientia. — Kamel;

 

12. Perseverantia. — Krone.

 

Diesen entsprechen in Magdeburg ebenfalls zwölf Arkaden mit sitzenden Personen, doch war dem deutschen Bildhauer die Symbolik der Schilde vermutlich nicht verständlich; er begnügte sich daher, einfach behaglich sitzende Figuren darzustellen, musste aber, um einen den Lastern entsprechenden Raum gut zu füllen, in jede

 

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1) Die Pariser Reliefs haben durch ihre niedrige Stellung sehr gelitten, und mehrere Figuren sind nicht mehr scharf zu erkennen; zur Ergänzung kann man die gut erhaltenen gleichen Darstellungen in Chartres und Amiens heranziehen. Zur Vergleichung mit Magdeburg ist hier die Superbia von Chartres abgebildet (Fig. 26).

 

 

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Arkade zwei Personen setzen. Sie sind nicht näher charakterisiert, sie legen die Hände auf das Knie oder in das Mantelband, schlagen zuweilen das Bein über oder stützen den Kopf. Neben einem Mädchen sitzt einmal ein Guitarrespieler, einmal ein Jüngling mit einer Blume, sechsmal sind zwei Männer, einmal zwei Frauen nebeneinandergesetzt,

 

 

 

Fig. 27 St. Andreas im Dom zu Magdeburg    Fig. 28 Chartres. Statuen am Südportal des Domes

 

dreimal ist nur eine einzelne Figur dargestellt, und zwar eine gekrönte Frau, ein Jüngling und eine Frau, die ihre Rechte an das Kapitell legt.

 

Der Magdeburger Bildhauer hat aber außer Paris auch Chartres gesehen. Bei den zu zweien sitzenden Tugendfiguren mögen ihm die ebenso angeordneten 28 Prophetenfiguren in Erinnerung gewesen sein, die sich unter dem Bogen befinden, der

 

 

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in Chartres die beiden Pfeiler mit den Tugend- und Lasterfiguren verbindet. Unverkennbar aber ist die Verwandtschaft der großen Apostel an den Thürwandungen desselben Portals in Chartres mit den Magdeburger. Es ist keine Figur kopiert, etwa wie die Bamberger Heimsuchung nach der Rheimser, 1) aber der Stil ist genau übereinstimmend, die Behandlung der Gewänder in strengen, oft scharfkantigen parallelen Falten, die Stellung und die noch befangenen Bewegungsmotive sind dieselben. Man vergleiche zum Beispiel den hl. Andreas (Fig. 27) mit Aposteln der linken Thürleibung in Chartres (Fig. 28). Auch die architektonische Eingliederung entspricht in Magdeburg vollständig der in Chartres. Hier stehen die Statuen auf kauernden Gestalten, und die Fußplatten sind so dünn, dass sie unmittelbar auf jene die Füße zu setzen scheinen, wie das in Magdeburg geschieht. Sie sind ebenso mit einem Säulenstamm verbunden, an dem dicht unter dem Kapitell der vom Kopfe losgetrennte Nimbus haftet. Und wie in Chartres, ist auch in Magdeburg beim Andreas der Baldachin aus Architektur von Giebeln und Türmen gebildet und das Kapitell aus der gleichen Kelchform mit den aufgerichteten anliegenden Blattreihen. Die Kapitelle und Baldachine der anderen fünf Magdeburger Statuen weichen ab, aber die des Andreas sind auch die einzigen, die dem Meister des Portals angehören; nur sie sind aus dem gröberen Kalkstein gearbeitet, aus dem auch die Figuren hergestellt sind, während man die übrigen aus dem feineren Sandstein später beim Einbau hinzufügte, und auch nur beim Andreas sind Kapitell und Baldachin aus einem einzigen Block gearbeitet, während sie bei den anderen zusammengesetzt sind. 2) Weiter ist darauf hinzuweisen, dass sich in den Archivolten der Thür in Chartres Engel befinden wie in Magdeburg, dass am äußersten Bogen der Vorhalle über den Pfeilern der Tugenden und Laster auch die klugen und thörichten Jungfrauen angebracht sind und dass eine der Magdeburger (Taf. II, die zweite der unteren Reihe) in Kostüm und Stellung einer Frauengestalt an den Pfeilern des ungefähr gleichzeitigen Nordportals in Chartres auffällig ähnelt (Fig. 29).

 

Sind also eine Reihe von Beziehungen zu Chartres vorhanden, hauptsächlich in stilistischer Hinsicht, so hat doch das Pariser Portal (Fig. 30) in erster Linie das Vorbild des Magdeburger gebildet; denn nur dort sieht man die Sockelarkaden mit den Tugenden und Lastern, und nur dort finden sich die den Magdeburger entsprechenden zehn Nischen mit den klugen und thörichten Jungfrauen auf flachem Hintergrund, die übereinander die Seitenpfosten der Thür bildeten. Diese Figuren sind bei dem heutigen Portal allerdings durch moderne ersetzt, so dass wir sie im

 

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1) Dehio im Jahrbuch d. K. Preuß. Kunstsamml. Bd. IX, S.194. — Arthur Weese, Die Bamberger Domskulpturen. Straßburg1897.

 

2) Die Knospenkapitelle der anderen verraten den zweiten Gotiker. Bei den vier großen mittleren Baldachinen sieht man sofort, dass sie erst für die neue Bestimmung der Figuren hergestellt sind. Der Steinmetz hat bei ihnen in trockener Weise romanische Formen nachgeahmt, ebenso wie er beim Baldachin des Innocentius antikes Akanthusblatt nachbildete. Es war derselbe, der auch die antikisierenden Akanthuskapitelle gearbeitet hat, welche die meisten der gleichzeitig eingebauten, noch aus dem alten ottonischen Dom stammenden Granitsäulen bekrönten. Wahrscheinlich hatten einige dieser Säulen noch ihre alten aus Italien stammenden Kapitelle. Dieselben waren aber wohl nicht mehr in gutem Zustand. Man erneuerte sie jetzt, bildete sie, wo sie fehlten, nach und setzte aus den gleichen Blattformen dann auch die Umrahmung der östlichen Nische im Bischofsgang und das Gesims außen am Chor zusammen. Diese Stücke stammen demnach nicht, wie Hasak a. a. O. S. 18 annimmt, noch aus dem alten Dom.

 

 

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einzelnen nicht mehr vergleichen können; auch die großen Apostelfiguren an den Seiten sind während der Revolution zerstört worden und erneuert. Da das Portal ungefähr gleichzeitig mit dem von Chartres ist, so haben sie vielleicht denen von Chartres geglichen und den Magdeburger direkt mehr als Vorbild gedient, als wir das jetzt beurteilen können.

 

Jedenfalls kann man nach dem Pariser Vorbild eine Rekonstruktion des geplanten Magdeburger Portals versuchen, die im wesentlichen zutreffend sein wird (Fig. 31). Wenigstens ist zum unteren Teil alles figürliche vorhanden, dagegen fehlen bis auf die fünf Engel die Figuren der Archivolten und noch vollständig das Bogenfeld, welches wegen seiner kleinen Dimensionen wohl kaum wie dasjenige in Paris und Chartres das Jüngste Gericht darstellen konnte, oder jedenfalls nur in sehr verkürzter Form.

 

Von den großen Figuren standen wie immer die Apostelfürsten zunächst der Thüröffnung, wahrscheinlich wie in Paris und Chartres Petrus vom Eintretenden links, Paulus rechts; dann folgten dem Range nach Andreas und Johannes der Täufer und als äußerste Figuren, Wächtern gleich, die gewappneten Gestalten des Mauritius und des Innocentius.

 

Auch die Reihung der Laster lässt sich zum Teil bestimmen. In zwei Fällen sind zwei Arkadenbogen aus einem Block gearbeitet, in dem einen folgt die Ira der Malignitas wie in Paris, Chartres und Amiens. Davor steht im französischen Cyklus die Ignavia, mit der in Paris und Amiens eine Portalwandung, in Chartres eine Pfeilerreihe beginnt. Da nun auch in Magdeburg die Ignavia als Anfang dadurch gekennzeichnet ist, dass der Bogen auf der ganzen Deckplatte des Kapitells aufliegt, während dort, wo sich eine Arkade anschloss, nur die Hälfte bedeckt ist, und da ferner das rechts überstehende Bogenstück auf die halbe Kapitellplatte der Malignitas passt, so können wir annehmen, dass die Reihenfolge auf der rechten Wandung zunächst dieselbe war wie in Paris. Die Anreihung der in Frankreich auf die Ira folgenden Discordia würde auch in Magdeburg in Bezug auf Verbindung von Säule und Bogen am Nordportal passen. Ebenso die nun folgende Contumacia, die aber in Magdeburg mit der Idolatria durch einen gemeinsamen Block verbunden ist, während diese in Paris sich auf der anderen Seite der Wandung befindet. Dafür folgt in Paris die Inconstantia, die sich in Magdeburg ebenso wie die Ignavia als Anfangsglied kennzeichnet, also den Beginn der linken Wandung gebildet haben muss. Die Stellung der Superbia ist unbestimmt. Es fehlen zur Vollständigkeit an der linken Wandung die Avaritia, Desperatio, Luxuria und Stultitia.

 

 

 

Fig. 29 Chartres: Statue am Nordportal des Domes

 

Die zwölf Tugenden dagegen sind vollzählig, aber ihre Reihenfolge lässt sich nicht feststellen. Zu bemerken ist nur, dass die beiden Paare mit dem musizierenden Jüngling aus einem gemeinsamen Block gemeißelt sind und ebenso die gekrönte Frau mit der, die ihre Hand zum Kapitell erhebt. Außerdem ist ein Stück als Anfangsglied und ein anderes als Endglied dadurch gekennzeichnet, dass die Säule links bezw. rechts verdoppelt und von dem Bogenstück ganz überdeckt ist. Da die Tugenddarstellungen im Durchschnitt breiter geraten sind als die Laster, so beschränkte sich der Bildhauer bei dreien auf eine einzelne sitzende Figur, um die

 

 

 

Tafel II. Die klugen und thörichten Jungfrauen an den Chorwänden des Magdeburger Domes

 

 

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33 VON ADOLPH GOLDSCHMIDT

 

Länge der Reihe mit jener der darunter anzubringenden Laster wieder auszugleichen. Die Zusammenfügung nach Maßgabe der überstehenden Bogen und der freien Kapitelle erlaubt verschiedene Variationen.

 

Da die ganze Reihe der Tugenden vorhanden ist, so ergiebt sich aus der Halbierung der Länge der Gesamtreihe die Breite der Portalwandungen. Mit dieser stimmt die Breite, welche drei der großen Säulenfiguren nebeneinander einnehmen, überein. Die Höhe der Portalseiten lässt sich annähernd durch die Höhe der großen Figuren und ihrer Baldachine und die Höhe der Tugend- und Lasterarkaden mit Zusatz eines Sockels bestimmen, ebenso aber auch durch die Jungfrauen, welche zu fünf übereinander die seitlichen Thürpfosten bilden. Beide Additionen ergeben das gleiche Resultat. Es fehlt uns nur die Breite der Thüröffnung und damit auch die Größe der Archivolten. Doch auch diese lässt sich annähernd rekonstruieren durch den Umstand, dass sich unter den erhaltenen Engeln einer befindet, der ein Schriftband mit der Inschrift „Gabriel“ in der Hand hält (Fig. 32). In der Engelglorie, welche auf die Archivolten verteilt war, befanden sich also auch die Erzengel, und da diese schwerlich mit den übrigen Engeln vermischt waren, so ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen, dass die vier Erzengel eine Archivolte füllten, wie das auch an der Freiberger Goldenen Pforte der Fall ist. Da aber vier dieser Engel die geringste mögliche Zahl für eine Archivolte ausmachen, so müssen sie die innerste gebildet haben. Die Größe der Engel giebt uns also auch hierfür annähernde Maße. Die Stellung der übrigen erhaltenen Engel ist durch ihre Neigung zum Teil gegeben. 1)

 

Nimmt man den Winkel der Portalwandungen an, wie er an Notre-Dame in Paris sich findet, so ergiebt das Gesamtmaß des Portals eine Breite von ungefähr 6 m. Es ist dies die Größe der Querschiffportale in Magdeburg, von denen das südliche noch zur Zeit des romanischen Baumeisters vollendet wurde, während das nördliche in seiner jetzigen Gestalt einer bedeutend jüngeren Zeit angehört. Für diesen nördlichen Querschiffflügel war also unser Portal offenbar bestimmt, der Bau war ja auch in seinen unteren Teilen unter dem romanischen Baumeister so weit vorgeschritten, dass die Errichtung dieses Portals unmittelbar bevorstand, während bis zur Anbringung des Hauptportals an der Westfassade der Bau damals noch lange nicht weit genug gediehen war, ganz abgesehen davon, dass dort größere Maße wünschenswert gewesen wären.

 

Wenn in der Rekonstruktion die Thüröffnung durch ihre geringe Breite im Verhältnis zur Höhe auffällt, so ist auf die Thüren am südlichen Querschiff des Straßburger Münsters hinzuweisen, die in ihrem Aufbau mit den Apostelfiguren, wie er sich vor der Zerstörung in der Revolution zeigte, 2) von deutschen Portalen dem Magdeburger durchaus am nächsten stehen. Auch sie haben diese schmalen Verhältnisse, die durch einen tief herabreichenden Thürsturz einigermaßen korrigiert werden. Das Straßburger Portal geht offenbar auf die gleichen Quellen zurück wie das Magdeburger.

 

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1) In der Rekonstruktion sind die nicht vorhandenen Figuren nur in äußeren Umrissen angegeben oder die entsprechenden Felder frei gelassen. Die Säulenbasen und Gesimse sind in Nachahmung des Pariser Portals gestaltet, teilweise etwas vereinfacht. Auch die Säulen zwischen den sechs großen Figuren sind in Anlehnung an das Pariser Portal hinzugefügt, obgleich nicht feststeht, dass sie auch bei dem Magdeburger geplant waren.

 

2) Vergl. den Stich in Schads Münsterbüchlein von 1617, abgebildet bei Georg Mitscher, Zur Baugeschichte des Straßburger Münsters. 1876. — Vergl. ferner Meyer-Altona, Die Skulpturen des Straßburger Münsters. Straßburg 1894. S. 10.

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Fig. 30 Paris, Notre-Dame Westliches Hauptportal

 

Das Magdeburger Portal steht nun allerdings in künstlerischer Beziehung unter seinem französischen Vorbild. Die Figuren sind ungeschickter und unrichtiger in den Körperverhältnissen, viel ärmlicher in der Zahl der Bewegungsmotive, durch das Festhalten

 

 

 

 

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Fig. 31 Rekonstruktion des geplanten Nordportals am Magdeburger Dom

 

 

an den altgewohnten Faltenschnörkeln ungleichmäßiger in der Gewandbehandlung und endlich in dem Verhältnis der Maße der einzelnen Figuren zu einander

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36 STUDIEN ZUR GESCHICHTE DER SÄCHSISCHEN SKULPTUR

 

und zu der Architektur nicht so wohl erwogen. Es war ja aber auch der erste Versuch, mit dem schon der Nachfolger nicht mehr zufrieden war.

 

Die alte Bemalung, deren Reste die großen Säulenfiguren noch zeigen, stammt wohl erst aus der Zeit nach ihrer Einfügung in den Chorbau; denn bei den anderen kleineren Portalteilen finden sich keinerlei Farbspuren. Für Farbigkeit bestimmt waren sie aber gewiss alle. Beim hl. Innocentius, dessen Bemalung noch am kräftigsten erhalten ist, ist das Gesicht fleischfarben, mit roten Backen und mit schwarzer Iris und Augenbrauen, der Rock blau mit rotem Gürtel, der Kettenpanzer am Kopf schwärzlich, der Schild mit goldgelben Ornamenten auf blauem Grund, Krone und Kette ebenfalls gelb, wohl ursprünglich vergoldet.

 

Es bleibt nun noch übrig, aus den Vorbildern eine Zeitgrenze für das Magdeburger Portal festzustellen. Ganz feste Daten sind weder in Paris noch in Chartres vorhanden, doch wissen wir von Paris, dass der Bau der Fassade 1208 schon in Angriff genommen war, 1) und man musste natürlich mit den Portalen beginnen.

 

In Chartres wurde das südliche Seitenportal, welches wir in erster Linie als vorbildlich für den Magdeburger Meister ansahen, 1212, das Nordportal 1215 begonnen. 2) Die Zeit 1210—1212, in welche Hasak den zweiten Magdeburger Baumeister setzt, mit dem wir unseren Bildhauer identifiziert haben, wäre also vielleicht noch möglich, wenn er seine Studien auf Paris beschränkt hat, denn dort konnte er zwischen 1208 und 1210 den Bau des Mittelportals schon mit angesehen haben. Hat er dagegen auch die Portale von Chartres studiert, wie wir das für wahrscheinlich halten, so kann er erst gegen Ende des zweiten Jahrzehntes nach Magdeburg zurückgekehrt sein. Es würde dieser Zeitpunkt auch dem romanischen Baumeister in Magdeburg mehr Spielraum lassen.

 

 

 

Fig. 32 Engel Gabriel im Dom zu Magdeburg

 

Vermutlich hatte der Erzbischof Albrecht, dem Paris gut bekannt war, bei dem Bau seines Domes einen Steinmetzen nach der französischen Hauptstadt gesandt, um sich dort den Schmuck der neuen großen Kathedrale anzusehen. Der Ruhm des nahen Domes von Chartres zog den Bildhauer auch nach dieser Stadt, und nachdem er an beiden Orten gearbeitet und gelernt hatte, kehrte er in die Heimat zurück.

 

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1) V. Mortet, Étude historique et archéologique sur la Cathédrale etc. de Paris du VIe au XIIe siècle. 1888. p. 46 Anm.: Acte von 1208: „in recompensationem quarundam domorum et edificiorum Domus pauperum ante portas ecclesiae nostrae site pro necessitatibus et utilitatibus fabrice ecclesie dirutorum“.

 

2) Abbé Bulteau, Monographie de la Cathédrale de Chartres. IIme éd. 1887. Bd. II, p. 160 und 284.

 

 

 

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Hier war der romanische Baumeister noch thätig, und es ist vielleicht gar nicht notwendig, anzunehmen, dass er diesen vollständig ablöste, sondern er kam vielleicht als Bildhauer nur zur Mitarbeit. Es mag unter den Augen des alten Baumeisters geschehen sein, dass der neue Steinmetz es durchsetzte, die Chorkapellen eckig zu umkleiden, wie er es in Frankreich gesehen hatte. Es wäre dann nicht wunderlich, dass man in diesem ersten Gotiker einen ungeschickten Architekten findet, denn er war eben in erster Linie Bildhauer, und wir hätten in diesem Falle eins der kürzlich hervorgehobenen Beispiele, bei denen der Bildhauer auch fremde Bauformen übermittelte. 1) An einigen Kapitellen, die noch unter die Bauteile des romanischen Meisters fallen, scheinen auch schon Einflüsse der Formen des aus Frankreich zurückgekehrten Bildhauers bemerkbar. Das spräche für eine gemeinsame Thätigkeit. Dieser Umstand ist bei der Zeitbestimmung nicht außer acht zu lassen, denn er kann das Einsetzen des Portalmeisters wieder hinaufrücken, da ja dann während seiner Thätigkeit der romanische Baumeister noch weiter gearbeitet hätte und ein Teil seines Baues in die gemeinsame Arbeitszeit fallen würde. Ob dann die Wirksamkeit beider zu gleicher Zeit abbricht, ob die des Bildhauers diejenige des Architekten überdauert und dann erst infolge seines Todes oder seines mangelnden Bauverständnisses ein geübterer Gotiker berufen wird, oder ob zunächst eine Baupause eintritt, alles dies ist noch nicht mit Sicherheit zu bestimmen.

 

Das Portal aber, sei es schon 1210 oder erst gegen 1220 entstanden, ist unter den uns überlieferten Denkmälern das früheste Beispiel deutscher gotischer Plastik; sein Vorbild war das Pariser Hauptportal, und obgleich es nie vollendet wurde, ist es dasjenige Werk, mit dem in Sachsen ein neuer Stil Eingang findet, dem wir die besten Schöpfungen deutscher mittelalterlicher Kunst verdanken. Es öffnet uns den Weg zu den Freiberger und Wechselburger Skulpturen.

 

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1) Karl Franck-Oberaspach, Zum Eindringen der französischen Gotik in die deutsche Skulptur im Repertorium für Kunstwissenschaft. 1899. S. 109.

 

 

 

Quelle:

Adolph Goldschmidt: Studien zur Geschichte der sächsischen Skulptur in der Übergangszeit vom romanischen zum gotischen Stil S. 22-37

Berlin 1902. G. Grote‘sche Verlagsbuchhandlung

 

 

R. Hamann 1909 über die Kapitelle im Magdeburger Dom

 

„II. KAPITELLTYPEN IM MAGDEBURGER DOM UND DIE ENTWICKLUNG DES MITTELALTERLICHEN KAPITELLS

 

Die so gut wie lückenlose Stufenfolge romanischer und gotischer Kapitelltypen im Magdeburger Dom erlaubt es, die Interpretation und Aufzählung in dem allgemeineren Sinne vorzunehmen, daß eine Anschauung der Entwicklung des mittelalterlichen Kapitells daraus gewonnen, eine feste Terminologie dadurch geschaffen werden kann. Die leitenden stilistischen Gesichtspunkte sind folgende:

 

1. die Grundform des Kapitells,

2. Form und Richtung des Ornaments,

3. das Verhältnis von Ornament zur Kernform, der Grad der Zugehörigkeit des Ornaments zum Kern,

4. der Darstellungscharakter des Ornaments, sein Grad von Stilisierung oder Naturalismus.

 

Das Hauptproblem ist die Erkenntnis einer gleichsinnigen Entwicklung des Kapitells in jeder der genannten Richtungen. Doch kommt es oft genug vor, daß an einem einzelnen Exemplar noch altertümliche Momente in dem einen Punkte mit fortgeschritteneren in anderen sich zusammenfinden. Ein einzelnes Merkmal ist deshalb nie entscheidend für die zeitliche oder stilistische Einreihung eines Kapitells.

 

Die drei wesentlichen Kernformen im Magdeburger Dom, den Kreuzgang einbezogen, sind:

 

1. Der Würfel, eine gleichmäßig kubische Form, richtungslos, eine leblose, nur durch seine Form wirksame stereometrische Masse (Abb. 1 - 8). Richtung bekommt dieser Block allein dadurch, daß er zwischen oberen Massen, dem Bogen mit seinem

 

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Abb. 1 - 8. Kapitelle am Kreuzgang des Magdeburger Domes

 

 

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quadratischen Grundriß und zwischen unteren, dem Rundpfeiler mit seinem kreisförmigen Durchschnitt vermittelt. Bekanntlich wird die reine Würfelform deshalb unten in die Kugelform übergeführt.

 

2. Der Kelchblock (Abb. 10).

 

 

Die reine kubische Masse bildet nur noch den oberen Teil des Kapitells; darunter befindet sich eine Form, unten schmal, nach oben sich verbreiternd und in konkavem Profil elastisch nach außen biegend. Während die Abrundung der unteren Ecken des Blockkapitells die Würfelform ohne Bruch in die Rundung der Kugel überführt und den Eindruck erweckt, als läge der Würfel weich gebettet in einer Höhlung des Säulenstammes, sondert sich jetzt der Kelch in scharfer Knickung vom Würfel darüber; die Ausladung nach oben, die Zusammenziehung nach unten, bekommen stärker den Sinn einer Entwicklung in vertikaler Richtung. Die Form liegt nicht, sie steht, und das ergibt zusammen mit der elastischen, einem Druck nachgebenden Ausbiegung den Eindruck von Aktivität und innerer Lebendigkeit.

 

3. Der reine Kelch (Abb. 14).

 

 

Der Würfel oder Block entschwindet ganz aus dem Kapitell, es bleibt nur der Kelch übrig, in einer sehr viel steileren, das Emporstreben oder Wachsen und das Stehen stärker betonenden Weise. Das Kapitell ist ganz mit gotischer Funktion erfüllt.

 

Das Überwiegen des Blockes in den ältesten Teilen des Kreuzganges, des Kelchblockes im Chorumgang, des Kelches im Bischofsgang und Hochschiff bestätigen, daß die logische Entwicklung der zeitlichen entspricht. Die Linien der Entwicklung sind damit vorgeschrieben: von ruhender, gleichmäßig nach allen Richtungen entwickelter kubischer Form zur Bevorzugung der Vertikalrichtung, zum funktionellen Typus und zu größerer Lebendigkeit.

 

Das Würfel- oder Blockkapitell. Das Charakteristische dieser Würfelkapitelle ist die Wahrung der Blockform, die sofort als einheitliche, ungegliederte Masse mit bestimmten Seitenflächen und Kanten erfaßt wird. Abweichungen von diesen einfach stereometrischen Würfeln finden sich genug im Kreuzgang, verschuldet offenbar durch das Vorbild des korinthischen Kapitells mit seinen aus dem Kern herausfallenden Blattspitzen, mit der Einziehung der Form über dem Blattkelch und seinen selbständigen Eck- und Mittelvoluten (Abb. 6).

 

 

Aber dies korinthische Kapitell wird in bestimmter Weise umgebildet. Die Kelchblätter stehen starr und steif empor, und die Rundung überfallender Blätter wird ersetzt durch ein von oben sich auf das aufsteigende Blatt herablegendes zweites Blatt von leicht gekrümmter Form. Beide Blätter stoßen zu einer massiven Ecke zusammen, die wie ein Bolzen aus dem Gesamtblock herausragt, aber durchaus ein Teil desselben ist. Die einfache Form wird dadurch vielteiliger, polyedrisch, wie ein Kristall. Ebenso sind die Eck- und Mittelvoluten derbe Klötze, deren Flächen ganz in der Ebene des ursprünglichen Blockes liegen, so daß der Eindruck einer zerklüfteten, unterminierten Steinmasse entsteht. Einige Teile der Masse sind ausgebrochen; was stehen bleibt, ist noch immer einheitliche Masse, von vielteiliger Form, aber nicht gegliedert. Diese korinthisierenden Kapitelle entsprechen den Kapitellen in Königslutter, die in engster Beziehung zu Ferrara stehen und durch die italienische Herkunft die Ableitung des antiken Motivs verständlich machen 1). In Magdeburg spielt diese Art des ferrarisch-königslutterischen

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1) Goldschmidt hob in seinem Vortrag auf dem Historikerkongreß hervor, daß die Form auf italienischem Boden entstanden sei und beweise, daß eine alte Kultur die Führung nicht so leicht aus der Hand gäbe. Die viel wichtigere Frage ist aber die, wie es möglich ist, daß selbst auf dem alten Kulturboden die reifen Formen antiker Baukunst im Sinne einer primitiveren, jungen und unzweifelhaft deutschen Kunst umgebildet werden konnten. Vgl. S.58, Anm.2.

 

 

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62 DIE KAPITELLE IM MAGDEBURGER DOM

 

Typus nur eine geringe Rolle und zeigt stärker als in Königslutter oder Hildesheim die Anpassung an die Blockform. Da das Kapitell in der vorliegenden Gestalt ganz romanisch ist, und das antike Kapitell so verarbeitet ist, wie irgendeine andere Naturform, so kann von einem fördernden Einfluß der Antike nicht die Rede sein. Die Leistung der romanischen Kunst ist vielmehr um so höher anzuschlagen, als sie eine ihrem Geiste diametral widerstrebende Form doch in ihre Fesseln geschlagen hat.

 

Das herrschende Ornament ist eine Palmette, eine breite, in der Art eines herzförmigen gekerbten Blattes konturierte Fläche, so durch Riefen geteilt; daß von einem tiefsitzenden Mittelpunkt aufwärts, seitwärts und abwärts schmale Streifen ausstrahlen (Abb. 2).

 

 

Das Flächenhafte und allseitige Ausstrahlen ist das bezeichnende. Das rundliche Blatt füllt die quadratischen Flächen des Blockes nicht, und so werden nach dem radialen Teilungsprinzip des Blattes die Palmetten über die Fläche verteilt, von unten, oben und den Seiten sich entgegenkommend. Um eine Ecke herumgeklappt oder zusammengefaltet, halbiert, ergeben sie gerade Linien und Kanten. Man kann zwischen einer gröberen, mit ihren Rändern die ganze Würfelkante einnehmenden Palmettenart und einer kleine Blätter häufenden und interessanter kombinierenden Art unterscheiden (Abb. 2 u. 4, 7).

 

   

 

 

Hinzu tritt das Motiv der Verschnürung der Palmettenzweige und verbindender, rankenartiger Zweige zwischen den verschiedenen Blättern. Letztere sind bei der kleinteiligen Manier öfter schon in der Art aufsteigender Blattstiele gebildet, wie auch die Blätter stärkere Zwischenräume zwischen sich zeigen als in der eng aneinander geschobenen breiten Manier (Abb. 7).

 

 

Zu einem reinen Band- oder Rankenkapitell kommt es auch da nicht, wo ein mit Diamanten besetztes Band mit Palmetten verflochten ist. Der Flächenschmuck herrscht vor. Für den unorganischen Charakter spricht, daß die Blattzweige nicht verwachsen, sondern verschnürt sind.

 

Alle Ornamente und Muster sind völlig geometrisch stilisiert, zeichnerische Kunstform, ohne jede naturalistische Bildung. Die Akanthusblätter sind ohne jede Nachahmung antiker oder natürlicher Akanthusblätter genau wie die Palmetten als einheitliche, geriefte Fläche gebildet, mit dem einzigen Unterschied, daß die Riefen nicht so sehr in einen Mittelpunkt zusammenlaufen, sondern mehr parallel nebeneinander münden.

 

Die Technik ist die eines scharfen Steinschnittes, Einkerbung, Riefelung, ein Rauhmachen, Spalten der Blockoberfläche, ohne daß der Charakter des Steines, der Baumaterie darunter litte. Das Ornament liegt nicht einem Kern auf, sondern ist eine bestimmte Bearbeitung des Kernes. Die Voluten der korinthisierenden Kapitelle sind ebenfalls nur eingravierte Umrisse, auf dem Steinblock markiert, zum Teil auch mit Palmetten statt der Schnecken an den Endigungen. Die Bänder sind flach gehalten mit dem für den Steincharakter bezeichnenden Schmuck der Diamantquaderchen. An einigen Stellen erhalten die Formen, besonders der verbindenden Zweige, ein rundlicheres, rankenartiges Profil, aber in wenig hohem Relief. in den feinteiligen Palmettenkapitellen erhebt sich das Ornament stärker über einen tiefer liegenden Kern, ist aber durchaus mit diesem verwachsen. Die Vertiefung ist durch Herausschälen der Masse entstanden.

 

Worauf wir unsere Aufmerksamkeit auch richten, die Grundtendenz bleibt immer die der Wahrung der kubischen Form, der Baumasse und des Charakters toter, von außen zu bearbeitender Materie.

 

Der geometrisch-ornamentale Charakter, das Typisch-Formale der Ornamentik erlaubt es nicht, bestimmte Meister zu scheiden. Es fehlt die individuelle künstlerische Handschrift. Die Betrachtung der Typen muß dafür eintreten.

 

 

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63 VON RICHARD HAMANN

 

Einige Kapitelle bringen den altertümlichsten Typus linearer Abgrenzung der Stellen, wo der Würfel in die Kugelform übergeht, so daß halbkreisförmige Schilde als Seitenflächen stehen bleiben (Abb. 1).

 

 

Dünne Bänder, die an den Ecken und in der Mitte jeder Seitenfläche senkrecht aufsteigen, zuweilen ein Blatt bilden, sind der einzige Schmuck dieser kahlen Flächen. Die dünnen Fäden wirken noch in einige reizlose Palmettenkapitelle hinein. Daß die Kapitelle bemalt waren, ist wegen des Bandornamentes und des Ortes, wo sie sich befinden, im Freien, nicht wahrscheinlich. Die Wahrung des Blockes ist hier am weitesten getrieben.

 

Die zweite Gruppe ist die mit den eingravierten Palmetten, deren Oberkanten vollkommen in der Ebene des würfelmäßigen, geradflächigen Blockes liegen (Abb.2‚ 3, 4, 7).

 

     

 

Wenn der Block zerklüftet ist, ergeben die Vorderflächen der stehengebliehenen Bolzen Teile eines geradflächigen Würfels (Abb. 3).

 

 

Die Blätter, die gefaltet sind, wirken doch nur als Teile von Blättern, die Umbiegung an der Stelle des Faltens bleibt gänzlich ideal, gedanklich. Diese Ornamentik ist in Sachsen im XII.Jahrhundert ganz allgemein, und Magdeburg vermehrt die Reihe von Variationen, die sich in Sachsen findet. Wegen der starken Wirkung der Gesamtform übersieht man leicht, daß jedes Kapitell besonders gebildet ist 1).

 

Die dritte Gruppe verzichtet auf die ebenen Flächen der Würfel und setzt dafür gewölbte, muschelförmige gehöhlte und gebeulte Flächen ein (Abb. 5).

 

 

Die Palmetten scheinen plötzlich aus elastischem Material, rollen und wölben sich. Die Blätter sind nicht mehr gefaltet, sondern wirklich umgebogen, das Ornament beginnt sich abzulösen. Im ganzen bleibt der Eindruck einer Gesamtmasse, aber sie erscheint nicht mehr wie fester Stein, sondern wie getriebenes Metall oder gebackener, gekneteter Teig. Barocker Formenschwulst zeigt das Ende des romanischen Kapitells in Sicht, es ist bereits ein spätromanischer Typus. Aber noch streng ornamental, ohne organische Formen, und die Oberfläche der Beulen noch immer gekerbt und gerieft.

 

Die Ecklösung an der Basis aller dieser Säulen ist wie das Kapitell eine Vermittlung zwischen der runden Form der Basis und der eckigen des Sockels, als ob das freie Aufsehen der Säule dem romanischen Gefühl zuwider wäre und die Massen auch hier als Masse verklammert werden müßten (Abb. 9). Der über den Torus der Basis überstehende Teil des Sockels ist mit einem kantigen nach oben zurückfluchtenden Steinblock gefüllt, den wir in der vorliegenden Form nicht Ecklappen oder Eckblatt, sondern Eckbolzen nennen wollen. Das Kapitell führt ohne Deckplatte in die Bogenmasse über; auch das verrät die Abneigung gegen funktionelle Gliederung.

 

Entsprechend der baulich-materiellen Form der Kapitelle und der ornamentalen Behandlung des Schmuckes spielt das figürliche Element im Kreuzgang eine geringe Rolle. Ein Menschenkopf statt einer Palmette ist maskenhaft mit stereometrischer Form der Augen und der Fleischpartien, versteint behandelt. Tierszenen, irgendein wildes Tier ein anderes bespringend, scheinen auf die Jagddarstellungen in dem Bogenfries am Chor der Stiftskirche von Königslutter zurückzugeben, ebenso ein Palmettenkapitell des 3. Typus, wo die Palmettenzweige aus dem Mund einer Schlange kommen, und die Ecke statt von einem gerollten Blatt von einem grob zugehauenen Menschenkopf eingenommen ist.

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1) Eine Sonderart, die sich in Ilsenburg öfter findet, in der Liebfrauenkirche zu Halberstadt vereinzelt, ist ein Kapitell mit vertikaler Kannelierung. In jeder Hohlkehle sind oben kleine halbkreisförmige Schilde stehen geblieben. In Magdeburg kommt es einmal vor an einem Ecksäulchen der Pfeiler des Kreuzganges. Ebenso vereinzelt ist ein Kapitell mit Schachbrettmuster an gleicher Stelle. Anregungen für beide Formen könnte der Kreuzgang des Klosters U. L. Frauen in Magdeburg geliefert haben.

 

 

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64 DIE KAPITELLE IM MAGDEBURGER DOM

 

In Königslutter sehen wir das Motiv mit besserem Rechte an einem Rankenkapitell. Einmal eine menschliche Szene: ein kniender Mann, im Profil, möchte einer en face sitzenden Frau, die irgendein Gerät zwischen den Knien hält, etwas entreißen, vielleicht das Gewand (Abb. 8).

 

 

In Königslutter findet sich im nördlichen Querschiff eine Darstellung von zwei Männern zu beiden Seiten einer Frau. Sie sind damit beschäftigt, das lange offene Haar der Frau zur Seite zu ziehen. Der Stil der figürlichen Darstellungen in Magdeburg ist derselbe wie der Kapitelle mit den muschelförmigen Palmetten; die Blockform ist zerklüftet, gebeult und ausgehöhlt, die

 

Abb. 9. Magdeburger Dom, Kreuzgang

 

Figuren, ohne Feinheit, haften an einem Kern, ihre Formen quellen daraus hervor, die Oberflächen in den Haaren, im Gewand sind steinmäßig gerieft oder in Steinschichten vertieft, mit einem Worte klotzig. Da in den figürlichen Darstellungen auch die ornamentale Schönheit des Kapitells verloren geht, befiedigen diese Kapitelle am wenigsten.

 

Den nächsten Typus finden wir in Verbindung mit dem Kelchblock, der Übergangsform zwischen Würfel- und Kelchkapitell, und herrschend in der Übergangszeit vom romanischen zum gotischen Stil (Tafel A. Abb. 16 – 20).

 

 

Das Wesentliche des Typus ist ein Zurückbleiben des Ornaments hinter der Kernform. In romanischer Weise legen sich Ranken und Blätter nach allen Seiten über die Flächen des Kapitells, ohne Rücksicht auf den aufsteigenden Kelch und die scharfe Grenze zwischen Kelch und Block. Der Fortschritt besteht in völliger Ablösung des Ornaments vom Kern, die Ranken überspinnen

 

 

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65 VON RICHARD HAMANN

 

den Kern, sind frei ausgearbeitet, die Blätter drehen und rollen sich, so freilich, daß die Blätter und Ranken jetzt eine Art von Korb bilden, dessen Gesamtform der Kelchblock ist und in den ein Kern, dessen Form gleichgültig ist, eingebettet ist. Das Ornament ersetzt den Kern; es ist gleichsam durchbrochene Arbeit, Überwucherung des Ornamentes. Dieser Typus ist die eigentliche Heimat des figürlichen Kapitells in Sachsen. Die Form der Rankenverschlingungen und der Blätter bleibt noch die romanische, geometrisch ornamentale; das Material des Ornamentes ist noch unorganisch, brauchte aber nicht vom gleichen Stoff zu sein wie der Kern. Wir sprechen von Kelchblockkapitellen mit romanischen Ranken und breitlappigen Blättern.

 

Der innere Widerspruch dieses Kapitells wird überwunden in den Kelchblockkapitellen mit gestielten Ranken (Abb. 10).

 

 

Am Kelch steigen Stengel auf und verbreiten sich erst am Block in geometrischen Rankenverschlingungen. Diese vertikalen Stengel entsprechen der Aufwärtsbewegung des Kelches und bedingen stärker den Charakter gewachsener, pflanzenhafter Ranken. Sie sind aber nur Vorbereitung auf den ornamentalen Schmuck des Blockes. Romanisch-gotisches Übergangskapitell können wir diesen Typus nennen, das Romanische voranstellend.

 

Im folgenden Typus eilt das Ornament der Kernform voraus. Die breiten Blätter werden schmal, die Ranken verlieren die Windungen, übrig bleibt nur ein aufrechtstehender, an der Spitze sich etwas neigender, zur Seite legender oder einrollender Stengel, eine Blattrippe mit wenig Blattwerk. An der Stelle, wo der Kelch in den Block übergeht, erhält dieses aufsteigende schmale Blatt, diese hochgestielte Pflanze einen scharfen Knick, der die Anschauung zerstört, als handele es sich um eine freigewachsene, freistehende Pflanze (Abb. 11).

 

 

Diese äußerliche Knickung, das Haften an einem Kelchblock bleibt noch romanisch. Wir nennen es das Stengelkapitell mit Kelchblockform.

 

Jahrhuch d. K. Preuß. Kunstsamml. 1909.

 

Abb. 10 – 12. Magdeburger Dom 10. Chorumgang, 11. 12. Bischofsgang

 

 

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66 DIE KAPITELLE IM MAGDEBURGER DOM

 

Ein Zwischending zwischen Ranken- und Stengelkapitellen sind die Kapitelle mit aufsteigenden Stengeln und gespreizten volutenartig herabhängenden Eckpalmetten (Abb. 51).

 

Dieses Stengelkapitell gewinnt Stil in einer Form, in der die Stengel vor kelchförmigem Kern frei aufsteigen. Höher steigende Blätter biegen sich um und legen ihre überfallenden Enden auf niedrigere Blätter, so daß die Berührungslinie die Stelle markiert, wo früher die Kelchblockgrenze sich befand. Die umgelegten Blattenden füllen so die obere Höhlung des Kelches aus, daß der romanische Block in idealer Vorderfläche markiert wird (Abb. 12).

 

 

Alle einzelnen Momente an diesem Kapitell sind gotisch: der kelchförmige Kern, die in der Art frei gewachsener, elastisch sich biegender Pflanzen aufsteigenden Blattstengel; dennoch dienen diese aktiven, frei funktionierenden, gotisch steilen Formen dazu, wie aus eigenem Willen und mit eigener Kraft eine romanische Form zu markieren. Romanische Form, hergestellt durch gotische Funktion. Die Blätter sind noch stilisiert, aber nicht ornamental, sondern, tektonisch. Wir nennen diesen Typus das tektonische Stengelkapitell mit kelchförmigem Kern und markiertem Kelchblock. Es ist das gotisch-romanische Übergangskapitell; die Gotik überwiegt.

 

In zwei Formen tritt dieser Typus auf: einer, in der sich die Blätter in der Zone des Blockes zur Seite neigen, einer anderen, in der sie senkrecht emporsteigen und die oberen ihre Enden herabhängen lassen wie Schilfstengel ihre marklosen Blattspitzen. Letztere Art ist die natürlichere, erstere die erzwungenere, aber kraftvollere.

 

Es folgt die Herrschaft der Kelchform im frühgotischen Knospenkapitell; der Kelchkern ist umwachsen von aufrechten, unten breiten, nach oben sich verjüngenden Blättern, die sich der natürlichen Schwere folgend im Kelchprofil nach außen neigen, ihr freies Stehen und organisches Wachstum durch Ablösung vom Kern bezeugen und an der Spitze sich elastisch zu einer Knolle zusammenrollen (Abb. 12).

 

 

Die französische Form dieser Knollen- oder Knospenkapitelle verleugnet in den unten breiten Blättern nicht die Herkunft aus dem korinthischen Blätterkelchkapitell. Aber die gotische Umbildung des Akanthuskapitells ist deutlich, einmal in dem kelchförmigen Umbiegen während das Akanthusblatt im Karniesprofil ausbiegt, dann in der nach oben sich verringernden steileren Form der Blätter und in einer Art von Kannelierung, die das vertikal Gerippte, Aufrechte wie bei einer dorischen Säule betont. Daneben kommen auch selbständigere Knollenkapitelle in Magdeburg vor, indem zwei Blattstengel sich gegeneinanderneigen und ihre umgerollten Spitzen zu einer Knolle aneinanderlegen. Die Form des Blattes im frühgotischen Knospenkapitell, dem stilisierten Knollenkapitell, ist noch allgemein, tektonisch, aber die Ornamente sind nicht mehr Teile einer Gesamtform, sondern Glieder eines organischen Ganzen.

 

Diese Blattstengel oder stark gerippten Blätter, die frei und aufrecht vor dem ebenso aufrechten, geschwungenen Kelch stehen und sich elastisch auswärtsbiegen, geben ein Vorspiel dessen, was sich über dem Kapitell in der Architektur vollzieht: das elastische Sichabbiegen der Rippen von den straff und aufrecht stehenden Diensten. So unterscheidet sich das gotische Knospen- und Stengelkelchkapitell von dem antiken Blattkelchkapitell genau so wie die gotische Architektur von der griechischen: durch das Fehlen aller toten Masse, der Last. Die Gotik kennt nur freistehende und sich biegende Glieder, läßt an der Decke nur die Rippen als wirksame Glieder gelten, am Kapitell frei in die Luft ragende Blattstengel. Das korinthische Kapitell mit breiten Blättern bildet ein Polster, der Druck der belastenden Masse treibt die konvexe Ausbiegung über dem Astragal heraus, die Voluten neigen sich unter der Last. Die gotischen Blattstengel biegen sich infolge eigener Schwere.

 

 

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67 VON RICHARD HAMANN

 

So wird es klar, daß in völlig immanenter Entwicklung mit erwachendem Gefühl für das tektonisch Wirksame im Bauwerk, für funktionelle Gliederung das gotische Knollenkapitell sich in allmählicher Umbildung entwickelt, und gerade in Sachsen, z.B. in Königslutter, läßt sich beobachten, wie ohne fremdenen, speziell französischen Einfluß die gotischen Formen sich allmählich vorbereiten 1). In Frankreich dagegen, ebenso in Italien, zeigt sich, daß das Akanthuskapitell die Entwicklung des gotischen nicht fördert, sondern hemmt und eine Umbildung genau so wie in romanischer Zeit notwendig macht. Diese war um so schwerer, als im Gegensatz zum romanischen Kapitell, das als Masse zwischen Massen, als Baustein zwischen anderen Steinen durch seine Form vermittelt, das korinthische Kapitell in vieler Beziehung das gleiche Ziel funktionellen Ausdrucks und organischer Gliederung verfolgt wie das gotische, wenn auch die Funktion nicht dieselbe ist. Daraus wird begreiflich, daß sich die romanischen Länder, Italien und Frankreich, vielfach mit der korinthischen Form begnügen, diese aber jetzt in einer echteren, organischeren als der romanischen Block- und Bolzenform bringen.

 

In Magdeburg ist diese Renaissance des antiken Kapitells durch die ganz isoliert dastehende Form eines KompositkapitelIs repräsentiert, das in der Scharfkantigkeit der Rippen, der Scharfzackigkeit der Blätter und der Auflösung des runden Eierstabes in gekreuzte Stäbchen mit scharfen Ecken romanisch-byzantinische Formen beibehält, in den Voluten französierende Knollenbildung versucht. in dem Profil des Blattkelchs, der Bildung und dem Überfall der Blätter und Voluten die elastisch organische Form des antiken Kapitells wieder aufleben läßt und das gotische Verständnis für diese Seite antiker Architektur verrät.

 

 

Der Weg des Meisters von Speyer über Walkenried nach Magdeburg, ähnliche Blattbildungen in Zürich, Worms, Mainz weisen auf eine Herkunft aus Italien 2).

 

Abb. 13. Magdeburger Dom Bischofsgang

 

Im übrigen herrschen in Magdeburg wie überhaupt im deutschen Übergangsstil die Stengel- und Knollenkapitelle, während sie in Frankreich selbst im Norden, dem fruchtbarsten Boden für die Entwicklung der Gotik, mit den antikisierenden Formen sehr das Feld zu teilen haben. Deshalb ist auch hier wie schon bei den romanischen Akanthuskapitellen die Frage, wieweit es gerade deutsche oder germanische Kräfte sind, die diese Entwicklung des gotischen Kapitells bestimmt haben. Für wenig glücklich halten wir deshalb Dehios Scheidung der mittelalterlichen Kapitelle in tektonische, wie die Blockkapitelle, für die uns wegen des Mangels an Gliederung und funktionellem Ausdruck das Wort tektonisch schon nicht behagt, und in Blattkelchkapitelle, die die antiken Blattkapitelle und die gotischen Kelchkapitelle umfassen. Das Charakteristische des gotischen Blattes, das Vorwiegen des Stengelhaften, der Rippe und die Gliederung in Stamm und Zweige beruhen genau so auf selbständiger mittelalterlicher Schöpfung wie das Würfelkapitell.

 

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1) Auf dieses Moment machte mich Professor P. J. Meier aufmerksam, der geneigt ist, gewisse Magdeburger Übergangskapitelle von Königslutter abzuleiten, während wir eine Stärkung des gotischen Gefühles durch französischen Einfluß nachweisen zu können glauben. Übrigens findet sich im Chorumgang des Domes das königslutterische Akanthuskapitell mit den aufeinandergelegten Blättern in einer interessanten Umbildung zum gotisch Steilen, organisch Blattmäßigen und zur Knollenbildung.

 

2) Vgl. S. 58, Anm. 1

 

 

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68 DIE KAPITELLE IM MAGDEBURGER DOM

 

In den hochgotischen Kapellen verstärkt sich das freie, zweighafte Abstehen, das Herauswachsen eines Blattes mit dünnem Stiel aus dem Kelch und die Naturalistik, der organische Charakter des Blattes, das die Knospe ersetzt. Von diesen naturalistischen, die tektonische Abordnung des Knollenkapitells mehr oder weniger festhaltenden Kapitellen enthält Magdeburg mehrere Typen.

 

Der früheste bringt ein mehrteiliges Blatt mit schlaffen breiten Lappen, die aus dem in die Höhe stehenden Stiel in sich zusammenfallen und eine hohle, gefäßartige Knolle bilden. Naturalistisches Knollenkapitell (Kapitelle der Vierungspfeiler des Langhauses).

 

Der zweite Typus läßt mehrere Blätter mit gegeneinandergeneigten Stielen sich übereinanderlegen zu einem üppigen Blattbüschel, meist mit scharfzackigen, der Natur entnommenen Blättern. In der mehr oder weniger streng gezeichneten Art lassen sich noch frühere oder spätere Typen scheiden. Naturalistisches Blattbüschelkapitell (Abb. 75). Es ist der eigentlich hochgotische Typus.

 

Zuletzt werden die Blätter weicher, saftiger, um ihrer eigenen Schönheit willen dargestellt, in dicken Sträußen zusammengefaßt und ohne tektonische Anordnung einfach an den Kern angeheftet, wie ein Blumenstrauß mit einer Nadel an einem Gewand (Abb. 14).

 

 

Eine ähnliche Überwucherung der Architekturform durch das Ornament tritt ein wie in der spätromanischen Kunst. Naturalistisches Laubkapitell.

 

Schließlich finden wir auch in Magdeburg die spätgotisch heißende, besser barock-gotisch genannte Form des stark gebeulten, flammenartig züngelnden, wie in schlangenartiger Bewegung gewellten Blattes, das um dieser naturalistisch nicht mehr zu rechtfertigenden Beulungen willen auch wieder stilisiert, schematisch gebildet wird. Wir nennen es das Kriechblumenkapitell.

 

Es beschließt die Reihe der mittelalterlichen Kapitelltypen, und wir wenden uns der Scheidung der Meister zu, zunächst nur die Meister heranziehend, die sich mit figürlichen Darstellungen als Individulitäten ausweisen. Der Rest findet seinen Platz in der Baugeschichte.“

 

 

Auszug aus:

Jahrbuch der K. Preußischen Kunstsammlungen 30 (1909) Heft 1 Seiten 56 bis 80, Richard Hamann „Die Kapitelle im Magdeburger Dom. I. Teil“

 

Der gesamte Artikel wurde 1909 in folgenden Ausgaben dieses Jahrbuches veröffentlicht:

Teil I: Heft 1, S. 56-80; Teil II: Heft 2, S. 108-138; Teil III: Heft 3, S. 208-218; Teil IV: Heft 4, S. 236-270.

 

Für das wissenschaftliche Arbeiten hat DigiZeitschriften e.V. Band 30 des Jahrbuchs der Preußischen Kunstsammlungen in den open access gestellt:

 

www.digizeitschriften.de/openaccess/

 

Richard Hamann habilitierte 1911 in Berlin bei Professor Heinrich Wölfflin mit dem Thema „Die Kapitelle im Magdeburger Dom“

 

Hinweis: Die im Auszug eingestellten Bilder stammen nicht aus der Veröffentlichung von 1909 Heft 1, sondern wurden 2016 aufgenommen. Sie sind in den Text dort eingefügt, wo sie von Richard Hamann besprochen werden.

 

 

 

P.J. Meier 1911 zur Baugeschichte des Klosters "Unser Lieben Frauen" in Magdeburg

Zur Baugeschichte des Klosters U. L. Fr. zu Magdeburg.

Von P. J. Meier.

 

Maximilian Moddes kürzlich erschienenes Buch über das Magdeburger Liebfrauenkloster 1) gibt mir erwünschte Gelegenheit, längst gehegte Zweifel an den bisher gültigen zeitlichen Ansetzungen, die sich auch bei Modde wieder finden, zu äußern und im einzelnen zu begründen. Da wir jetzt zeitliche Bestimmungen über Bauwerke auf Grund stilistischer Merkmale mit erheblich größerer Sicherheit treffen können, als früher, dagegen die urkundlichen und chronikalen Angaben recht oft der erforderlichen Klarheit entbehren, so halte ich es für

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1) Max. Modde, „Unser-Lieben-Frauenkloster in Magdeburg. Magdeburg 1911 in der Creutzschen Buchhandlung (Max Kretschmann). Eine Monographie mit eigenen Zeichnungen“. 8°. Geb. 3.60 Mk. Der Verfasser konnte für den kurzen geschichtlichen Teil das vortreffliche Buch von Bormann u. Hertel, Geschichte des Klosters U. L. Frauen zu Magdeburg benutzen, während dem ausführlichen baugeschichtlichen Teil vor allem der Aufsatz von Kothe, dem Hersteller der Kirche in der Zeitschrift für Baumesen, Jahrgang 45. S. 25 ff. zu Grunde liegt. Über Kothe hinaus sind die Untersuchungen Moddes, wenigstens, was die Kirche selbst betrifft, nicht vorgedrungen. Moddes Buch zeugt von hingebender Liebe zu dem Gegenstand. Eine wirkliche Förderung haben besonders die topographischen Fragen gefunden, obwohl gerade hier manches nicht überzeugend erscheint. Unter den zahlreichen Abbildungen sind die im Text gegebenen vortrefflichen Autotypien hervorzuheben. Die eigenen Zeichnungen des Verfassers aber sind, soweit es sich nicht um Grundrisse und Schnitte u. a. handelt — ich möchte hier besonders auf die rekonstruierte Ansicht aus der Vogelschau bei S. 33 und den äußerst lehrreichen, gleichfalls rekonstruierten Lageplan hinweisen — vielfach etwas kümmerlich, der reich verzierte Deckel entspricht mit seinen unruhigen romanisierenden Ornamenten nicht mehr dem heutigen Geschmack.

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410 Zur Baugeschichte des Klosters U. L. Fr. zu Magdeburg.

 

methodisch richtig, von dem auszugehen, was uns das Bauwerk selbst lehrt, und erst dann zuzusehen, wie sich die schriftlichen Quellen dazu stellen.

 

In der Klosterkirche lassen sich die Einbauten, die man zum Zweck der Einwölbung derselben im Übergangsstil ausgeführt hat, in Gedanken leicht entfernen, und wir behalten dann eine flachgedeckte Basilika übrig, die sich durch ihre rohen und doch wirkungsvollen Flachreliefs, wie schon lange bekannt ist, als Glied einer ganz bestimmten Baugruppe zu erkennen gibt, deren wichtigster Vertreter der 1129 geweihte Quedlinburger Dom ist.

 

   

 

Der Steinmetz, der jene Flachreliefs gearbeitet hat und der im Anfang des XII. Jahrhunderts bei uns tätig gewesen ist, läßt sich auch an der Klosterkirche S. Abbondio bei Como mit vollster Sicherheit erkennen 2). Kothe und Modde sind nun der Ansicht, daß der Bau der Klosterkirche, an der dieser Steinmetz nachweisbar ist, im Langhaus nicht fertig geworden sei; man hätte hier — was durchaus richtig ist — die Absicht gehabt, den bekannten sächsischen Stützenwechsel in Abweichung von der sonstigen Gewohnheit so zu verwenden, daß auf je einen Pfeiler drei Säulen kamen, aber man hätte nur die drei Pfeiler aus jeder Seite und dazu lediglich je eine Säule errichtet und dann den Bau ruhen lassen, bis 1129 mit Norbert ein ganz neuer Geist in das Kloster eingezogen sei. Norbert hätte erst die fehlenden Stützen hinzugefügt, und zwar, unter Verwerfung des ursprünglichen Planes, ausschließlich Pfeiler; ja selbst die beiden Säulen wären von ihm pfeilerartig ummantelt worden. Es läßt sich auf doppeltem Wege der zwingende Beweis führen, daß die zuletzt wiedergegebene Annahme falsch ist. Nicht allein die sechs Pfeiler und zwei Säulen gehören dem Bau des Meisters von S. Abbondio zu, sondern das ganze Langhaus mit seinen Arkaden und seinem Obergaden.

 

 

Denn auch alle die anderen Arkaden zeigen den Wechsel von roten und weißen Quadern, der sich in der ersten Arkade (von Osten gerechnet) findet, und über sämtliche Arkaden läuft gleichmäßig ein Gesims in Form des Flechtbandes, das für den Meister bezeichnend ist, und dessen Nachbildung in Zeiten eines fortgeschrittenen Stils, an die Modde denkt, niemand eingefallen wäre. Die Sache liegt also so,

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2) Vgl. besonders A. Goldschmidt, Monatshefte für Kunstwissenschaft III (1910) 302ff. Modde sind diese Beziehungen der Quedlinburger Baugruppe zu S. Abbondio nicht bekannt geworden.

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daß überall da, wo eine Pfeilerstütze von abweichender Form steht, später eine Auswechslung der irgendwie beschädigten Säule stattgefunden hat; wie ja auch die Ummantelung der noch z. T. sichtbaren Säulen nur durch eine Beschädigung derselben erklärt werden kann. Andrerseits zeigen aber die, wie allgemein zugegeben wird, späteren Pfeiler durchweg Formen, die in der Zeit Norberts, also um 1130, bei uns nicht nachweisbar sind, sondern hier erst im letzten Viertel des XII. Jahrhunderts auftreten. Sie haben also mit Norbert nichts zu tun, und der würde auch sicherlich für die verhältnismäßig geringfügigen Ergänzungsarbeiten in der Klosterkirche sich nicht eigens französische Werkleute, denen man die fortgeschrittenen Formen zuweisen möchte, mitgebracht haben. Damit stimmt nun aber ausgezeichnet überein, daß im Jahre 1188 ein Brand die Klosterkirche verheert hat. Wie es bei flachgedeckten Kirchen die Regel ist, ist die vom Feuer ergriffene Balkendecke ins Schiff hinabgestürzt und hat beim Weiterbrennen die monolithen Sandsteinsäulen so stark beschädigt, daß sie auf die Dauer die schwere Last der Mauern nicht zu tragen vermochten.

 

Auch mit der Nachricht, daß Erzbischof Heinrich 1107 im südlichen Querhaus der Klosterkirche bestattet sei, läßt sich der Bau des Meisters von S. Abbondio zeitlich wohl vereinigen. Aber es fragt sich, wie sich der bauliche Befund zu der weiteren Nachricht stellt, daß auch Erzbischof Werner, der Erbauer einer neuen Kirche, 1078 in ihr —- die Stelle wird nicht genauer angegeben — beigesetzt worden sei. Nun, der Meister von S. Abbondio kann freilich von Werner nicht bereits verwendet worden sein, aber eine genauere Untersuchung zeigt, daß das Chorquadrat 3) — die alte Chorapsis ist nicht mehr erhalten — und wenigstens die Ostwand des Querhauses mit den sonstigen romanischen Formen der Kirche keineswegs übereinstimmen.

 

 

Die Kämpfer an den östlichen Pfeilern der Vierung sitzen nicht blos höher, als die entsprechenden im Westen, sondern entbehren jener bezeichnenden Schmiege mit Flachreliefs und zeigen auch sonst ein ganz anderes Profil, als sich dort über den Schmiegen befindet. Dasselbe Profil aber kehrt in der südlichen Nebenapsis wieder, ist hier aber

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3) Da die äußere Nordmauer des Chorquadrats bereits den Rundbogenfries des Meisters von S. Abbondio trägt, ist nicht einmal sie in Werners Zeit fertiggestellt worden.

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bei der Fortführung des Baues, ohne entfernt zu werden, doch in Schatten gestellt worden durch ein neues Kämpferprofil, das sich auch, über einer Schmiege, an den westlichen Pfeilervorsprüngen für den Abschlußbogen nach den beiden Querhäusern findet. Hiermit ist also ein unzweideutiges Anzeichen für eine Bauunterbrechung gegeben, wie sie beim Wechsel in der Person des Bauherrn leicht eintreten konnte.

 

Eine Bauunterbrechung liegt aber weiter vor in der Krypta.

 

 

Hier verraten die Wandsäulen einen ganz anderen Geist, als die freistehenden. Jene haben derbere niedrigere Würfelkapitäle, von denen eines ein flaches Flechtband, ein zweites eine flache Rosette an der Scheibe trägt; eine dritte Wandsäule zeigt unter dem Abakus der mit dem Würfel aus einem Stück besteht, den Zahnschnitt. Die Schäfte der Wandsäulen bestehen meist aus einem großen Stück und einem kleinen darüber, bisweilen aber auch aus mehreren Stücken; der Schaftring fehlt hier durchgehends. Die frei stehenden Säulen dagegen sind monolith (eine besteht aus Granit, eine andere aus Brecciamarmor), die Würfelkapitäle sind weniger schwerfällig, und wenn auch sämtliche Sockel der Eckknollen entbehren, zeigen doch die Quergurte für die Gewölbe, daß wir es hier mit einem späteren Bauteil zu tun haben. Es scheint also, daß beim Tode des Erzbischofs Werner die Krypta noch nicht eingewölbt war. Indessen stand dem ja nichts im Wege, daß er, zum wenigsten vorläufig, in der Krypta beigesetzt wurde. Eine längere Bauunterbrechung aber war hier wie anderwärts aus dem Grunde nicht so störend, weil es Sitte war, einen alten Bau, den man durch einen neuen ersetzen wollte, nur immer Teil für Teil abzubrechen. Wo der Bau Erzbischof Geros gestanden hat, wissen wir nicht; die gegenüber der Kirche so seltsam verschobene Lage der Konventsgebäude, deren Ostflügel in der Regel mit dem Querschiff der Kirche fluchtet, legt aber die Vermutung nahe, daß die erste Kirche weiter nach Osten zu lag, und daß die Konventsgebäude, die freilich erst dem 12. Jahrhundert angehören, doch die Stelle der ersten Konventsgebäude einnehmen. Ist diese Vermutung richtig, so hätte Chor- und Querhaus der Kirche Geros unmittelbar östlich vom Chor der Kirche Werners gelegen, so daß bei dem Beginn des Neubaus nur das Langhaus des ersteren abgebrochen werden mußte, seine östlichen Teile aber ruhig weiter benutzt werden konnten. Erst unter dem zweiten Nachfolger

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auf dem erzbischöflichen Stuhle, Graf Heinrich von Assel, war der Neubau soweit vorgeschritten, daß dieser Kirchenfürst im südlichen Querhause beigesetzt werden konnte (1107). Um 1100 aber muß dann gleich auch der Bau des Langhauses nach Ausweis der Stilformen in Angriff genommen worden sein. Mit dieser zeitlichen Ansetzung geht das, was wir über die Zeit der Quedlinburger Schloßkirche und der S. Ulrichskirche in Sangerhausen wissen, gut zusammen. Jene ist in ihrem Neubau 1129 geweiht worden, und aus dem Anfang des 12. Jahrhunderts muß auch die Sangerhäuser Kirche stammen, obgleich hier bestimmtere Zeitangaben nicht vorliegen. Gleichzeitig mit dem Langhause der Liebfrauenkirche ist auch der Bau des südlichen Kreuzgangflügels begonnen worden. Denn der große Bogen desselben gegenüber dem nördlichen Querhause, der erst etwa um 1230 durch Teilungsbögen und -säulen geschlossen wurde, bis dahin aber den Zugang zu dem von den Kreuzgängen umgebenen Hof bildete, zeigt denselben Wechsel von weißen und roten Steinen, den wir an den Arkaden der Kirche sehen. Die Kirche dieser Zeit hat übrigens nur bis zur achten Arkade gereicht; das ergibt sich nicht bloß aus dem System von drei Säulen zwischen je zwei Pfeilern, sondern auch aus dem, dem ersten westlichen Pfeiler gegenüber stehenden alten Wandpfeiler der beiden Seitenschiffe, der sich durch Schichtwechsel, bezw. durch Sockelbildung von den für die Einwölbung des 13. Jahrhunderts vorgesetzten sonstigen Pfeilervorlagen deutlich unterscheidet.

 

 

Hier sollte, sei es der Turmbau, sei es ein westliches Querhaus, zu stehen kommen, bis dann eine etwas spätere Zeit eine neunte Arkade daraus machte und westlich von dieser den Turmbau ausführte.

 

Bisher hat man nun ganz allgemein dem Erzbischof Norbert einen wesentlichen Anteil an dem Neubau der Kirche zugeschrieben, und diesem Urteil schließt sich auch Modde an. In der Urkunde von 1129 in der jener das bisherige Augustiner-Chorherrenstift aufhebt und an dessen Stelle das Prämonstratenserkloster gründet, sagt er, er hätte die „ecclesia - - - interius et exterius adeo attenuata“ gefunden, „ut et sarta tecta ipsius ecclesie omnino fere essent annichilata, quod duodecim clericis in ea deo deservire constitutis non sufficerent alimenta“. Mir scheint es unmöglich, aus diesen Worten mehr schließen zu wollen, als daß der Verfall des Stifts,

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den Norbert zum Anlaß seines Eingreifens nimmt, sich auch in der Erhaltung der Kirche zeigte, bei der nicht einmal das Dach in Ordnung war. Wo aber ist hier von einem Stillstand im Neubau die Rede? Ganz davon abgesehen, daß Norbert, um sein Vorgehen begründen zu können, den inneren und äußeren Verfall des Stiftes — denn so muß man die ecclesia interius et exterius attenuata auffassen —- stark übertreibt, wie dies Bormann in seiner Geschichte des Liebfrauenklosters S. 50 ff. überzeugend nachgewiesen hat. Sehen wir uns aber erst mal den Bau selbst an, um zu bestimmen, ob er die bisherige Annahme, Norbert hätte einen hervorragenden Anteil am Bau von Kirche und Kloster gehabt, bestätigt. Wir hatten schon gesehen, daß die Kirche, wenn wir zunächst einmal die neunte Arkade und den Turmbau außer Acht lassen, gleich im Beginn des 12. Jahrhunderts fertig gewesen sein muß. Es kann sich also nur darum handeln, ob die eben genannten Teile und die ihnen im Stil verwandten der Zeit Erzbischof Norberts zugeschrieben werden können. Es läßt sich nämlich sehr leicht der Beweis führen, daß der ganze Kreuzgang einschließlich des Brunnenhauses, trotz Moddes abweichender Ansicht, gleichzeitig mit dem Turmbau ausgeführt sein muß. Alle diese Teile zeigen noch ziemlich strenge romanische Formen. Vor allem möchte man aus dem häufigen Fehlen der Eckknollen an den Sockeln der zahlreichen Säulen am Westbau und im Kreuzgang schließen, daß ein Hinaufdatieren möglichst in den Anfang des 12. Jahrhunderts der Wahrheit am nächsten käme, und auffallend ist das Fehlen auf alle Fälle. Den Ausschlag aber geben die Würfel-Kapitäle der Säulen.

 

 

Denn diese zeigen ganz ausgesprochen die Form der Hirsauer Schule, die mit der Paulinzeller Kirche, d. h. mit dem zweiten und dritten Jahrzehnt des Jahrhunderts in Mitteldeutschland Eingang und erst von hier aus langsam bei uns Verbreitung findet. Dazu kommt aber noch, daß Burkhard Meier in seinem Buche über die romanischen Portale in Sachsen 4), wie mir scheint, den überzeugenden Beweis führt, daß das ursprüngliche innere Westportal der Liebfrauenkirche mit seiner abgetreppten und in den Ecken von Säulen besetzten Laibung eine über das Westportal in Paulinzella hinausgehende Form zeigt. Irrt er auch in der Annahme, daß das Magdeburger Portal

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4) Beiheft 6 der Zeitschrift für- Geschichte der Architektur, (Heidelberg 1911. 4°). S. 33 f.

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zeitlich mit der Umänderung der Stützen in der Kirche zusammengeht, die, wir sahen, dem letzten Viertel des Jahrhunderts angehören, so scheint es mir doch ausgeschlossen zu sein, daß die genannten Bauteile in die Zeit Norberts gehören. Denn daß auch das Portal mit dem ganzen Turmbau und dem Kreuzgang gleichzeitig ist, lehrt der Augenschein. Nur der Annahme stände nichts im Wege, daß Norbert diese Erweiterungs- und Neubauten, deren Ausführung er nicht mehr erleben sollte — er starb ja bereits 1134 — veranlaßt und daß ihm vor allem der Entwurf des eigenartigen Turmbaus, dem der von Notredame in Maestricht am nächsten kommt, zuzuschreiben sei. Man darf annehmen, daß sie dann um 1150/60 fertiggestellt waren. Denn wenn B. Meier glaubt, das Magdeburger Portal ginge auf den Umbau zurück, den das Paulinzeller Portal, wie er nachweist, um 1180 erfahren hat, so beachtet er nicht, daß die Weiterentwicklung des einfach abgetreppten Portals zu dem mit Säulen versehenen weder an das umgebaute Portal zu Paulinzella noch an dessen von B. Meier nachgewiesene Vorbild, die Galluspforte in Basel, anzuknüpfen brauchte; dazu sind doch die Formen zu einfach. -— Norbert selbst die eigentlichen Konventsbauten mit den in Sachsen ganz ungewohnten Tonnengewölben zuzuschreiben, geht sehr wohl an.

 

Die Turmvorhalle war ursprünglich nach Westen zu offen, etwa wie es bei der Stiftskirche in Gandersheim der Fall ist.

 

 

Es scheint nun, daß man nicht etwa den Verschluß im Osten der Vorhalle beseitigte und in den Westen verlegte, ein Zustand, wie er jetzt besteht, sondern daß man die Vorhalle in eine Kapelle umwandelte und im Westen ganz schloß. Denn der jetzige Westausgang stammt erst aus dem Jahre 1731; Opfergelt ließ damals „die bisher vermauerte Kirchtür zwischen beiden Türmen, das alte große Tor gegen die Straße heraus wieder eröffnen“ 5). Als Ersatz für das Westportal war nämlich bereits in romanischer Zeit — nach der Abbildung bei Modde S. 89 zu urteilen um 1200 — ein Eingang in das südliche Seitenschiff gebrochen worden, der dann 1731 geschlossen wurde.

 

Noch auf zwei Punkte möchte ich hinweisen. Zuerst auf zwei Kapitäle im Sommerrefektorium, die sich von den übrigen bestimmt

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5) S. Modde S. 92, 1.

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unterscheiden. Während diese die Formen des späten 12. Jahrhunderts zeigen und damit beweisen, daß diese Halle später als der Kreuzgang erbaut ist, tragen jene die Merkmale einer Nachahmung antiker korinthischer Kapitäle, wie sie im 11. Jahrhundert üblich war. Sie könnten daher, wenn sie nicht von irgend einem anderen Bau übernommen sind, nur dem ersten Bau Geros entstammen. Sodann scheinen die Merkmale, die eine frühere Verlängerung des Chors bis in die Vierung hinein beweisen, nicht ausreichend beachtet zu sein, obwohl man die Verlängerung an sich richtig erschlossen hat. In der Südwestecke der sogenannten Hohen Kapelle, die ich übrigens in die ersten Jahre des 13. Jahrhunderts setzen möchte, befindet sich eine hoch sitzende, jetzt vermauerte Tür mit einem sehr interessanten spätromantischen Weihwasserbecken, die nur auf die chormäßig erhöhte Vierung geführt haben kann.

 

 

Ferner endigen die Pfeilervorsprünge unter den Abschlußbögen zwischen Vierung und Querhäusern mit ihren Sockeln bereits in der Höhe des Fußbodens der erhöhten Vierung. Und selbstverständlich hat sich Triumphkreuz und Kreuz- oder Laienaltar niemals vor dem Chorquadrat befunden, wie Modde meint, sondern stets unter dem Bogen zwischen Vierung und Langhaus.

 

Fasse ich noch einmal kurz zusammen, was sich jetzt über die Baugeschichte der Kirche feststellen läßt:

 

(Geros Bau der Jahre 1015 ff. bis vielleicht auf zwei Kapitäle verschwunden.)

 

Zwischen 1064/1078 Neubau durch Erzbischof Werner begonnen, aber nicht einmal in Krypta und Chor fertig gestellt, dann für mehrere Jahrzehnte unterbrochen.

 

Gegen 1100 Fortsetzung und in einem Zuge Vollendung des Langhausbaus durch den Meister von S. Abbondio in Como.

 

Unter Norbert (1129-1134) Bau der Konventsgebäude.

 

Seit etwa 1140 Bau des Turmes und des Kreuzganges, deren Pläne vermutlich schon von Norbert festgelegt waren.

 

1188 Brand der Kirche, gleich darnach Erneuerung bezw. Verstärkung der durch Feuer beschädigten Stützen des Mittelschiffs.

 

Zwischen 1220/1230 Einwölbung im Übergangsstil, über die P. J. Schmidt in seiner Besprechung des Moddischen Buches in den Monatsheften für Kunstwissenschaft 1911 S. 524 f. das Nötige gesagt hat.

 

 

Veröffentlicht in:

P. J. Meier: Zur Baugeschichte des Klosters U. L. Fr. zu Magdeburg.

Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg. Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Altertumskunde des Herzogtums und Erzstifts Magdeburg. 46. Jahrgang 1911 S. 409-416

 

 

 

Norbert von Prémontré und Magdeburg

I.

Norbert von Prémontré und Magdeburg.

Von Ernst Bernheim.

 

Je eingehender man sich mit der Geschichte des Mittelalters beschäftigt, desto mehr gelangt man wohl zu der Ansicht, daß Geist und Wesen jener Zeit unserem modernen Verständnisse fremder bleiben, als manche Perioden der menschlichen Entwicklung, welche uns eigentlich viel ferner liegen: die glänzenden Tage des Perikles und Phidias, die bewegten Schicksale des Cäsar und Cicero sprechen lebhafter, verständlicher zu uns, als die Thaten unserer eigenen Vorfahren es thun. Der Hauptgrund dieser allgemein bekannten, aber doch immer wieder auffallenden Erscheinung ist wohl, daß dort bei den Völkern des Kunstgefühls und des Staatsgedankens das Interesse für das rein Menschliche größer war, als bei den mittelalterlichen Völkern, denen der staubgeborene Mensch dem ewigen Gottesbegriff gegenüber nichtig und werthlos erschien. Dort war die Bildung eine humanistische, hier eine kirchliche, -- Geistliche waren ja im Mittelalter die einzigen Träger der Kunst und Literatur, und in Allem fast, was uns die Geschichtsdenkmäler von jener Zeit überliefert haben, waltet das allgemein religiöse Interesse vor. Wie selten geben uns die mittelalterlichen Biographien individuelle lebendige Züge, die unmittelbar zu unserer Phantasie sprechen! Wie sehr treten meistens die Beziehungen zum Staat und zur Gesellschaft vor den Beziehungen zur Kirche und Religion zurück! So wird uns

 

Historische Zeitschrift. XXXV. Bd. 1.

 

 

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das Verständniß des Mittelalters doppelt erschwert; denn es gelingt uns immer noch am Ehesten den Geist eines vergangenen Jahrhunderts zu begreifen, wenn wir sehen, wie derselbe im Denken und Fühlen bedeutender Männer zur Gestaltung und Wirkung kommt, wenn wir uns in eines solchen Mannes Seele zu versetzen suchen, und von da aus die Bewegungen seiner Epoche gewissermaßen nachfühlend erleben können. In diesem Sinne denn möchte ich dem Leser einmal eine Gestalt aus dem früheren Mittelalter heraufführen, die Gestalt Norbert's, des Stifters von Prémontré, des Erzbischofes von Magdeburg; nicht etwa weil die Individualität dieses Mannes, so reich und eigenthümlich sie ist, an und für sich interessiren solle, sondern vielmehr, weil derselbe im Stande war, alle Hauptinteressen seiner Zeit zu umfassen, in sich aufzunehmen oder sich mit ihnen auseinanderzusetzen , als Repräsentanten seiner Zeit.

 

Wie mächtig bewegt war doch die Zeit, in welche Norbert's Jugend fällt: die Wende des elften zum zwölften Jahrhundert! Wie bewegt vor allem die Gegend, wo er seine Jugend verlebte, das Land am Niederrhein, zwischen Xanten und Maas, wo die Güter seines Vaters, des hochangesehenen Grafen von Gennep lagen. Dorthin war die Erregung des ersten Kreuzzuges, welche das innere Deutschland bekanntlich ziemlich theilnahmlos ließ, noch lebhaft gedrungen; Heinrich IV., der machtlos, thatenlos in Oberitalien das große Ereigniß an sich vorüberrauschen gesehen, war nun nach Deutschland zurückgekehrt; es gelang ihm zwar allmählich die Fürsten äußerlich zu versöhnen; der von Heinrich gesetzte Gegenpapst Wibert und andrerseits der rebellische Sohn des Kaisers, der junge Konrad, waren gestorben, Friedensaussichten schienen sich voll Hoffnung zu eröffnen, aber seit 1099 hatte Paschalis den päpstlichenStuhl inne, der wie mit heftigstem persönlichen Hasse von Neuem alle dem Kaiser feindlichen Elemente heraufbeschwor und gegen ihn vereinigte. Zu tief hatte der Streit zwischen Regnum und Sacerdotium die Grundlagen der deutschen Reichsgewalt erschüttert, denn bis in die untersten Kreise des Volkes hatte Gregor den Geist des Aufruhrs verbreitet, da er die Unterthanen vom Treueid entband und zur Durchführung des Cölibatgesetzes

 

 

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jenen berüchtigten Kanon erließ, daß Messe und Segen verheirateter Priester ungültig sein sollten. Und das waren nicht leere Worte geblieben, sondern die fanatischen Mönche von Hirschau im Schwarzwald waren von Ort zu Ort gezogen und hatten die Bauern im Namen der Kirche gegen die Obrigkeit und gegen die eigenen Pfarrer aufgereizt. Nicht genug also, daß in mehr als einem Drittel der deutschen Bisthümer zwei Prälaten in fortdauernder Fehde lagen, nicht genug, daß Fürsten und Herren ihre Unterthanenpflicht zum Gegenstand selbstsüchtiger Verhandlungen machten, es war auch in den einzelnen Gemeinden zu all jenen Scenen brutaler Gewalt gekommen, wie sie das Aufwiegeln ungebildeter Massen wol stets zur Folge hat. Vergebens bemühte sich Heinrich IV. die Aufgabe des Herrschers zu erfüllen; Frieden zu wirken -- wie sollte der in Fehde mit seinen Unterthanen Aufgewachsene, der immer noch Gebannte, Vertrauen und Ansehen finden? Wir wissen, wie Heinrich den V. diese Lage der Dinge zur Absetzung seines Vaters verführte -- wir kennen die erschütternden Shlußacte der Tragödie Heinrich's IV., die sich hauptsächlich im niederen Lothringen, im Kölner Sprengel abspielten. Dort in Lüttich war dann der Kaiser gestorben, sein Sohn bestieg den Thron, die Anhänger Heinrich's IV., selbst der getreue Otbert von Lüttich, wandten sich nach und nach dem neuen Fürsten zu und endlich, endlich kehrte Frieden nach Deutschland zurück. Aber nur auf kurze Frist; denn bald war Heinrich V. der Maske frömmelnder Ergebung, die er anzunehmen genöthigt war, überdrüssig und zeigte sich gegen die Curie als den, der er war, den hochfahrenden, rücksichtslosen Vertheidiger seiner Herrschaftsrechte. Mit erneuerter Heftigkeit brach nun der Streit um die Rechte der Krone gegenüber dem Reichsklerus aus; allein jetzt nicht nur Deutschland, sondern zugleich auch Frankreich und England in Bewegung setzend.

 

Das waren im Umriß die politischen Begebenheiten, unter deren Eindruck Norbert's Jugend verging; doch wichtiger für seine geistige Entwicklung war vielleicht eine ganz andere Reihe von Ereignissen, welche auf ihn bedeutenden Einfluß geübt haben, die religiös-socialen Bewegungen jener Zeit.

 

 

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In revolutionären Epochen, wie das Ende des 11. Jahrhunderts es war, wo die Gedanken der Menschen gewaltsam aus den gewohnten Bahnen gerissen werden, können wir fast regelmäßig zwei ganz entgegengesetzte Richtungen des Geistes bemerken. Ein Theil der Menschen, an seinen hergebrachten Meinungen irre geworden, fühlt sich ermuthigt, weiter zu zweifeln, weiter zu forschen, und pflegt dann mit einer Art trotzigen, fast frivolen Selbstbewußtseins die Resultate der eigenen Geistesarbeit den alten Autoritäten entgegen zu setzen. Ein anderer Theil, erschreckt und verletzt durch das Neue, das von allen Seiten gegen die altheiligen Ueberzeugungen eindringen will, flüchtet sich mit um so innigerem Bemühen in die reichere, unversiegliche Tiefe des Gemüthes, um dort neue Stützen für den alten Glauben zu finden. Beide Richtungen, die unter verschiedenen Namen in verschiedenen Epochen der Geschichte wiederkehren, treten hier am Anfang des 12. Jahrhunderts zum ersten Male in voller typischer Ausprägung hervor.

 

Jene dialektische Exegese und Philosophie, welche an den Schulen zu Tours, zu Laon, Orleans und zum Theil zu Paris, durch Lehrer wie Anselm, Rudolf, Roscellin getrieben wurde, war die erstere jener Richtungen, Abaelard war ihr Hauptvertreter, dieser vielberühmte und vielleicht darum so oft mißverstandene Mann, weil seine Bedeutung neben seinen Schriften vor allem in der kühnen, wirkungsvollen Subjectivität seines ganzen Lebens und Auftretens an und für sich liegt. Sein dialektischer Grundsatz intelligo ut credam, seine Ansicht, daß der wissenschaftlihe Zweifel der Ausgangspunkt unserer Erkenntniß sei, seine sarkastische Verhöhnung des abgeschmackten Wunder- und Reliquienglaubens machten ihn zum erklärten Gegner jener zweiten Richtung, welche eine reiche Fülle von Erscheinungen in sich begreift und sich kaum in den knappen Rahmen dieser Skizze fügen will. Da ist auf der einen Seite jener mächtige Held des Gemüthes, Bernhard von Clairvaux, mit der großen Schaar seiner Gesinnungsgenossen, welchen es Gewissenssache ist, die Dogmen der Kirche als Satzungen göttlicher Offenbarung nachzufühlen, noch einmal durch die Kraft ihres Glaubens in sich zur Offenbarung

 

 

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zu bringen. Und auf der anderen Seite, ebenfalls ausgehend von dem Bedürfniß religiöser Vertiefung, sehen wir eine vielgestaltige Sectenentwicklung um sich greifen, der wir einen wenn auch noch so flüchtigen Hinblick gönnen müssen, weil es für das Verständniß Norbert's wichtiger ist, als manche Daten seines Lebens. Wohl ununterbrochen haben sich hier und da in Italien, Deutschland und Frankreich immer im Geheimen antikirchliche Secten erhalten, welche sich im vollen Bewußtsein ihres Zusammenhanges mit dualistischen Secten des Orients Katharer nannten; gegen das Ende des 11. Jahrhunderts vereinigen sich nun ganz verschiedene Momente: das Auftreten Berengar's von Tours gegen die Abendmahlslehre, die gregorianischen Decrete, die Erregung des ersten Kreuzzuges, diesen katharischen Anschauungen neue Anstöße zu geben , dieselben mit neuen Gedankenkreisen in Verbindung zu setzen. Schwerlich hat Gregor geahnt, als er die Sacramente der nicht orthodoxen Priester für ungültig erklärte und die Laien gegen dieselben aufrief, welch' gefährlichen Ketzereien er dadurch Vorschub leisten würde. Fast alle Ansichten, die später durh die Reformation zu bleibender Geltung kommen sollten, tauchten um diese Zeit schon vorübergehend auf. In Südfrankreich war es um 1100 Peter de Bruis, der mit Verwerfung der Tradition die unmittelbare Lehre Christi betonte, die Kindertaufe, das Abendmahl, die ganze Werkheiligkeit für nichtig erklärte und gegen Mönchsthum und Kirchencult mit solchem Erfolg predigte, daß die Regierung sich zwei Decennien lang nicht an ihn wagte. Ganz ähnliche Grundsätze finden wir bei einer Katharer-Secte im Kölnischen Sprengel, welche sich die „Apostolischen“ nannten, weil sie das Leben der ersten Christengemeinden zum praktischen Vorbild nahmen; und ebendort gab es andere Häretiker, welche die kirchlichen Sacramente verwarfen, soweit dieselben von der Qualität der consecrirenden Priester abhängig sein sollten. Nicht immer traten diese Häresien gleich anfangs in kirchenfeindlicher Gestalt auf: so bei einem Cluniacensermönch, Heinrich, der als Wanderprediger Frankreich durchzog und gegen die Priesterehe und für die ganze Kirchenreform so sehr in orthodoxem Sinne predigte, daß der Bischof von Mans ihn

 

 

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im Jahre 1116 unbedenklich in seiner Stadt auftreten ließ; erst während einer längeren Abwesenheit des Bischofs fing Heinrich allmählich an, den Klerus überhaupt anzugreifen; er wurde vertrieben, gerieth nun nach Südfrankreich und trat ganz in die häretischen Kreise der dortigen Petrobrusianer ein.

 

Noch war die Kirche lebenskräftig genug, um alle diese Bewegungen zu überwinden, und gerade die Entwicklung Norbert's kann uns recht zeigen, daß und wie sie es war.

 

Wie gern wüßten wir aus der ersten Jugendzeit Norbert's diesen oder jenen Zug, der uns einen bedeutsamen Fingerzeig für den Charakter des künftigen Mannes geben könnte; indeß für die mittelalterlichen Biographen beginnt natürlich das Interesse erst mit der Abkehr Norbert's von der Welt und so wissen wir nur, daß er, von den Eltern zum Kleriker bestimmt, dem Chorherrnstift in Xanten übergeben ward und dort seine Bildung erhielt. Hochadelig von Geburt, ausgezeichnet durch alle Gaben der Natur an Körper und Geist, wie er war, machte er sich bald am Hofe des Erzbischofs von Köln beliebt und gelangte von da in die Hofkapelle Heinrich's V., die gewöhnliche Laufbahn begabter Kleriker von Adel. Als Kapellan des Königs machte er den Zug nach Italien mit und war dort im Februar 1111 Zeuge der Gewaltthaten Heinrich's gegen das Oberhaupt der Kirche. Es ist möglich, daß diese Vorgänge seinen Gedanken zuerst eine nachhaltige Richtung zum Religiösen gaben -- jedenfalls scheint er sich nach der Rüdkehr aus Italien vom Hofe entfernt und nach Xanten oder Köln gewandt zu haben, und der Entschluß, ein anderes Leben zu ergreifen, bereitete sich in ihm vor. Durch ein äußeres Ereigniß, wie das oft der Fall ist, plötzlich, wurde dieser Entschluß zur Reife gebracht. Der alte Biograph Norbert's hat uns in seinem schlichten Stil ein anziehendes Bild davon überliefert: in bewölkter Nacht reitet Norbert im prächtigen Seidenwams nur von einem Knappen begleitet auf heimlichem Wege von Xanten über den Rhein -- da bricht ein furchtbares Gewitter aus, und unmittelbar vor dem Entsetzten schlägt der Blitz in die Erde, daß der Boden sich mannstief spaltet und Norbert betäubt vom Pferde stürzt. Eine Stimme aber glaubt er zu vernehmen,

 

 

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die ihn zur Umkehr mahnt. So eröffnete er nach einiger Zeit, es war im Jahre 1115, sein Vorhaben dem Erzbischof von Köln, seinem väterlichen Freunde, mit der Bitte, ihn, der erst Subdiakon war, zugleich zum Diakon und Presbyter zu weihen, damit er seinem Drange zum Predigen genügen könne. Der Erzbischof that es, obgleich es durchaus gegen die Kirchengesetze verstieß, unter dem Vorbehalt späterer Absolution, und nun bereitete sich Norbert in den Klöstern Siegburg und Rath durch oratorishe Uebungen, Umgang mit den Klosterbrüdern, Lesen der Mönchsregeln und anderer erbaulicher Schriften auf seinen Beruf vor. Von ganz besonderem Einfluß muß es auf ihn geworden sein, daß er hier gleich beim Beginn seines religiösen Lebens einen Vertreter jener apostolischen Richtung, welche ich vorhin erwähnte, kennen lernte: einen Einsiedler in der Nähe des Klosters Rath, welcher dort gegen die Verweltlichung der Priester, für Enthaltsamkeit und Armuth predigte, und welchen Norbert häufig besuchte. Wie ernst der Neubekehrte es mit seiner Aufgabe nahm, zeigt sich wohl darin, daß er sich zwei Jahre lang nach seinem Gute, Fürstberg, dicht bei Xanten, zurückzog, um dort unter Fasten und Wachen heiliger Selbstprüfung und Betrachtung zu pflegen. Da geschah es wohl, wenn er sich vorgenommen hatte, die Nacht zu durchwachen, und todtmüde über dem Psalter einnicken wollte, daß der Teufel ihm erschien und ihn bitter verhöhnte, er vermesse sich, große Dinge vollbringen zu wollen und könne nicht einmal eine Nachtwache gehörig aushalten; aber Norbert wußte dem Lügengeist mit kräftigen Scheltworten zu entgegnen und ließ sich nicht irre machen. Er predigte auch schon gelegentlich den Leuten, die sich um ihn sammelten; doch mag er da manches Wort gesagt haben, das Strenggläubigen mißfiel, denn er wurde vor dem Concil zu Fritzlar im Jahr 1118 wegen seines Predigens verklagt und mußte sich darüber verantworten. Man hat wohl nichts Ketzerisches in seinen Ansichten gefunden, denn man entließ ihn ungestraft; aber es ist sehr bemerkenswerth, daß er sich zu seiner Rechtfertigung auf das Beispiel Johannes des Täufers berief. Und gerade in Folge dieses Concils, wo man ihm vorgeworfen, daß er wie ein Mönch thue und doch

 

 

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im Vollbesitz seiner weltlichen Güter sei, gab er nun seine Lehen und Einkünfte dem Kölner Erzbischof zurück, verkaufte all sein Allod und Hausgut, um den Erlös an die Armen zu vertheilen, und zog im November 1118 im einfachen Wollenkleid, nackten Fußes mit zwei Mönchen von dannen nach St. Giles, wo Papst Gelasius sich damals aufhielt; -- Norbert, der reiche, verwöhnte Hofmann nun ein armer, demüthiger Mönch! Aber dieser Contrast berührt uns bei Norbert nicht unangenehm, wie es manchmal der Fall ist, wenn wir solche Wandelung aus dem melancholischen Ueberdruß an einem wüsten Freudenleben hervorgehen sehen: Norbert hatte damals sein 30. Jahr überschritten, er hatte das Leben ohne Skrupel reich und voll, wie es sich bot, genossen, aber mit geziemendem Maß -- er war weder ein grämlicher Zelot, der Welt und Menschen verachtet, weil er sie nicht kennt, noch ein blasirter Genußmensch, der sich von der Freude des Daseins abwendet, weil er Alles zu gut zu kennen meint; ihn trieb wirklich aus freier frischer Seele nichts als das Gefühl von Gott gegebenen Berufes. Der Papst, den Norbert um die Absolution wegen seiner doppelten Weihe und um die Erlaubniß der Wanderpredigt bitten wollte, erkannte die begeisterte Energie des Mannes wohl, und nachdem er vergebens versucht hatte, ihn an sich zu fesseln, gewährte er ihm, um was er bat. Mit drei Genossen brach jetzt Norbert auf, nach Frankreich zu, wohin es ihn als Lothringer doch am Meisten zog, durch Eis und Schnee, unter Fasten und Gebet, bis er in Valenciennes in Folge der übermäßig anstrengenden Wanderung seine drei Gefährten durch den Tod verlor und selber schwer erkrankte. Hier war es, wo Bischof Burkhard von Cambray, ein alter Freund Norbert's vom Königshofe her, ihn unter Thränen wieder sah und sich seiner annahm; hier gewann Norbert den wackeren Hugo, der sein Nachfolger in Prémontré werden sollte. -- Als er wieder hergestellt war, wanderte er, predigend, Frieden stiftend, wo er Fehde traf, Kranke heilend und Wunder übend, weiter über Fosse, Moutiers, Gembloux, nach Rheims, um sich dort von dem neuen Papst Calixt die Erlaubniß zum Wanderpredigen erneuern zu lassen --- bis jetzt eigentlich kaum von der Art jenes vorhin erwähnten Heinrich's,

 

 

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des Cluniacensermönches, der um diese Zeit ebenfalls in Frankreich umherzog, unterschieden. Ja bei der apostolischen Richtung, die wir von Anfang an bei Norbert bemerkt haben, lag die Gefahr anscheinend gar nicht so fern, daß er wie jener mit dem kirchlichen Dogma in Conflict gerieth; aber davor bewahrte ihn einmal der ihm angeborene aristokratische Geist, eine Neigung zur Ordnung und Disciplin, die ihm unverkennbar eigen war, und sodann die kluge Leitung, welche der Papst ihm zu geben wußte. Als Norbert nämlich nach Rheims kam, suchte Papst Calixt mit Hülfe des Bischofs von Laon, eines entfernten Verwandten Norbert's, denselben auf jede Weise zu einem bleibenden Aufenthalt zu bewegen, und es gelang Beiden, Norbert zu überreden, daß er dem Bishof nach Laon folgte, um sich in dessen Sprengel nach einem passenden Asyl umzusehen. Er wählte hier einen einsamen, öden Platz bei einer Waldkapelle im Holze von Coucy, Prémontré, und versprach, sich hier niederlassen zu wollen, sobald er Genossen gefunden habe. Während des Winters, den er in Laon verbrachte, kam Norbert auch in Berührung mit der dialektischen Schule, welche hier durch Rudolf vertreten wurde; er hörte dessen Psalmen-Exegese, aber er scheint nicht davon angezogen worden zu sein, und wurde überdies von einem Freunde dringend vor dieser weltlichen Weisheit gewarnt, so daß er sich bald von der Dialektik abwandte, die noch nicht Kraft genug besaß, einen in sich festen Charakter zur Skepsis herüber zu ziehen.

 

Im Frühling (1120) nahm Norbert wieder den Wanderstab; über Cambray, wo Evermod, der spätere Bischof von Ratzeburg, sich ihm anschloß, pilgerte er bis Köln. Dort war er so glücklich, in der Hauptkirche den Leichnam des heiligen Gereon zu entdecken und von der Reliquie einen Theil für sich davon zu tragen. Mit diesem kostbaren Gut und mit 30 Novizen kam er um Weihnacht nach Prémontré zurück und ließ sich dort nieder. Eine wunderbare Macht muß dieser Mann über die Gemüther der Menschen gehabt haben. Der alte Biograph, der selbst ein Genosse dieser Niederlassung war, giebt uns recht unmittelbar den Hauch der ersten jungen Begeisterung wieder, welche die kleine Gemeinde erfüllte, eine wirklich ideale Begeisterung. Der strengen

 

 

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apostolischen Lebensweise unterzogen sich Alle ohne Vorschrift, nur nach ihres Meisters Vorbild, und meinten gar keiner Regel zu bedürfen; aber Norbert sah ein, daß ohne solche die Gründung keinen Bestand haben könne und machte die Augustinerregel, welcher er und die Meisten seiner Gefährten als Chorherren schon verpflichtet waren, mit einigen Verschärfungen zur Grundlage seines Ordens, des bald so hoch berühmten Ordens der Prämonstratenser. Am 25. December 1121 verpflichteten sich Alle auf diese Regel, von welcher Norbert später wohl erzählte, daß der heilige Augustin selber sie ihm geoffenbart habe. Im folgenden Mai konnte dann schon die neue Kirche des Orts unter großem Zulauf von nah und fern eingeweiht werden, und Norbert machte sich nach seiner Neigung wieder zur Wanderpredigt in die fernere Umgegend auf. Während seiner Abwesenheit reißt nun unter den Prämonstratensern ein Zustand ein, der uns an einem einzelnen Beispiel recht deutlich zeigt, wie das ganze Mönchswesen ein stetes Schwanken zwischen Reform und Verfall sein muß. Die elende Lebensweise verbunden mit der fortwährenden Anspannung zur übertriebenen Andacht brachte alle jene Reactionen der Nerven hervor, welche wir an Geisteskranken kennen: Melancholie, Größenwahn, Tobsucht. Die einen glaubten sich bedroht, verfolgt, die anderen hielten sich für Propheten und weissagten irre Dinge, wieder andere verfielen in Krämpfe und waren trotz Weihwasser und Exorcismen nicht zu beruhigen. Einen Überfiel in Folge der schlechten Ernährung gerade zur Fastenzeit ein unbezwinglicher Heißhunger -- als Norbert zurückkehrte fand er den Sünder mit einer höchst unnatürlichen Fettheit behaftet, und da er wohl sah, daß das nicht böser Wille, sondern das Werk des Teufels sei, trieb er durch ganz energisches Fasten den bösen Geist aus dem Unglüdlichen heraus. Natürlich, der Teufel war es, der alle diese schlimmen Anfälle verursacht hatte, dieser Widersacher, mit dem Norbert es schon manchesmal aufgenommen hatte und mit dem er sich geradezu in einem Fehdeverhältnisse dachte -- eine uns höchst eigenthümlich berührende Auffassung, die uns aber näher tritt, wenn wir deren Kehrseite in das Auge fassen, den Glauben an einen unmittelbaren Schutz und Beistand Gottes,

 

 

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der Norbert innerlichst und jeden Augenblick beseelte. Als er einmal in Nivelles eine Tobsüchtige mit Exorcismen quälte, ergriff diese ihn am Hals und drohte, ihn zu erwürgen. Norbert wehrte denen, die ihm helfen wollten, indem er rief: „wenn ihr die Macht von Gott gegeben wird, mag sie thun, was sie kann.“ Man wird über diesen bezeichnenden Ausdruck des Vertrauens auf ein persönliches Eingreifen Gottes nicht lächeln, wenn man sieht, wie dieses Vertrauen zu einer wunderbaren Macht in dem Bewußtsein eines Mannes wird, der sich in seinem ganzen Thun jederzeit im directen Einvernehmen mit einer Allmacht fühlt und weiß. Aus dieser Anschauung ist es zu erklären, daß Norbert sich befähigt hielt, Wunder zu verrichten; dieselbe ist es aber auch, die jene Opferfreudigkeit, jenen kühnen, selbstlosen Muth, welchen wir an ihm bewundern, in ihm erweckte und aufrecht hielt. Wir begreifen auch, daß jedes Wort, welches ein Abaelard gegen solche Anschauung sprach, ihn empfindlich berühren, daß die ganze Richtung dieses Dialektikers mit seiner anmaßenden Selbstgefälligkeit ihm zuwider sein mußte, und als Abaelard sich im Gebiete des, Norbert befreundeten, Grafen Theobald von Champagne niederließ und Schüler um sich sammelte, war es wohl natürlich, daß Norbert gegen ihn auftrat, wie sein Gesinnungsgenosse, Bernhard von Clairvaux es that.

 

Um dieselbe Zeit (1124) fand Norbert Gelegenheit gegen eine jener Ausartungen der apostolischen Secten einzuschreiten, welche wir schon vorhin besprachen und deren Hauptprincip Norbert ursprünglich nicht so ganz fern gestanden hatte: gegen die Häresie des Tanchelm in Antwerpen, eines Häretiker's, der die Autorität der Priester und die Feier des Abendmahls verwarf und mit großem Erfolg in der Stadt eine Art autonomer Theokratie eingeführt hatte. Norbert besetzte die dortige Michaeliskirche, die ihm übergeben wurde, mit Prämonstratensern und wußte von da aus die Ketzerei allmählich zu unterdrücken.

 

Schon hatte sich der Ruf des neuen Ordens weit und weiter verbreitet! Der Graf Gottfried von Kappenberg in Westfalen schenkte demselben drei Besitzungen zur Umwandelung in Klöster, darunter das herrliche Gut Kappenberg, und trat selbst trotz des

 

 

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heftigsten Widerspruchs seiner Familie und Dienstmannschaft nebst seinem Bruder in die Prämonstratenser-Congregation ein. Fast wäre diese erste hohansehnliche Errungenschaft unserem Norbert verderblich geworden, denn der Schwiegervater Gottfried's, Graf Friedrich von Arnsberg, war höchst entrüstet darüber, daß sein Eidam sich von dem Mönch, dem Shwindler, wie er ihn nannte, hatte beschwatzen lassen; er hatte sich selbst Hoffnung auf die kappenberg'shen Besizungen gemacht, an denen er, als einem Theile der Mitgift seiner Tochter, ein Anrecht zu haben behauptete, und quälte Gottfried fortwährend die Schenkung zu widerrufen. Als dieser aber auf keine Vorstellung und Drohung hören wollte, zog er mit einem Heer gegen das neueingerichtete Kloster Kappenberg, drohend, er wolle den Norbert, -- dieser hielt sich gerade dort auf -- sammt seinem Esel an den Mauern aufhängen, wenn er ihn erwische. An ein Entkommen war nicht zu denken. Norbert bereitete sich mit seiner Umgebung auf den Tod vor, sie nahmen bereits das Abendmahl, da traf die Kunde vom plötzlichen Tode des bösen Grafen ein und befreite die neue Stiftung von ihrem Bedränger.

 

Nicht lange darauf reiste Norbert nach Rom, um sich die Bestätigung des Ordens vom Papste zu holen.

 

Es war im Jahre 1126; eben war Lothar der Sachse auf den Thron gestiegen; um sich dem Drucke der bishöflichen Partei unter Führung des herrschsüchtigen Adalbert von Mainz, welchem Lothar die Wahl verdankte, zu entziehen, hatte der neue König sich direct mit dem Papst Honorius in Verbindung gesetzt. 1) Als Stütze gegen Adalbert's Partei brauchten Beide Männer, auf deren Treue sie sich verlassen konnten, -- der erzbischöfliche Stuhl von Magdeburg war gerade erledigt; in Rom hörte Norbert schon von der Absicht, ihn zum Erzbischof zu erheben. Und obwohl man nicht zweifeln kann, daß Norbert dies Amt nicht mit freudigem Herzen übernahm, wurde er doch bald nach seiner Rückehr am Hoftage zu Speyer zum Metropoliten von Magdeburg gewählt ein nach zwei verschiedenen Seiten unendlich folgenreiches Ereigniß

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1) Vergleiche meine Dissertation Lothar III. und das Wormser Concordat. Straßburg, 1874. Seite 16 ff.

 

 

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Die Bedeutung Norbert's als Reichsfürst darf ich hier nur andeuten, da sie der allgemeinen Geschichte angehört. Wir wissen, wie nahe Lothar ihm stand, wir wissen, daß Norbert im Bunde mit Bernhard von Clairvaux 1130 Innocenz' II. Anerkennung herbeiführte und dadurch die Umtriebe Adalbert's von Mainz vereitelte, wir kennen ihn als Erzkanzler des Kaisers in Italien und als dessen einflußreichsten Berather; aber noch wichtiger für die deutsche Geschichte ist die Erhebung Norbert's auf den magdeburger Bischofsstuhl geworden durch die Mission in den östlichen Elblanden, die sich daran knüpft. Leider wissen wir viel weniger von dieser Thätigkeit Norbert's und von seiner Diöcesanverwaltung überhaupt, als wir wünschen möchten.

 

Als der neue Erzbischof am Tage der feierlichen Nachwahl in Magdeburg einzog, so shlicht und demüthig, daß der Thürhüter am bishöflichen Palast ihn verkannte und ihn zurückweisen wollte, da dachte wohl Niemand, welch einen gestrengen Herrn man an dem Neugewählten haben sollte. Denn vom ersten Tage an drang Norbert mit rücksichtsloser Energie auf die Erfüllung aller Pflichten und Gebühren, die man ihm, dem Erzbischof schuldete. Das Magdeburger Bisthum war unter dem Vorgänger Rugger etwas heruntergekommen, viele Kirchengüter waren verschleudert worden; Norbert ruhte nicht, bis Alles wieder zusammengebracht oder vollgültig ersetzt war, wenn man ihm auch noch so viel Trotz und Haß entgegensetzte. Und nicht minder rücksichtslos griff er durch, wo es sich um die Aufrechterhaltung der kirchlichen Gebote handelte; so ist es wohl begreiflich, daß er, der Fremde, kein freudiges Entgegenkommen in Magdeburg finden konnte. Auch er selbst fühlte sich, wie es scheint, dort fremd, -- er entbehrte des vertrauten Kreises seiner Prämonstratenser. Natürlich war er auch nach seiner Trennung im engsten Zusammenhang mit Premontré geblieben. Hugo, der nebst Evermod bei ihm in Magdeburg weilte, empfahl er als seinen Nachfolger dorthin, ebenso gab er mehreren Töchterklöstern in Frankreich Vorsteher und bestimmte, daß jährlich eine Conventversammlung in Premontré zusammenkommen solle, um über das Beste des Ordens gemeinsam zu berathen. Aber es war

 

 

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ihm Bedürfniß, auch an seiner neuen Wirkungsstätte dem Orden Eingang zu verschaffen und er wünschte, das Stift Unserer Lieben Frauen in der Nähe des bischöflichen Palastes für seine Prämonstratenser zu erlangen. Dieser Wunsch stieß bei den Herren des Stiftes und bei der Norbert feindlichen Majorität des Domcapitels auf den heftigsten Widerstand, und da Norbert nicht davon abstehen wollte, steigerte sich die gegen ihn herrschende Erbitterung bis zu dem Grade, daß wiederholt Mordanfälle auf ihn gemacht wurden. Endlich gelang es ihm doch, mit Zustimmung Lothar's durch reichliche Entschädigung der Stiftsherrn das Marienkloster für seinen Zweck zu erwerben und damit den Grund zu der so folgenreichen Ausbreitung des Prämonstratenserordens in den sächsischen und slavischen Landen zu legen. Er selbst führte auch noch in Pöhlde am Harz seinen Orden ein und erlebte die Gründung von Gottesgnaden bei Kalbe, von St. Georgen bei Stade.

 

Wie weit und ob Norbert die alte Pflicht des Magdeburger Metropoliten, die Slavenmission, als seine Aufgabe angesehen habe, wissen wir nicht. Sein inniges Verhältniß zu Lothar, der so reges Interesse an dieser Mission nahm, seine ganze Stellung spricht dafür, und auch die Nachricht in der Biographie Otto's von Bamberg, des Pommernapostels, daß Norbert auf dessen Erfolge in seinem Sprengel eifersüchtig gewesen sei, kann als Bestätigung gelten. Jedenfalls scheint Norbert für diese Thätigkeit nicht viel Geschick besessen zu haben, denn es wird uns erzählt , daß er sich die Havelberger und Müriz-Wenden durch seine Strenge gänzlich entfremdet habe. Ob er bei der Einführung der Prämonstratenser in seine Diöcese die Mission planmäßig im Auge gehabt habe, läßt sich nicht entscheiden; aber die ganze Reihe überelbischer Klöster, welche in Anschluß an Norbert's Magdeburger Stiftung nach seinem Tode entstanden, ist für die Germanisirung, die Cultivirung dieser Länder von unendlicher Bedeutung gewesen und ist ja indirect jedenfalls ihm zu danken. Seine Vorliebe für das Mönchsthum und die strenge Verwaltung, welche mit derselben zusammenhing, machte ihn jedoch in Magdeburg bald so unbeliebt, daß es den wegen des Marienstiftes

 

 

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noch mit ihm verfeindeten Domherren im Jahre 1129 gelang, einen förmlichen Volksaufstand gegen ihn hervorzurufen. Als Norbert in der Nacht zum 30. Juni den Dom, der durch einen Frevel entheiligt war, von Neuem weihte -- bei Nacht, weil er schon Widerstand besorgen mußte -- drangen erregte Volksmengen heran, aufgehetzt durch das unsinnige Gerücht, der Erzbischof wolle die Reliquien entführen. Norbert, der in der Dunkelheit und dem Tumult seine Autorität nicht zur Geltung bringen konnte, wie er unerschrocken beabsichtigte, zog sich mit seinen Begleitern auf einen befestigten Thurm des Münsters zurück. Während er hier in üblicher Weise den Gedächtnißtag des Paulus mit Gebet und Gesängen feiern ließ, vermehrte sich unten die tobende Menge mehr und mehr. Als der Morgen graute, begann ein förmlicher Sturm mit Pfeilen und Steinen auf den Thurm, immer drohender wurde das Geschrei der Menge; „theid ut, theid ut!“ riefen sie dem Erzbischof mit seinen Mönchen zu. (Bis in die Zeilen des älteren Biographen ist der kernige plattdeutsche Ruf gedrungen und nimmt sich da inmitten des Lateinischen eigenthümlich aus.) Einige der Eifrigsten dringen hinauf, herein; ein Dienstmann des Erzbischofes, der ihnen entgegentritt, wird niedergestoßen, selbst der Erzbischof in vollem Ornat ist ihnen nicht mehr heilig, ein Hieb auf seine Schulter hätte ihn getödtet, wenn das Schwert nicht vor den Franzen seiner Mitra abgeglitten wäre, ohne ihn zu verwunden. Inzwischen haben seine Freunde sich unten bemüht, das Volk zu beruhigen, und endlich naht rettend der Burggraf, der höchste Polizeiherr der Stadt, das tumultuirende Volk auf den Rechtsweg zu verweisen. Norbert, voll frohen Dankgefühls über die kaum gehoffte Rettung, gönnte sich keine Rast, ehe er nicht -- ein echter Berufsheld -- die unterbrochene Messe im Dom zu Ende gebracht hatte. Doch mußte er vor der allgemeinen Aufregung eine Zeitlang die Stadt meiden und sah sich genöthigtl, den Bann über dieselbe zu verhängen, bis man ihm Genugthuung gab und ihn reumüthig zurückrief.

 

Immerhin wird man zugeben müssen, daß Norbert als Verwalter seiner Diöcese am wenigsten zu rühmen ist, zum Theil,

 

 

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weil er zu sehr Mönch war, zum Theil wohl darum, weil er sich den Reichspflichten mit so hingebender Sorge unterzog. Und wer wollte ihn deßhalb zu hart tadeln? Hat er doch am Ende sein Leben im Dienste des Reiches aufgeopfert, denn von der römischen Heerfahrt, die er mit Lothar unternahm, kehrte er als ein kranker Mann zurück, um nicht wieder der Gesundheit froh zu werden. Nah viermonatlichem Siechthum starb er zu Magdeburg im Juni 1134.

 

Ein reiches Leben ging hier zu Ende, reich in seiner Erscheinung wie in seiner Wirkung. Die mächtige religiöse Bewegung der Zeit, in der Norbert stand, hatte ihn mächtig ergriffen, und mit der ganzen Energie seines Wesens, mit Aufopferung allen materiellen Glückes hat er sich ihr hingegeben; aber er vermied es mit starker Besonnenheit sich weder zu charakterloser Skepsis, noch zu revolutionärem Fanatismus fortreißen zu lassen. Durch die Theilnahme der höchsten Glieder der Kirche, welche eben damals noch Kraft und sittlichen Ernst genug besaßen, um dieser Theilnahme fähig zu sein, glückte es ihm, die Form zu finden, welche dem religiösen Bedürfniß der Zeit mehr entsprach, als jene extremen, unreifen Formen. So ist es erklärlich, daß kaum 30 Jahre nach seinem Tode schon gegen 100 Prämonstratenserklöster entstanden sein konnten. Und als er auf den erzbischöflichen Stuhl erhoben worden, trat wohl in seiner Verwaltung der Mönch etwas einseitig hervor, aber in der Politik wußte er dieselbe Richtung echter, thatkräftiger Frömmigkeit zur Geltung zu bringen, welche gegenüber der egoistischen Weltlichkeit eines Adalbert von Mainz und dem unbrauchbaren Fanatismus eines Konrad von Salzburg der Regierung Lothar's jene wohlthuende Signatur weiser Mäßigung gegeben hat.

 

In der That, wenn es uns gelungen ist, den vielseitigen und doch durchaus einheitlichen Charakter dieses großen Mannes in seiner Eigenthümlichkeit zu begreifen, dann dürfen wir glauben dem inneren Geist jener bedeutenden Zeit einen Schritt näher gekommen zu sein.

 

 

 

Quelle:

Ernst Bernheim: Norbert von Prémontré und Magdeburg.

Historische Zeitschrift Bd. 35 München 1876. Druck und Verlag von R. Oldenbourg. S. 1-16

 

 

Rezension zu Franz Winter (1865): Die Prämonstratenser des 12. Jahrhunderts

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1561

 

Göttingische gelehrte Anzeigen

 unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften.

 40. Stück. 4. October 1865.

 

Die Prämonstratenser des zwölften Jahrhunderts und ihre Bedeutung für das nordöstliche Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Christianisirung und Germanisirung des Wendenlandes. Von Franz Winter, Prediger zu Schönebeck a. d. Elbe. Berlin, E. Schweigger’sche Hofbuchhandlung. 1865. 306 S. in Octav.

 

Auf dem an neuen Mönchsorden so fruchtbaren Boden Frankreichs von einem Deutschen gestiftet, fand der Prämonstratenserorden bald, zumal seit der Erhebung seines Stifters auf den erzbischöflichen Stuhl von Magdeburg, auch in Deutschland, und zwar besonders seinen nordöstlichen Marken, Eingang, gewann hier eine selbständige, von dem französischen Stammkloster nahezu unabhängige Gestaltung und übte auf die Germanisirung und Christianisirung der wendischen Lande zwischen Elbe und Oder einen weitreichenden Einfluss, wurde dann aber freilich bald durch die Concurrenz anderer Orden, erst der Cisterzienser dann der Bettelorden, in den Schatten gestellt. Eine dem jetzigen Stande

 

 

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1562 Gött. gel. Anz. 1865. Stück 40.

 

der Forschung entsprechende Geschichte des Ordensstifters wie seiner Stiftung und speciell ihres deutschen Zweiges ist bei der ungenügenden Beschaffenheit früherer Leistungen und bei dem reichen und interessanten Quellenmaterial, das uns jetzt für die Geschichte Norberts besonders im XIV. Band der Pertz’schen Monumente, für die Geschichte des deutschen Ordenszweigs auch in den neueren Forschungen zur wendischen und brandenburgischen Geschichte vorliegt, eine dankbare und dankenswerthe Arbeit, ausgiebig nicht blos für die Specialgeschichte einzelner Klöster und Bisthümer, sondern auch für die deutsche und allgemeine Kirchen- und Culturgeschichte im weitesten Umfange. Denn wir wissen nicht blos im Allgemeinen dass Norbert neben Bernhard wohl die bedeutendste kirchliche Persönlichkeit des 12. Jahrhunderts war, sondern wir haben nun auch erst aus der von Wilmans entdeckten und herausgegebenen Vita Norberti des Genaueren erfahren, welchen entscheidenden Einfluss er in einem wichtigen Moment, bei der Kaiserkrönung Lothars, auf die Gestaltung der Verhältnisse zwischen Kaiserthum und Papstthum geübt hat. Und seine Ordensstiftung ist ebenso merkwürdig nach der ihr zu Grunde liegenden Idee wie nach ihrer späteren praktischen Gestaltung. Wie die Congregation von Clugny die hochkirchlichen Reformbestrebungen des 11. Jahrh. fördert und repräsentirt, wie die Cisterzienser eine asketische Reform des in seinen kirchlichen Bestrebungen selbst hochmüthig und üppig gewordenen benedictinischen Mönchthums beabsichtigen: so tritt in Norbert zum erstenmal jene folgenreiche Verbindung eines asketischen Monachismus mit klerikaler Thätigkeit und hierarchischen Bestrebungen hervor, die dann

 

 

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freilich erst ein Jahrhundert später in den Bettelorden, und zwar bes. den Dominikanern, ihre weit energischere Verwirklichung gefunden hat. Nicht sowohl eine Reform des Mönchthums, als vielmehr eine monachisch-asketische Reform der vita canonica ist es ja, was Norbert will. Apostolische Armuth und apostolische Reisepredigt, dieselben zwei Ideen, von denen einerseits die Entstehung verschiedener Secten des 12. und 13. Jahrh., andererseits die Stiftung der zwei grossen Bettelorden ausgegangen ist, waren es auch die dem h. Norbert bei seinen ersten Versuchen zur Reform des kanonischen Lebens und dann bei seiner eignen Ordensstiftung vorschwebten. Wie die Bestrebungen Arnolds von Brixen, so sind auch diejenigen Norberts unmittelbar hervorgegangen aus den Ideen, die durch den Investiturstreit über das Verhältniss von Staat und Kirche angeregt worden sind: um beide auseinanderzusetzen, sollte der Klerus arm werden, und in seiner Armuth seiner Predigt- und Seelsorgerpflicht unter dem Volk desto eifriger und erfolgreicher nachkommen. Das war es was Arnold von Brescia wie Norbert und Dominicus wollten, und einen Augenblick hatte es ja geschienen, als ob das Papstthum selbst auf diese Ideen eingehen und durch Verzicht auf den weltlichen Besitz des Klerus den einfachsten Weg zur Lösung des Investiturstreits betreten wollte, – damals als Papst Paschalis 1110 dem K. Heinrich V. den Verzicht auf alle in der Hand der Kirche befindlichen Lehngüter anbot. Ebendamals war auch Norbert in Rom im Gefolge K. Heinrichs V. (s. Herimanni hist. rest. abb. Tornacensis Pertz XIV, 662) und wir haben allen Grund zu vermuthen, dass weit mehr dieser römische Aufenthalt i. J. 1111, als der legendenhafte Blitzstrahl

 

 

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1564 Gött. gel. Anz. 1865. Stück 38.

 

des Jahres 1115 den grossen Wendepunkt in Norberts Leben bildete. Er wandte sich vom Kaiser zum Papst, von dem lockern Leben eines Kölner Canonicus zur Askese und Reisepredigt. Aber wie Franciscus und Dominicus, so will auch Norbert mit seiner paupertas apostolica und seiner praedicatio apostolica nicht der antihierarchischen Opposition, sondern der Hebung der Hierarchie und des Papates dienen: er sucht immer aufs Neue die päpstliche Concession für seine Bestrebungen nach und findet diese auch um so bereitwilliger, je wichtiger die Dienste sind, die er dem Papstthum in seinen mancherlei Nöthen wider Gegenpäpste, Fürsten, Ketzer und Ungläubige leistet. Eine eigenthümliche Wendung nicht sowohl in seinen Ideen als vielmehr in deren Verwirklichung war es dann aber, als er von Papst und Kaiser gemeinsam dazu ersehen wurde, einen der schwierigsten deutschen Bischofsstühle unter den schwierigsten Verhältnissen zu besteigen. Verbindung von Clerikat und Monachat, volksthümlicher Predigtthätigkeit mit apostolischer Armuth und Einfachheit, von cluniacensischer Hochkirchlichkeit mit cisterziensischer Askese war es, was man in einem Lande brauchte, wo die kirchliche Organisation in ihren ersten Anfängen und doch durch heidnische Angriffe, durch Eingriffe des weltlichen Arms und durch Ueppigkeit der Geistlichen schon halb wieder im Zustand der Auflösung war. Wo wie in Magdeburg die Jahreseinkünfte des Erzbisthums nur für 4 Monate reichten, oder wie in Brandenburg und Havelberg die Bischöfe, von den heidnischen Wenden vertrieben, meist ausserhalb ihrer Sitze und Sprengel leben mussten: da schien es angezeigt, Domstifte und Bisthümer mit einem Orden zu besetzen, der

 

 

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wie die regulirten Chorherrn des h. Norbert die Vorzüge des Clerikats und Monachats in sich vereinigte und der zugleich in seiner festen Organisation und seiner schmiegsamen Unterordnung unter geistliche und weltliche Obergewalt den Päpsten, Kaisern und Landesherrn die erwünschtesten Garantien bot. So erklärt sich die eigenthümliche Erscheinung, die bei keinem der andern mittelalterlichen Orden vorkommt, dass die Prämonstratenser mehrere Menschenalter hindurch der ausschliesslich dominirende Orden in den Wendenlanden zwischen Elbe und Oder waren (bis zum Jahre 1170 gab es jenseits der Elbe nur Prämonstratenser-Klöster S. 2) und dass noch weit längere Zeit hindurch drei bischöfliche Stühle (Brandenburg, Havelberg, Ratzeburg) eine Domäne des Ordens wurden. Aber freilich war es nun auch mit der paupertas apostolica wie mit der praedicatio evangelica zu Ende: die in Frankreich und Westdeutschland früher mit so grosser Begeisterung aufgenommenen Volkspredigten Norberts scheinen bei den Magdeburgern wie bei den Wenden der Mark wenig Anklang gefunden zu haben; ja vielmehr ganz verstummt zu sein, und die fast übermenschliche Strenge prämonstratensischer Askese machte bald einem bequemen Wohlleben Platz. Auch die gefährliche Keuschheitsprobe, die Norbert wohl in Nachahmung der altchristlichen Asketen in seinen Klöstern durch das Zusammenwohnen von Männern und Frauen einführte, scheint sich bald aus mehr als einem Grunde als unpraktisch erwiesen zu haben, da man fand, „dass die Nichtswürdigkeit der Weiber alle Nichtswürdigkeiten übertrifft, die es in der Welt giebt, und dass das Gift von Schlangen und Drachen für den Menschen eher heilbar und erträglicher ist als

 

 

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1566 Gött. gel. Anz. 1865. Stück 40.

 

Verkehr mit Weibern“ (S. 283). Aber nicht blos seine mulieres inclusas gab der Prämonstratenser-Orden jetzt meist an Cisterzienser-Nonnenklöster ab; sondern er überliess jetzt überhaupt diesem, von Anfang an so nahe mit ihm befreundeten, und innerlich verwandten Orden die Beherrschung des religiösen Volkslebens und die Arbeit für die Cultur des Bodens. „Als bei den Prämonstr. die Begeisterung für die Grösse ihres Ordens schwand, als sie mit liebenswürdiger Selbstlosigkeit (oder vielmehr mit selbstgenügsamer Liebe zur Bequemlichkeit und zum Wohlleben) den Cisterziensern das Feld überliessen, da war es mit ihrer Bedeutung für das Wendenland vorbei. Die Weiterentwicklung der kirchlichen Verhältnisse knüpft sich von nun an an die Geschichte der Cisterzienser“ (S. 294).

 

Der Verfasser vorliegender Schrift behandelt — nach einer einleitenden Uebersicht über die Stiftungen des Ordens im nordöstlichen Deutschland (S. 1—6) — seinen Gegenstand in sechs Abschnitten: I. Der Ordensstifter S. 7—48. II. Die Ordensschüler S. 49—76. III. Die Ordens-Gönner S. 77—100. IV. Die Ordensklöster: Gottesgnaden, Marienkloster in Magdeburg, Leitzkau, Domstift Brandenburg, Jerichow, Domstift Havelberg, Domstift Ratzeburg, Grobe (Usedom), Broda (Neu Brandenburg), Gramzow, Belbog, Gottesstadt, Domstift Riga S. 101— 227. V. Die Ordens-Organisation S. 228— 251. VI. Der Ordens-Verfall S. 252 —293. Am wenigsten gelungen ist der erste Abschnitt, wo der Verf. nicht sowohl eine objectiv quellenmässige Geschichtserzählung, als vielmehr einen rhetorisch gehaltenen Apologeticus und Panegyrikus seines Helden und Heiligen gibt, der zwar erst 1582 heilig gesprochen wurde, „aber in der Tradition

 

 

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der Prämonstratenser und der Völker des nordöstlichen Deutschlands schon im 12. Jahrh. als heilig galt“, denn — so fügt der Verf. mit einem Grundsatz von freilich sehr zweifelhafter Richtigkeit hinzu — „die Sage von Wundern, die im Munde des Volks einem Mann zugetheilt werden, sind eine populäre Heiligsprechung“ (S. 10). Besonders sind es die Vorwürfe des Ehrgeizes, der Härte und Herrschsucht, welche zum Theil schon von Zeitgenossen dem h. Norbert gemacht wurden, und wogegen ihn der Verf. zu rechtfertigen sucht, wobei er „von vorn herein die Ansicht als eine psychologisch und christlich rohe zurückweist, die einem Manne von Norberts Art in erster Linie Ehrgeiz, Härte und Herrschsucht zuschreibt“ (S. 15). Keinem Kundigen wird das einfallen, aber Keinem wird es auch gelingen, die Züge von schroffem, unlauterem, herrischem und hochfahrendem Wesen wegzuleugnen, welche unter dem weissen Demuthsmantel des erzbischöflichen Asketen und unter den lobpreisenden Schilderungen seiner alten und neuen Biographen doch unverkennbar durchscheinen. Und ebendarum können wir uns auch nichts Verfehlteres denken, als mit dem Verf. (S. 15 und öfter) in dem h. Norbert „den Luther des zwölften Jahrhunderts“ sehen zu wollen. Der auch im Mönchsgewand hocharistokratische Norbert, der nach einer in Reichthum, Lust und Ueppigkeit verbrachten Jugend plötzlich in einen unnatürlich strengen Asketen und Hochkirchenmann umschlägt, der barfuss umherziehende Reiseprediger und Kezerbekehrer, der devote Diener des Papstes, der Erzbischof, der am liebsten seine ganze Diöcese ins prämonstratensische Mönchsgewand stecken möchte; der nächtlicherweise seine Kirche weiht, weil man es ihn

 

 

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Tags nicht thun lässt, nur um sie seinem Orden in die Hände zu spielen; der den armen Mürizwenden zwar nicht das Evangelium predigt, aber ein drückendes Joch der Knechtschaft auflegt, und in kleinlicher Eifersucht auch Andern wie dem Bischof Otto von Bamberg das Predigen wehren will; der die Gregorianischen Cölibatgesetze mit Härte durchführt, aber in seinen Ordensklöstern die Syneisaktenschwärmerei duldet,— wo ist da das tertium comparationis mit Luther, dem volksthümlichen Gottesmann und evangelischen Volksmann, dem das Augustinerkloster, in das ihn die Seelenangst treibt, nur der Durchgangspunkt wird zu evangelischer Freiheit und zu einer christlich und ethisch gesunden Welt- und Lebensanschauung?

 

So wenig wir aber hier und anderwärts mit einzelnen Behauptungen und Auffassungen des Verf. einverstanden sein können: so verkennen wir darum doch keineswegs das Verdienstliche seiner Arbeit im Ganzen und insbesondere die Fülle interessanten und theilweise neuen Materials, das er in den folgenden Abschnitten über die Ordensschüler, Ordensklöster und die Organisation beigebracht hat. Ist es auch ein stark hyperbolischer Ausdruck eines späteren Biographen, „dass seit der Apostel Zeiten kein Mensch mehr Seelen für das Reich Gottes gewonnen, und dass Niemand mehr Einfluss auf das innere Leben des Volks in seiner Umgebung ausgeübt habe“ als Norbert, immerhin ist es doch ein characteristischer Beweis dafür, welche mächtige Resonanz Norberts Tendenzen im Bewusstsein seiner Zeit fanden, dass er in der kurzen Zeit seines Lebens und Wirkens doch eine Reihe von Schülern für seinen Orden gewonnen hat, die, zum Theil offenbar geistig begabter und

 

 

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wissenschaftlich durchgebildeter als er selbst, mit glühendem Eifer und Hingebung in seine Bahnen eingiengen. Es wiederholt sich bei Norbert die Erfahrung die wir an so vielen Ordensstiftern machen, von dem h. Antonius an bis herab auf Ignatius von Loyola, dass wir die eigentlich organisatorischen Talente nicht in den Ordensstiftern, sondern erst unter ihren Schülern und Nachfolgern zu suchen haben. So scheint in Prémontré selbst nicht Norbert, sondern sein Schüler und Freund Hugo des Fossées, der erste Generalabt, es gewesen zu sein, dem der Orden seine Organisation zu danken hatte; und in Deutschland waren es Männer wie Anselm von Havelberg, Evermod Propst von Gottesgnaden und zuletzt Bischof von Ratzeburg, Wiggers Propst des Marienklosters in Magdeburg und später Bischof von Brandenburg, Isfried Propst von Jerichow und Bischof von Ratzeburg, und manche Andere, die zwar an Originalität und Energie des Willens hinter Norbert zurückstehen, aber theils an geschäftlicher Gewandtheit und praktischem Tact theils auch an theologischer Gelehrsamkeit ihm überlegen waren. Letzteres gilt besonders von Norberts Schüler Bischof Anselm von Havelberg, wohl dem berühmtesten Mitgliede des Ordens, bekannt durch seine kirchenpolitische Thätigkeit unter drei Kaisern, Lothar, Conrad und Friedrich, durch seine zweimalige Gesandtschaftsreise nach Constantinopel und seine dortigen Unionsverhandlungen, sowie durch seine schliessliche Erhebung auf den Patriarchenstuhl zu Ravenna ( 12. Aug. 1158 im kaiserlichen Lager vor Mailand). Ausführliche Nachrichten über sein Leben und seine Schriften haben früher Riedel in Ledebur’s Archiv VIII, 97, Spieker in der Illgen’schen Zeitschr. Bd. X. 2, 1ff.

 

 

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sowie in seiner Kirchen- und Reformations-Geschichte der Mark Brandenburg Bd. I, cap. 7 gegeben; der Verf. handelt von ihm S. 56 ff. 157 ff. und in einem besondern Excurs S. 299 ff., ohne jedoch auf seine theologische Bedeutung näher einzugehen. Auch in mehreren der andern Schüler Norberts, besonders in Evermod und Isfried lernen wir bedeutende und in ihren Kreisen einflussreiche Persönlichkeiten kennen; aber bereits in der dritten Generation tritt unverkennbar ein Nachlass an geistiger Kraft und Begeisterung für die Ordenszwecke ein. — Unter den Ordensgönnern werden zuvörderst Kaiser Lothar und Papst Innocenz II. genannt, die freilich von Norbert noch mehr Dienste empfiengen als sie ihm und seinem Orden leisteten: gerade aber das wichtigste Factum aus Norberts kirchenpolitischer Thätigkeit, sein Auftreten bei Lothars Kaiserkrönung im Juni 1133 in Sachen der Investitur und Kirchenfreiheit (Vita Norberti bei Pertz Scr. Bd. XII, S. 702) ist von dem Vf. ganz und gar übergangen, und deshalb weiss er auch nicht, dass Papst Innocenz II. dem deutschen Reichskanzler noch für Weiteres zu danken hatte als für seine Unterstützung gegen den Gegenpapst Anaklet. Dass Lothar selbst bei dem Leichenbegängnisse Norberts anwesend gewesen, wie der Verf. mit Jaffé vermuthet, ist nicht wahrscheinlich, da es sonst doch wohl sicher von den Quellen bezeugt wäre: hier wie anderwärts hätte der Verf. wohlgethan, nicht durch allzuviele Vermuthungen die schweigenden Quellen zum Reden bringen zu wollen (vgl. z. B. die nur auf „Schlüssen“ d. h. auf höchst unbestimmten Vermuthungen beruhende Erzählung von einem Kriegszuge Norberts mit Lothar und

 

 

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seiner angeblichen Missionsthätigkeit unter den Wenden S. 28. 297).

 

Der ausführlichste und für die Lokalkirchengeschichte des nordöstlichen Deutschlands wichtigste Abschnitt des Werks ist der vierte, über die Ordensklöster. Ein näheres Eingehen in das reichhaltige Detail würde uns hier zu weit führen: die Prüfung wie die Verwerthung desselben muss den Kennern der Provinzialgeschichte von Brandenburg, Sachsen, Pommern u. s. w. überlassen bleiben. Von allgemeinerem Interesse sind dagegen wieder die zwei letzten Abschnitte, welche die Ordensorganisation und den Ordensverfall behandeln, so besonders der genauere, theilweise durch neue Urkunden documentirte Nachweis über die selbständige Stellung, welche die sächsische Ordensprovinz in dem Gesammtorden und gegenüber von dem Generalabt des Stammklosters Prémontré einnahm. Es war nicht die Entfernung von Prémontré die das verursachte; denn andere noch entferntere Stiftungen wie die böhmischen, ungarischen genossen niemals derselben Selbständigkeit. Es hatte diese exceptionelle Stellung der Magdeburger Abtheilung ihren Grund vielmehr zunächst in ihrem eigenthümlichen Verhältniss zu dem Ordensstifter und zu dem von diesem selbst gegründeten Marienkloster in Magdeburg, das als das Prémontré Norddeutschlands bezeichnet werden kann (S. 229) und dessen Propst fortwährend das Haupt der ganzen „sächsischen Circarie“ blieb. Einzelne der von Magdeburg aus gegründeten Klöster machten sich allerdings später von dem deutschen Mutterkloster los und fanden es zuträglicher, dem ferneren französischen Stammkloster sich unmittelbar anzuschliessen, so z. B. Arnstein, Vestra,

 

 

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Ilfeld, Grobe (S. 233 ff.). Dagegen suchten jetzt die Magdeburger Pröpste einerseits ihre Hoheitsrechte über die sächsischen Klöster durch päpstliche Bestätigung sicher zu stellen (1188 ff.), andrerseits die Verbindung mit Prémontré mehr und mehr zu lösen durch Nichtbeschickung oder doch seltene Beschickung des dortigen Generalcapitels, auch durch Abweichungen in der Liturgie und der Ordenstracht, durch Einführung eines eignen Generalcapitels und Aufstellung eigner Diffinitoren. So wurde die sächsische Circarie in der That ein Orden im Orden und stand dem von Prémontré schliesslich fast wie einem gesonderten Orden gegenüber (S. 248). Allein Hand in Hand mit dieser Ablösung geht nun auch das Sinken und die immer stärker hervortretende innere Auflösung des Ordens, wovon der letzte Abschnitt handelt. Nur bis zum Jahr 1170 rechnet der Verf. die Blüthezeit des Ordens; bereits ein Erkalten des ersten Feuers sieht er in der Zeit von 1170—1200. Auch im 13. Jahrh. ist noch nicht alles innere Leben verschwunden, aber die Zeichen der Erschlaffung, der Gleichgültigkeit treten hervor: die äussere Form bleibt, das innere Leben entweicht. Im 14. Jahrh. ward selbst die äussere Form, das Gefäss der Ordensregel durchbrochen. Im 15. Jahrh. ist der Orden ausser Rand und Band. Im 16. endlich wenden sich die besseren Elemente (z.B. Bugenhagen aus Belbog, der Propst von Leitzkau u. A.) der Reformation zu. So fasst der Verf. S. 253 flg. die fernere Geschichte des norddeutschen Ordenszweigs zusammen: die Gründe und Zeichen des Verfalls werden dann im Folgenden weiter dargelegt (S. 255—293).

 

Den Schluss des Ganzen bilden zwei Anhänge, wovon der erste 17 einzelne Exkurse,

 

 

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der zweite 19 zum Theil ungedruckte oder doch nicht vollständig gedruckte Quellen und Urkunden enthält. Darunter ist besonders ein Chronicon Gratiae Dei, verfasst wie der Verf. glaubt zwischen 1190 und 95 von dem Propst Günther von Gottesgnaden bei Calbe, abgedruckt aus einer im 16. Jahrh. gefertigten Abschrift im Provinzial-Archiv in Magdeburg. Nach der Vermuthung des Verf. scheint darin ein uns unbekanntes Leben Norberts benutzt zu sein; mit dem Chronicon Magdeb. stimmt es zum Theil wörtlich überein. Dann folgen noch Bruchstücke aus einer Vita Ludovici de Arnstein, Urkunden btr. Leitzkau, Jerichow, das Marienkloster in Magdeburg, Verleihung bischöflicher Abzeichen an den Propst von Magdeburg, Ueberweisung der in Gottesgnaden befindlichen Schwestern an das Laurentiuskloster in Neustadt Magdeburg, Bestimmung der dem Propst von Magdeburg unterworfenen Klöster, endlich die Statuten der Magdeburger Prämonstratenser Congregation (vom 6. Juni 1424).

Wagenmann.

 

 

 

 

Quelle:

Wagenmann: Rezension zu Franz Winters Buch „Die Prämonstratenser des zwölften Jahrhunderts und ihre Bedeutung für das nordöstliche Deutschland. Ein Beitrag zur Geschichte der Christianisirung und Germanisirung des Wendenlandes. Berlin, E. Schweigger’sche Hofbuchhandlung. 1865.“

in Göttingische gelehrte Anzeigen 40. Stück. 4. October 1865.

 

Diese Rezension ist einsehbar im digiPress der Bayerischen Staatsbibliothek unter dem Link:

 

https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb10538776_00163_u001/1