Puttrich 1836: Kurzer Abriss der Geschichte des Stiftes und der Kirchen und Klöster zu Merseburg.

 

Ueber die Erbauung der Stadt Merseburg haben die Chronisten, selbst der älteste derselben, der dasige Bischoff Dithmar (welcher von 1008 bis 1018 diese Würde begleitete und seine Chronik schrieb), manche Nachrichten aufgezeichnet, welche jedoch die historische Kritik nicht überall für richtig anerkennen kann. Sie geben an, diese Stadt sey eine römische Colonie 1); K. Karl der Grosse habe dieselbe, nachdem er sie von den Sachsen erobert hatte und ihre Mauern verfallen waren, wieder erneuert, auch die Kirche St. Johannes des Evangelisten gebaut und dabei Canonici eingesetzt, (diese Kirche soll da, wo jetzt im neuen Schlosse die Hofstuben sich befinden, gestanden haben, und der Schlosshof soll der Kirchhof gewesen seyn 2); K. Heinrich I. habe die Stadt nach deren Zerstörung durch die Ungarn wiederhergestellt, mit Mauern befestigt, auch die Kirche St. Johannes des Evangelisten neu gebaut und am 14. Kal. Junii 922 consecriren lassen 3); K. Otto I. endlich habe die Stadt erweitern und mit Mauern befestigen, Bischoff Eckhardt aber die Mauern 1181 nochmals verbessern lassen 4).

 

Was nun diejenigen Kirchen zu Merseburg, welche sich durch ihren Baustyl auszeichnen und die entweder ganz oder in einzelnen Theilen hier in Abbildungen dargestellt worden sind, nämlich den

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1) Dithmari episc. Merseb. Chron. ed. Wagner, 1807 4. drückt sich pag. 13 so aus: Antiquum opus Romanorum muro rex praedictus (Henricus I.) in Merseburg decoravit lapideo, et infra eandem ecclesiam, quae nunc mater est aliarum, de lapidibus construi, et XIV. Kal. Junii praecepit dedicari (922).

2) Brotuff, Chronica des Stifts etc. Marsburg, 1557., fol. Dieser Chronikenschreiber und der weiter unten citirte Vulpius verdienen weniger Glauben über Thatsachen, welche sich in früherer Zeit zugetragen haben. Nur über das, was sie aus der Zeit, wo sie lebten, berichtet haben, können sie füglich als Quelle angezogen werden.

3) Dithmar, a. a. O.

4) Brotuff, a. a. O.

 

 

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Dom, die Neumarkts-, die Sixt- und die Peters-Kirche (und die damit verbundenen Stifte und Klöster) betrifft, so ist über ihre Erbauungsgeschichte Folgendes bekannt.

 

1) Das Domstift Merseburg gründete K. Otto I. im J. 968. Die Veranlassung dazu war nach Dithmar 1) ein Gelübde, welches derselbe am Tage des h. Laurentius 955 vor der Schlacht mit den Ungarn am Lech gethan hatte, dass er in Merseburg ein Bisthum zu Ehren des gedachten Heiligen errichten und das von ihm neuerlich erbaute grosse Haus (Palast) in eine Kirche verwandeln wolle, sobald ihm der Heiland Sieg und Leben an diesem Tage schenken würde. — Daher wurde auch von ihm der heil. Laurentius neben dem heil. Johannes, dem die früher hier gestandene Kirche geweiht war, zu Schutzpatronen des Stiftes bestimmt. 2) Die Errichtung eines Stiftes an dasigem Orte aber war schon früher von K. Heinrich I. beabsichtigt worden, um unter den Sorben-Wenden die christliche Religion zu verbreiten, wie denn überhaupt der eigentliche Zweck derartiger Stiftungen damals war, dass sie als Schulen zur Ausbreitung des Christenthumes unter den Heiden dienen sollten. — Bis zum Jahre 968 hatte K. Otto I. alle zur Errichtung des Stiftes nöthigen Einrichtungen getroffen. Im folgenden Jahre erfolgte die Weihung des ersten dasigen Bischoffs Boso, durch den Erzbischoff Adalbert von Magdeburg. Boso, welcher in den östlichen Gegenden eine Menge Heiden zur christlichen Religion bekehrt hatte, stand bei K. Otto I. deshalb in grosser Gunst, und dieser liess ihm die Wahl unter den drei neugestifteten Bisthümern zu Meissen, Merseburg und Zeitz; Boso wählte Merseburg als den ruhigsten Bischoffssitz 3). Otto soll dem Stifte zugleich das Wappen, ein schwarzes Kreuz in rothem Felde, verliehen haben 4); allein dies scheint nicht richtig, da die Verleihung von dergleichen Wappen erst später eingeführt worden seyn mag. — Otto stattete das Stift bei seiner Errichtung schon reichlich aus, aber seine Verwandten und seine T'hronfolger fügten noch mehr hinzu. So schenkte unter andern seine Schwiegertochter Ida der Kirche die Stadt Rochlitz 5), K. Otto II. die Abtei Pölden, ferner Zwenkau 6), besonders ‚einen Forst in dieser Gegend zwischen der Saale und Mulde 7), welcher aber vom Bischoff Giselar an den Markgrafen Eckhardt gegen einen bei Sumeringen

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1) pag. 25. „Postero die, id est in festivitate Christi martiris Laurentii, Rex solum se prae caeteris culpabilem Deo professus atque prostratus, hoc fecit lacrimis votum profusis, si Christus dignaretur sibi eodem die tanti intercessione praeconis dare victoriam et vitam, ut in civitate Merseburgensi episcopatum in honorem victoris ignium construere, domumgque suimet magnam noviter inceptam sibi ad eclesiam vellet aedificare.“ Man vergleiche die Bulle Papst Johannes XIII. über die Bestätigung der Bisthümer zu Merseburg, Zeitz und Meissen, welche sämmtlich dem Erzbisthum zu Magdeburg unterworfen wurden, in der von Berbisdorf’schen Sammlung von Abschriften sämmtlicher beim Domcapitel zu Merseburg vorhandenen Original-Urkunden, Mscr. T. I. Nr. 3. — auch in Leuckfeld, Antt. Halberst. pag. 646, — in Martene et Durand, Coll. pag. 317, — in Mabillon, Sec. V. Benedict, pag 575.

2) Der Restaurations-Brief K. Heimrich’s II. nennt auch den heil. Romanus als dritten Schutzpatron. S. in der v. Berbisdorf’schen Urkunden-Sammlung, T. II. Nr. 4. abgedr. in Boysen’s hist. Magazin. 1stes Stück.

3) Dithmar, Chron. pag. 98 — Chron. Episcopp. Mersebb. in Ludwig Religg. Mscr. T. IV. pag. 333. — Brotuff, Chronica pag. LIV.

4) Georg Möbius, neue Merseburgische Chronica; zusammengetragen. etc. Ao. 1668. Mscr. in fol. 562 Seiten enth. (im Besitz des H. v. Posern-Klett in Leipzig), Seite 196.

5) Dithmar, Chron. pag. 242.

6) Die Schenkungs-Urkunde steht in der v. Berbisdorf'schen Sammlung. Mscr. T. I. Nr. 7.

7) Die Schenkungs-Urkunde s. ebendas. T. I. Nr. 8. abgedr. in Wideburg tr. de pagg. Misn. pag. 148.

 

 

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gelegenen Forst vertauscht, und erst im J. 1017 nach einer Entscheidung des K. Heinrich's II. dem Stifte zu Merseburg wiedererstattet wurde 1), sodann Kohren, Nerchau, Pötsche (oder vielleicht Bausitz) Brandis (oder Bornitz, oder Portitz.) 2). Allein gegen Ende der Regierung K. Otto’s II. traf das Bisthum Merseburg ein um so härterer Schlag. Papst Benedict VII. erliess nämlich auf Veranlassung des Bischoffs Hildeward von Halberstadt, und vorzüglich auf Antrieb des im J. 982 auf den erzbischöfflichen Stuhl zu Magdeburg beförderten Merseburger Bishoffs Giselar, drei Bullen in den Jahren 981 und 983 3), worin er dieses Bisthum (unter dem Vorwande, dass K. Otto die Errichtung desselben ohne vorherige Einwilligung des Bischofs Hildeward, unter dessen Diöces Merseburg ursprünglich gelegen war, veranstaltet habe,) gänzlich anullirte und den grössten Theil desselben dem Erzbisthume Magdeburg, den Ueberrest den Bisthümern Zeitz und Meissen überliess, in Merseburg aber einen Abt einsetzte. — Dagegen machte sich K. Heinrich I. um das dasige Stift vorzüglich verdient, daher ihn auch sein Zeitgenosse, Bischoff Dithmar, mit den grössten Lobeserhebungen und zuletzt in dichterischer Begeisterung preist 4). Heinrich scheint schon im Anfange seiner Regierung, als er nach seiner im Juni 1002 zu Mainz stattgefundenen Krönung nach Merseburg gekommen war, und dort von den daselbst versammelten sächsischen Fürsten, Bischöffen etc. die Huldigung empfangen hatte 5), die Wiederherstellung des dasigen Bisthumes versucht zu haben. Allein Giselar wusste durch allerhand Ränke dieses bis zu seinem im Jahre 1004 erfolgten Tode zu hintertreiben und die Rückgabe der dazu gehörigen Besitzungen, welche er an sich gebracht hatte, hinauszuschieben. Nach Giselar’s Tode stellte K. Heinrich II. durch eine unterm 5ten März 1004 zu Walhausen ausgefertigte Urkunde das Bisthum wieder her und ernannte seinen Kaplan Wigbert zum Bischoff, bestätigte auch dem Stifte alle seine älteren Gerechtsame, sogar diejenigen, welche davon entfremdet worden waren 6). "Auch der neue Erzbischoff

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1) Dithmar, Chron. pag. 258.

2) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 337.

3) In der v. Berbisdorf’schen Sammlung Mscr. T. I. Nr. 10. 11. 12. abgedr. in Sagittarii Hist. Ducat. Magdeb. in Boysen’s allg. hist. Magazin 1. St. pag. 197. 202. — Nr. 10., in Dreyhaupt Beschr. d. Saalkr. T. I. pag. 21. — Vergl. Chron. Episcc. Mersebb. pag. 341.

4) Chron. pag. 198. Jure laudandus est a nobis, qui multum profuit nobis munere et gratia aeterni regis. Heinricus etenim Rex ecclesiam adauxit nostram multis utilitatibus, inprimis divino apparatu, et de omnibus curtibus, quas in Thuringia et Saxonia habuit, duas nobis tradidit familias. Evangelium auro et tabula ornatum eburnea, et calicem aureum atque gemmatum cum patina et fistula (Trinkröhrchen, indem die Communion damals noch in beiderlei Gestalt gereicht worden zu seyn scheint) cruces duas et ampullas ex argento factas et magnum calicem ex eodem metallo cum patina et fistula dedit. Quicquid in praediis ab antecessoribus meis neglectum erat, praecepto renovarat.

Quem laudant superi, veneremur nos quoque servi,

Promentes dignas nostris ex cordibus odas etc.

5) Dithmar, Chron, pag. 118. — Annal. Saxo pag. 384.

6) Der Restaurations-Brief Heinrich’s II. steht in der Berbisdorf’schen Urkunden-Sammlung: T. II. Nr. 4 — Drei andere Urkunden Heinrich’s von derselben Zeit, worin er dem Stifte mehrere unter Giselar davon entfremdete Besitzungen zurückgiebt, dem Erzbisthume Magdeburg auch einige Entschädigung für die Abtrennung des Stiftes von demselben gewährt, s. ebendas. Nr. 2. 3. 5. abgedr. in Boysen’s hist. Magazin, 1tes Stück; — in Leukfeld, de Bract. Mersebb. pag. 27; — in Strauss, D, de Rudolpho Suev.

Stiftes von demselben gewährt, s, ebendas. Nr. 2. 3. 5. abgedr. in Boysen’s hist, Magazin, 1tes Stück; -— in Leukfeld, de Bract. Mersebb. pag. 27; — in Sirauss, D, de ag Suev.

 

 

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von Magdeburg, Gero, wirkte zur Wiederaufhülfe des Stiftes mit. Er ertheilte unter andern am 25ten October 1015 bei einer Zusammenkunft, die er mit Bischoff Dithmar (unserem Chronisten) zu Mukrehna (oder Möckern oder Machern) veranstaltet hatte, dem Letztern die geistliche Gerichtsbarkeit über die vier Städte Schkeuditz, Taucha, Büchen und Wurzen. — Heinrich bestätigte ferner am 22ten Februar 1017 die Abtretung des am westlichen Ufer der Mulde gelegenen geistlichen Sprengels von Seiten des Bisthumes Meissen an das Bisthum zu Merseburg, wogegen aber letzteres an das erstere den gegen Morgen an der Mulde gelegenen Sprengel überlassen musste, (worüber sich Dithmar bitter beklagt). Im October desselben Jahres schenkte Heinrich bei seiner Anwesenheit zu Merseburg der dasigen (wie wir unten sehen werden) neuerbauten Domkirche drei Tapeten über die Rücklehnen der Domherrenstühle im hohen Chore, und eine silberne Kanne, befahl auch, dass zur Zierde der Kirche ein neuer goldener Altar (eine Altartafel) verfertigt werde, wozu Bischoff Dithmar selbst aus den Einkünften des alten Altares 6 Pfund Gold schenkte 1). Diese Altartafel, welche ausser dem Goldwerthe gewiss auch von grossem Interesse für die Kunstgeschichte seyn würde, ist 1574 von Veit von Pappenheim und Friedrich von Thune, Heerführern des Kurfürsten Johann Friedrich, zerbrochen und weggenommen worden 2). Zur Zeit Bischoff Dithmar's wurde auch die bereits von dessen Vorfahren gesammelte Bibliothek des Stiftes sehr vermehrt, wie denn derselbe auch Reliquien und andere vortheilhafte Besitzungen an Feldgütern und Dienstleuten dem Stifte verschaffte. Dies Alles hat Dithmar in seinem Kirchenkalender (Martyrologium) genau aufgezeichnet, wie er uns berichtet 3). K. Heinrich II. schenkte ferner der neuerbauten Domkirche 1015 zwei Glocken, welche zu Brotuff’s Zeiten noch vorhanden waren 4), und 1017 dem Bisthum drei Kirchen in Leipzig, Oschatz (oder Oetzsch) und Geusau 5). — Hier muss auch der (angeblich) von K. Heinrich II. an das Bisthum Merseburg erfolgten Schenkung der Stadt Leipzig mit ihren Zubehörungen erwähnt werden. Sie stützt sich auf eine Urkunde (8. Non. Octobr. 1021 Act. Merseburghe.), deren Unächtheit schon ihr Aeusseres, unter andern aber auch der Umstand darthun möchte, dass darin Dithmar’s als Bischoffs erwähnt wird, welcher doch bereits 1018 gestorben war 6). Diese Urkunde und die darin ausgesprochene Schenkung hat jedoch später immer als ächt gegolten, wie dies aus der unten angeführten

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1) Dithmar, Chron. pag. 136. 214.

2) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 476. 479. — Brotuff, Chron. pag. LXIV.,— Vulpius, Megalurgia Martisb. 1700. 4. pag. 26.

3) Dithmar, Chron. pag. 254.

4) Brotuff, Chron. pag. LVI.

5) Dithmar, Chron. pag. 240. Die Schenkungsurkunde über letztern Ort steht in Wideburg, tr. de pagis vet. Misniae pag. 142. — Die Urkunden über diese und mehrere andere Schenkungen und Bestätigungen s. in der v. Berbisdorf’schen Urkundensammlung Mscr. T. I. Nr. 6. 7. 8. 9. 11. 13.

6) Unum Opidum Lyptzk nominatum, situm inter alestram, plisnam et pardam fluuios, cum omnibus pertinentiis suis, terris, cultis et incultis, agris, areis, edificiis, siluis, venationibus, aquis, aquarumque decursibus, piscationibus, molendinis etc. donamus concedimus atque largimur prefate Merseburgensi Ecclesie ipsiusque prouisori venerabili Dijetmaro Episcopo etc. S. die Urkunde in der v. Berbisdorff’schen Sammlung, Mscr. T. II. Nr. 10. 12., abgedr. in Peifer, Lipsia, 1689. 8. pag. 108. Vergl. Gretschel, Beitr. z. Gesch. d. St. Leipzig, 1835. 8.

 

 

 

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Urkunde Landgraf Albrecht’s von Thüringen v. J. 1291 und aus der Aurea Bulla K. Karls IV. v. J. 1366 (in welcher diese Schenkungs-Urkunde Heinrich’s II. and noch fünf andere dergleichen das Stift Merseburg betreffende Schenkungs-Urkunden wörtlich aufgenommen sind), hervorgeht 1). — K. Heinrich III. trat dem Stifte einige Ländereien ab 2); Bischoff Offo (regierte 1065 — 1070), schenkte der Domkirche mehrere Besitzungen, liess auch für sie ein schönes Gemälde verfertigen; Bischoff Werner, 1073 — 1101, und zu seiner Zeit K. Heinrich IV. und Pfalzgraf Friedrich bereicherten gleichfalls diese Kirche mit Ländereien. Bischoff Albuin, 1101 — 1117, schmückte das Sanctuarium derselben mit Gemälden, liess das alte und neue Testament schreiben und ausmalen, schenkte auch viele andere Bücher in die Bibliothek 3). Zu seiner Zeit verehrte auch die heil. Paulina (Schwester oder Schwester-Tochter seines Vorgängers, welche in dem von Werner gestifteten Peterskloster zu Merseburg zwei Kapellen zu Ehren des heil. Johannes und Paulus erbaut, 1106 aber das Kloster Paulinzelle gestiftet hat,) der Domkirche ein auf Goldgrund gemaltes, mit Edelsteinen umgebenes Bildniss der heil. Jungfrau 4). Bischoff Arnold, 1119 — 1133, Johannes, 1176 — 1187, Rudolph, 1238 — 1248, Heinrich von Warin, 1248 — 1263, Friedrich 1263 — 1282, Heinrich vom Amendorf, 1282 — 1300, schenkten oder erwarben dem Stifte ansehnliche Besitzungen, Schkeuditz, Freiburg 5), Lützen, Ranstädt, Lützschena,. In dem Zeitraume von 1256 an waren es vorzüglich Markgraf Heinrich der Erlauchte, Markgraf Dietrich von Landsberg, und Landgraf Albrecht von Thüringen, welche dem Stifte bedeutende Schenkungen zuwendeten 6). Um dieselbe Zeit finden wir genauere Nachrichten darüber, dass das Bisthum zu Merseburg das Münzrecht ausübte 7) und dass wegen grosser Beschädigung der Domkirche durch Stürme und Ungewitter von den Erzbischöffen und Bischöffen zu Mainz, Minden, Magdeburg, Eichstädt, Halberstadt, Hildesheim, Cöln, ein Ablass zu Gunsten dieser Kirche bewilligt wurde 8). Es schenkten oder erwarben ferner die

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1) S. in der von Berbisdorf’schen Urkunden-Sammlung. Mscr. T. III. Nr. 144. T. IV. Nr. 443.

2) Ebendas. T. II. Nr. 16. 17.

3) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 372. 376. 385.

4) Ebendas. pag. 386. — Vergl. Hesse, Gesch. des Klosters Paulinzelle, 1815. fol. und Desselben Beitr. z. d. deutschen, bes. thüring. Gesch. des Mittelalters. 1836. 8. I. B. 2te Abth.

5) Eine Schenkungs-Urkunde des K. Heinrich II. v. J. 1022, s. in der v. Berbisdorf'schen Urkunden-Sammlung, Mscr. T. II. Nr. 14., über Freiburg (nova curia) ist aus demselben Grunde, den wir oben bei der Schenkungs-Urkunde über Leipzig angaben, als unächt zu betrachten. Dass sie jedoch für ächt gegolten hat, beweisst ihre Aufnahme in die Aurea Bulla Carl’s IV; und dass Freiburg zum Stift gehörte, geht aus einer Urkunde Landgraf Albrecht's ‚hervor, die unter andern in Peiferi Lipsia pag. 134 abgedruckt ist.

6) S. die v. Berbisdorf’sche Urkunden-Sammlung. Mscr. T. III. Nr. 50. 57. 60. 63. 64. 65. 68. 73. 74. 79. 80. 82. 85. 86. 89. 107. 108. 109. 112. 120. 127. Landgraf Albrecht und Markgraf Otto von Brandenburg erkannten im J. 1291 (s. ebendas. Nr. 144.) des Bisthumes Rechte auf Leipzig an, überliessen auch demselben im J. 1291 und 1293 (s. ebendas. Nr. 145. 146. 148. 149.) die vier Gerichtsstühle zu Leipzig, Rötha, Ranstädt und Lützen.

7) Schon zur Zeit Kaiser Heinrich’s II. scheint das Münzrecht von den Bischöffen ausgeübt worden zu seyn, wie aus dem oben angeführten Restaurationsbriefe desselben hervorgeht. — Bischoff Heinrich verpachtete es 1255 an Peter von Naumburg (s. v. Berbisdorf’sche Urkunden-Sammlung. T. III. Nr. 47.), und Bischoff Friedrich erliess 1273 eine Münz-Ordnung. (S. ebendas. Nr. 91.)

8) S. ebendas. Nr. 95. 96. 97. 98. 99. 101. 102.

 

 

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Bischöffe Gevehard von Schraplau, 1323 — 1348, Heinrich von Stolberg, 1348 — 1356, Friedrich von Hoym, 1357 — 1383, Heinrich von Stolberg II., 1384 — 1406, Bose, 1431 — 1463, dem Stifte mehrere Besitzungen; der Zweite unter ebengenannten liess auch zwei Antiphonarien und zwei Responsorien (gradalia) für die Kirche schreiben und dieselben, so wie das Pult dazu, ausmalen, und Bose liess ein goldenes Kreuz, mit Edelsteinen geschmückt (pro pectorali), so wie verschiedene silberne Gelässe fertigen 1). Bischoff Thilo von Trotha, 1468—1514, erbaute das neue Schloss, das Schiff der Domkirche, liess die sogenannte Bischoffskapelle (in der nördlichen Vorlage des Kreuzes der Kirche) ausmalen; seine Nachfolger Adolph von Anhalt, 1514 — 1526, Vincentius von Schleinitz, 1526 — 1535, und Siegismund von Lindenau, 1535 — 1544, setzten jene Baue fort, und Letzterer bediente sich dabei des Baumeisters und Bürgermeisters Johann Möstel 2). Siegismund, der sich bereits der protestantischen Lehre geneigt zeigte, war der letzte katholische Bischoff von Merseburg; nach seinem Ableben erhielt das Stift in der Person des Herzogs August von Sachsen einen Administrator, welcher den Fürsten Georg von Anhalt zum Coadjutor und Präsidenten der neuen Stifts-Regieruug ernannte 3).

 

Die Domkirche selbst wurde (nach Inhalt einer Stelle in Dithmar’s Chronik, deren Aechtheit jedoch einigem Zweifel unterworfen ist, wie dies die unten angeführten Worte beweisen,) im J. 1015 neu erbaut; bis dahin mag die Johanniskirche noch als Stiftskirche bestanden haben. Am 19ten Mai des gedachten Jahres legte im Beiseyn des Erzbischoffs Gero von Magdeburg der Bischoff Dithmar die Grundsteine dazu, und zwar in Form eines Kreuzes 4). Es scheint mithin ungegründet, dass K. Heinrich II. die ersten vier Grundsteine mit eigner Hand gelegt haben soll, wie Brotuff 5) angiebt. Der Bau scheint nicht schnell vollendet worden zu seyn, wenigstens behauptet Brotuff, es habe Dithmar's Nachfolger, Bischoff Bruno, zuerst den neuen Chor und die Crypta bauen und wölben, zu diesem Behufe aber den alten Chor (der Johannis- und bisherigen Stiftskirche) wegreissen und die darrin befindlichen Gebeine der ersten Bischöffe von Merseburg in die Bischoffskapelle bringen lassen; auch setzt Brotuff ausdrücklich hinzu, es habe Bischoff Bruno die Domkirche vollendet, und im

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1) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 387. 392. 396. 401. 404. 420. 444.

2) Ebendas. pag. 452. 455. 462. 467. 469.

3) Ebendas. pag. 475. etc. — Möbius, Chronica, Mscr. pag. 395.

4) Die Worte sind folgende: pag. 207: Imperator — a nobis discessit et — in vigilia pentecostes ad Immedeshusun (Immenhaussen bei Cassel,) venit, illic cum antistite Meinwerco hanc sanctam festive ducans solennitatem. Interim ecclesia incipitur nostra (Merseburgensis) praesente archiepiscopo Gerone, cujus primos posui lapides in modum sanctae Crucis XV. Kal. Junii. Illic Uual corbeiensis abbas prius ab cura suspensus deponitur etc. — Schon der Herausgeber macht hierzu die Bemerkung: Quae Leibnitius a verbis: Interim ecclesia — XV. Kal. Junii, e Cod. Bruxell. inseruit, etiam in margine Cod. Dresd. leguntur. Reineccii oculos effugerant. Man sieht aber offenbar, dass die ganze Stelle nicht hieher passt, indem das „Illic“ sich auf „Immedeshusun“ bezieht; man müsste sich also wenigstens die Worte: „Interim“ bis „Junii“ als in eine Parenthese eingeschlossen denken, um in den ganzen Context einen richtigen Sinn zu bringen, oder man muss annehmen, der Abschreiber habe die gedachte Stelle an einem unrichtigen Platze eingeschaltet. Im Dresdner Codex ist dieselbe offenbar von späterer Hand am Rande nachgetragen. Ob sie im Brüsseler Codex in dem Contexte selbst steht; ob sie wenigstens von derselben Hand, welche die übrige Handschrift copirte, an den Rand geschrieben ist, darüber mangelt Nachricht.

5) Chron. pag. LXVI.

 

 

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Beiseyn K. Heinrich’s I., seiner Gemahlin Kunigunde, des Erzbischofs von Magdeburg und anderer Bischöffe und Aebte eingeweiht 1). Dass nun trotz mancher Veränderungen, welche die Domkirche in späteren Zeiten erlitten hat, und deren wir sogleich gedenken werden, die jetzt stehende Kirche wenigstens theilweise noch die alte ist, dürfte schon durch Brotuff’s Worte: die Thumbkirche St. Laurentii, welche nach ihrer weite und lenge noch jetzund steht; einigermassen erwiesen werden, wenn man auch ihm über Thatsachen aus früheren Jahrhunderten nicht immer vollen Glauben schenken kann. Andere aus dem Baustyle selbst entnommene Gründe werde ich in der artistischen Beschreibung nachbringen. — Ferner erzählt Brotuff, wie dies auch grösstentheils das Chron. Episcopp. Mersebb. bestätigt: dass unter Bischoff Hunold, 1040— 1050, der Chor (nehmlich die runde Chor-Nische) der Domkirche eingestürzt, aber von K. Heinrich III. wiedererbaut, kurz nachher aber nochmals zusammengefallen sey; Bischoff Hunold habe denselben daher abermals erneuert, und die beiden hohen Thürme, welche noch itzund stehen“, daran gebaut, den Chor, welcher noch heute steht, gewölbt, auch die Domkirche 1042 wieder consecrirt; Bischoff Thilo von Trotha, 1468 — 1514, (welcher auch das Schloss neu aufführte, nachdem er das vom Bischoff Heinrich von Warin im Anfange des 13ten Jahrh. erbaute eingerissen hatte) habe die Domkirche von dem Chore an bis an die Thürme (mithin das ganze Schiff) neugebaut und bis unter das Dach aufgeführt; die Wölbung und Fenster habe aber erst Bischoff Adolph, Fürst zu Anhalt-Bernburg, 1514 — 1526, vollendet; das Gewölbe in der Vorhalle endlich rühre von dem letzten Bischoff, Siegismund von Lindenau, 1536 — 1544, her 2). — Wie Möbius in seiner Chronik angiebt 3), so war der Chor der Domkirche mit einer starken dicken Mauer (einem Lettner, Lectorium,) von dem vorderen Theile der Kirche abgesondert; diese Mauer wurde aber im J. 1558 nebst den drei Altären, welche davor standen, abgebrochen und durch ein eisernes Gitter ersetzt. — Bischoff Thilo von Trotha hatte bereits vorher die sogenannte Bischoffskapelle (in dem nördlichen Flügel des Kreuzes der Kirche) einrichten und ausmalen lassen 4). — Im J. 1663 wurde die baufällig gewordene Spitze eines der am Chor stehenden Thürme abgetragen, und in den Jahren 1664, 1665, 1677 und 1686 wurde Vieles im Inneren der Kirche verändert, die fürstliche Gruft gebaut, Emporkirchen und Betstühle, das Orgelchor, der Hauptaltar errichtet, und die alten Altäre abgebrochen etc. 5).

 

Nach Stiftung des Bisthumes hatten sich nach und nach mehrere geistliche Orden in Merseburg niedergelassen:

2) An der jetzigen Neumarktskirche, welche bereits als Kirche des heil. Thomas in dem von K. Friedrich I. im J. 1188 dem Neumarkt (früher der Werder genannt), ertheilten Privilegium der Marktgerechtigkeit, desgleichen in einer Bestätigungs-Urkunde K. Heinrich’s VI. vom J. 1195 erwähnt wird 6),

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1) Brotuff, Chron. pag. LVb. LXVI. LXVII. —. Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 362. bestätigt, dass diese Einweihung von Bruno erfolgt sey.

2) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 364. 4469. — Brotuff, Chron. pag. LXVIIb. XCVIIIb. Cb. CIIb.

3) Möbius, Neue Merseb. Chronica, Mscr. pag. 218 ff.

4) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 455.

5) Ebendas. pag. 564. — Möbius, Chron. Mscr. S. 218.

6) S. in der von Berbisdorf’schen Urkunden-Sammlung, Mscr. Tom. III. Nr. 20. 23.

 

 

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ist ein (Benedictiner) Nonnenkloster vorhanden gewesen. Brotuff 1) schreibt die Erbauung dieser Kirche, wie sie jetzt steht, dem Bischoff Rudolph zu, welcher nach seiner Angabe von 1194 — 1204 dem Domstifte vorstand 2), und es scheint sich auch aus der am Thurme nach der Saale zu ausgehauenen Jahrzahl 1198 (und aus dem Baustyle selbst) zu bestätigen, dass die Kirche in dieser Zeitperiode erbaut worden sey. Es ist daher zu vermuthen, dass schon früher bereits eine Kirche an der Stelle der gegenwärtigen gestanden hat und niedergerissen worden ist; der noch jetzt stehende Thurm, sowie der Zwischenbau der Thürme scheinen jedoch noch Ueberreste der früheren Kirche. — Nachdem sich die Nonnen aus unbekannten Ursachen von hier weg, und zuerst nach Lohe bei Lützen, von da aber bald darauf nach Leipzig gewendet hatten 3), so ist 1240 das Kloster auf dem Neumarkte an Canonici überlassen worden, welche vorher zu Zwenkau ihren Sitz gehabt, aber denselben wieder verlassen hatten, vielleicht weil Bischoff Friedrich 1236 das Collegiatstift in ein befestigtes Schloss umgewandelt hatte 4). Die Canonici blieben an der Neumarktskirche bis zum J. 1327, wo sie nach der

3) Sixtkirche verpflanzt wurden 5). Diese letztere Kirche war bereits vom Bischoff Hunold im J. 1045 auf dem Sixtberge als Pfarrkirche erbaut und eingeweiht worden 6), nachdem die Kirche des heil. Maximus, die älteste der Stadt, zu klein für die Gemeinde geworden war; denn schon zu K. Otto’s I. Zeiten war die Stadt bis zum Sixtberge erweitert worden. Von ihrer Erbauungszeit an bis zum J. 1327 bestand sie als Pfarrkirche, und wurde erst im letztgedachten Jahre zu einer Collegiatkirche erhoben. Seitdem wurde sie auch das untere Stift genannt 7). Im J. 1580 wurde die Sixtkirche zu der Kirche des heil. Maximus geschlagen, so dass in ersterer seitdem kein Gottesdienst mehr gehalten wurde. Zu welcher Zeit aber das Gebäude ganz eingegangen ist, darüber ermangeln weitere Nachrichten 8). Im J. 1692 begann Herzog Christian II., Administrator des Stiftes, die Sixtkirche wiederherzustellen, allein sein baldiger Tod hinderte ihn an Vollendung seines Planes 9).

4) Die Peterskirche in der Altenburg ist ihrer Stiftung nach eine der ältesten Kirchen in der Stadt. Die Altenburg soll 10) bereits zur Römerzeit von den damaligen Urbewohnern der Gegend erbaut worden seyn, und zur Zeit K. Otto’s I. soll daselbst ein Kloster, welches Canonici innegehabt, gestanden haben. Bischoff Werner hat das (wie es scheint verfallen gewesene) Kloster neuerbaut

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1) Chron. pag. LXXXIII.

2) Das Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 396. führt den Bischoff Rudolph erst unter den J. 1238 — 1248 auf.

3) Hier erbauten sie vorm Petersthore an der Pleisse, da wo jetzt die neue Bastei ist, ein Kloster zu Ehren des heil. Georg, welches aber Churfürst Moritz bei Anlegung der Festungswerke hat wegreissen lassen. Vergl. Schneider, Chron. Lipsiense, 165g. 4. pag. 154. — Möbius, Chron. Mscr. pag. 117. 252.— Brotuff, Chron. pag. LXVIII.

4) Brotuff, Chron. pag. LXXXV.

5) Die Bestätigungs-Urkunde des Bischoffs Gevehard von Schraplau, s. in der von Berbisdorf'schen Urkunden-Sammlung, Mscr. Tom. IV. Nr. 313. Sie ist abgedruckt in Unschuld. Nachrichten. 1732. pag. 9. — Mittheilungen des Thüring. Sächs. Vereines. Th. I. S. 58 etc. 66 etc.

6) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 365.

7) Möbius, Chron, Mscr. pag. 252.

8) Ebendas. pag. 254. 279.

9) Chron. Episcopp, Mersebb. pag. 574. — Vulpius, Megalurgia, S. 37.

10) Brotuff, Chron. pag. KXXVI. (Allein es ist dies eine unverbürgte Sage.).

 

 

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und es mit Benedictinermönchen besetzt. Die Stiftung erfolgte am 19ten Juli 1091 und Erzbischoff Hartung von Magdeburg weihte es am 1sten August desselben Jahres ein 1). Wie bereits oben (S. 9) erwähnt worden ist‚ so erbaute die heil. Paulina, die Schwester oder Schwester-Tochter Bischoff Werner’s, im Peterskloster zwei Kapellen. — Unter anderen bedeutenden Schenkungen, welche dem Kloster nach und nach gemacht worden sind, erwähne ich nur der von K. Heinrich IV. bewilligten, welche im dritten Theile der Einkünfte aus den Salzkoten zu Sulze bestand. — Das Kloster wurde im J. 1544 aufgehoben; 1627 unter dem Administrator Johann Georg I. wurden die Klostergebäude in Wirthschaftsgebäude zum Behuf des Hofhaltes umgeschaffen 2).

5) Die Pfarrkirche des heil. Maximus soll gleichfalls eine der ältesten Kirchen der Stadt und zur Zeit der Einführung der christlichen Religion hier erbaut worden seyn. Da sie für die Gemeinde zu klein war, so wurde, wie ich oben erwähnte, die Sixtkirche erbaut. Bis zum J. 1432 scheint die Stadtkirche ihre ursprüngliche Gestalt behalten zu haben, allein in diesem Jahre wurde sie abgebrochen und neuaufgeführt; der niedrige und breite Glockenthurm, welcher noch steht, scheint jedoch ein Ueberrest des früheren Gebäudes zu seyn. Der Bau ging sehr langsam vorwärts, denn 1450 wurde erst die Seite gegen Mittag, 1485 der Chor ausgebaut, und von 1494—1501 sind erst die Deckengewölbe vollendet worden 3). — Endlich ist noch

6) des Gotthardsklosters zu erwähnen, welches im J. 1503 bei der bereits längst vorhanden gewesenen Kapelle gleiches Namens unter Bischoff Thilo von Trotha als Brüderhaus gestiftet 4) und 1544 schon wieder aufgehoben wurde.

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1) Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 375.

2) Möbius, Chron. Mscr. pag. 256. — Chron. Episcopp. Mersebb. pag. 384. 490. 533.

3) Möbius, Chron. Mscr. pag. 276. — Vulpius, Megalurgia. S. 31.

4) Den Stiftungsbrief s. in Möbius, Chron. Mscr. pag. 270.

 

 

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Beschreibung der Baudenkmale der Stadt Merseburg, von denen hier Abbildungen gegeben werden.

Der Dom.

Die verschiedenen Perioden in dem Auf- und Ausbaue des Domes, auf welche in der geschichtlichen Einleitung hingewiesen worden ist, werden durch den verschiedenen, in dessen einzelnen Theilen ersichtlichen Baustyl theilweise bestätigt. Betrachten wir zuvörderst

 

das Aeussere,

so entsprechen in der westlichen Hauptfaçade (Bl. 3 dargestellt) der mittlere Theil der Vorhalle mit dem Giebel, und der giebelförmige Zwischenbau der westlichen Thürme, dem Baustyle, welcher in den letzten Decennien des 12ten und den ersten Decennien des 13ten Jahrhunderts in Sachsen herrschte. Der Spitzbogen der in diesen Theilen befindlichen Fenster und Blenden hat die gedrückte und schwere Form der früheren Periode, welche wir bei Arkaden und Portalen, z. B. an der Kirche zu Memleben, dem Dome zu Naumburg und der Stadtkirche zu Freiburg a. d. U. finden 1). Eigenthümlich ist ferner die Stellung der Fenster und Fensterblenden, von denen die mittelsten höher hinaufreichen als die an den Seiten befindlichen, — eine Form, die sich bei mehreren zu Ende des 12ten oder Anfang des 13ten Jahrhunderts erbauten Kirchen, z. B. in Grimma, Barby, Gräfenhähnchen zeigt 2), wenn gleich

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1) In dem 16ten und 17ten Jahrhundert kehrt diese gedrückte Form des Spitzbogens wieder, jedoch in einer etwas abweichenden Gestalt, wie dies in der Folge durch Beispiele nachgewiesen werden wird.

2) An dem Dome zu Zürich und am dasigen Frauenmünster findet man dieselbe Stellung der Fenster an der Giebelseite, s. Vögelin, das alte Zürich, 1829. 8., desgleichen an mehreren Kirchen am Rhein, s. Boisserée, Denkmale der Baukunst am Nieder-Rhein, 1833. gr. fol. Bl. XXV. XL. LXIX., sowie in vielen Kirchen Englands, f. Britton, the Architectural Antiquities of Great Britain, 1826. gr. 4. Bl. 36. 52. 73. 77. 80. Desselben History and antiquities of the Cath. Church of Hereford, 1831. gr. 4. Bl. VII. IX. Bei einigen dieser Kirchen sind die Fenster zwar im Rundbogen, jedoch ohngefähr aus derselben Zeitperiode.

 

 

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mit einigen Abweichungen hinsichtlich des Verhältnisses der Breite zur Höhe der Fenster. — Als frühere Theile dürften der Unterbau der westlichen Thürme und die unteren Achtecke derselben anzusehen seyn und vielleicht noch dem Anfange oder der Mitte des 12ten Jahrhunderts angehören. Dies ist aus den Rundbogenfenstern dieser Achtecke und der unter denselben hinlaufenden byzantinischen Bogenverzierung zu schliessen. Dagegen möchten die oberen Achtecke, in welchen die Fenster in die Uebergangsperiode vom Rundbogen zum Spitzbogen fallen, in eine etwas spätere Zeit, gleichfalls wie die zuerst erwähnten Theile in das Ende des 12ten Jahrhunderts zu setzen seyn. — Dass die hölzernen, mit Schiefer gedeckten spitzen Dächer dieser Thürme neu sind, braucht kaum erst erwähnt zu werden.

 

Der Anbau der beiden Seitenflügel der Vorhalle, nach Osten und Westen, fällt vermuthlich, wie sich aus den Formen und besonders den oberen Füllungen der Fenster vermuthen lässt, in das 15te Jahrhundert. Dass aber diese beiden Seitenflügel später angebauet sind, und nicht blos die Form der Fenster verändert wurde, geht daraus hervor, dass das Mauerwerk derselben von dem der daranstossenden mittleren Vorhalle verschieden ist; dass auch die Mauern der Seitenhallen mit den Mauern dieser Vorhalle nicht verbunden sind, und sich sogar davon in senkrechter Linie abgesondert haben; dass endlich auf der linken nördlichen Seite der Anbau nicht einmal so hoch hinauf reicht, als die Hauptmauer der ursprünglichen mittleren Vorhalle sich erstreckt. (Vergl. Bl. 3.) — Die Verzierung am Portale der Mittelhalle aber rührt offenbar aus der Zeit her, wo Bischoff Siegismund von Lindenau dieselbe überwölbte, 1536 — 1544. (Vergl. Seite 11). Man findet sogar eine Aehnlichkeit zwischen den Linien der Gewölbeführung in der Vorhalle und den Linien der Verzierung des Portales. (Vergl. Bl. 3 und 9.) — Die beiden Statuen an den Seiten dieses Portales stellen den heil. Laurentius und Johannes den Evangelisten, als Schutzpatrone des Stiftes, das in der Mitte dicht über der Eingangsthüre ausgehauene Brustbild aber (angeblich) den K. Otto I. als Gründer des Stiftes, vor. Letzterer hält das Modell der Domkirche in der Rechten 1).

 

Die nach dem Schlosshofe gekehrte Nordseite der Kirche, welche eine Seite des Viereckes dieses Hofes bildet, zeigt uns in den Fenstern des Queerschiffes dieselbe Form des gedrückten und schweren Spitzbogens, die wir an der Westseite bemerkten, und ist daher in dieselbe Zeit, wie diese zu setzen. (s. Bl. 2) Dagegen ist die Verzierung der in das Queerschiff führenden Thüre jedenfalls gleichzeitig mit der Verzierung des westlichen Portales. Ueber der erwähnten Thüre ist der Bischoff Thilo von Trotha in schlafender Stellung liegend abgebildet. (S. Bl. 83.) Er hält in der Linken ein mannichfach verschlungenes Band, auf welchem mehrere Worte stehen, von denen nur noch folgende zu lesen sind: Locus iste sanctus est. Nesciebam. — Unterhalb des Simses, auf welchem er liegt, ist auf der einen Seite das Wappen des Stiftes, auf der anderen Thilo’s eigenes Wappen, welches einen Raben, mit einem Ringe im Schnabel, vorstellt 2).

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1) Auch diese Statüen etc. werde ich wo möglich in der Folge in einer besonderen Abbildung geben.

2) Man bezieht diesen Raben und die beiden ausgestreckten Arme, welche sich über dem Wappenschilde finden, sobald (wie dieses an mehreren Orten am Schloss zu Merseburg der Fall ist,) sein vollständiges Wappen dargestellt ist, auf folgende, jedoch in keinem Chronisten erwähnte Sage: Thilo habe einen werthvollen Ring vermisst, einen seiner Diener wegen dessen Entwendung im Verdacht gehabt, und ohnerachtet dieser seine Unschuld mit emporgestreckten Händen aufs heiligste betheuert, ihn hinrichten lassen. Kurz darauf habe man den vermissten Ring in dem Neste eines Raben, der ihn durch das offene Fenster aus Thilo’s Zimmer entwendet, wiedergefunden, und Thilo sey trostlos gewesen, weil er seinen Diener unschuldig habe hinrichten lassen. Zur Busse habe er ein Vermächtniss errichtet, vermöge dessen auf immerwährende Zeiten ein lebendiger Rabe unterhalten werden müsse. — Noch jetzt wird ein lebendiger Rabe in einem grossen Käfig hier gehalten, ob zu Folge jener Stiftung, darüber hat der Verf. nichts Sicheres erfahren.

 

 

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Zur Rechten neben der Vorlage des Kreuzbaues ist auf Bl. 2 ein Theil des Hauptschiffes der Domkirche zu sehen, dessen Giebel, Strebepfeiler und Fenster den Geschmack des 16ten Jahrhunderts deutlich aussprechen. Es läuft dieses Hauptschiff in derselben Form; wie wir hier einen Theil desselben erblicken, bis an die westlichen Thürme fort. (s. Bl. 9. I. K. R. S. T.) Aus derselben Zeit schreibt sich auch der niedrige Anbau her, den man an der linken Seite des Queerschiffes zwischen diesem und dem nordöstlichen Thurme auf Bl. 2. (vergl. Bl. 9. D.) bemerkt. Das grössere Fenster darin erhellt die jetzige Sacristei, und die darunter befindliche Thüre führt jetzt mittelst einer Treppe nach der Crypta (s. Bl. 9d.). Diese Thüre und Treppe sind dem Baustyle nach offenbar auch erst zu der gedachten Zeit angelegt; mit welcher Vermuthung eine Nachricht im Vulpius 1) übereinstimmt. Die frühere Treppe führte aus der Kirche in die Crypta (Bl. 9c.) und ist noch vorhanden, obgleich zugemauert.— Auf Bl. 2 sind die beiden östlichen Thürme in der Nähe dargestellt, welche zur Zeit des Bischoff Hunold c. 1040 erbaut wurden, um der mehrmals eingestürzten Chor-Nische Festigkeit zu geben. (Vergl. Seite 11) Der nördliche, dem Beschauer zunächst stehende Thurm ist derjenige, welcher im J. 1663 theilweise abgetragen und mit einer Haube versehen wurde. (s. Seite 11) Der südliche Thurm aber steht noch in seiner früheren Gestalt, und zeigt uns die steinerne Bedachung nebst den sie umgebenden Zinnen in ihrer ursprünglichen Form. Auf demselben Blatte sieht man einen Theil des vom Bischoff Thilo von Trotha erbauten, jedoch unter dem Herzog Christian I. als Administrator (1651 — 1691) mit neuen Giebeln 2) versehenen Schlosses, (worinnen jetzt die Präsidenten-Wohnung sich befindet). Von Christian I., der überhaupt hier viel gebaut hat, schreibt sich vermuthlich auch der vor diesem Gebäude stehende Brunnen her.

 

Die Ostseite der Kirche ist fast gänzlich durch die daran stossenden Schlossgebäude verdeckt, und nur ein Theil der runden Chor-Nische ist noch sichtbar, daher auch die Kirche von dieser Seite her durchaus keinen malerischen Anblick gewährt. — In der Chor-Nische sind fünf Fenster (wovon jedoch eines durch das neuerlich darangebaute Haus verdeckt wird und zugemauert ist,) von derselben Form, wie wir deren in der Mittelhalle und im Queerschiffe bemerkten. Unter dem mittelsten Fenster ist ein kleines, im Rundbogen überwölbtes Fenster , welches die Crypta erhellt.

 

Die Südseite der Kirche umschliesst ein Kreuzgang, in dessen Mitte der Klostergarten liegt. Auf dem Grundrisse (Bl. 9) ist der Anfang dieses Kreuzganges bei V. abgebildet. Er ist im Spitzbogenstyle

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1) Megalurgia Martisb. pag. 30. „Solch Begräbniss (des K. Rudolph von Schwaben) in einem kleinen sonderlichen Gewölblein hat etliche hundert Jahr unverletzt gestanden, bis bei unserer Voreltern Zeiten Bischoff Michael Sidonius (regierte 1548 — 1561) sich eben daherum einen Keller, den Wein darein zu legen, graben und also dasselbe hinwegthun und mitten in Chor legen lassen; damit ja, wie dieser Herzog, als er lebete, durch die Bischöffe umb Land, Leute, Leib und Leben kommen, auch endlich seine Gebeine vor ihnen in der Erden nicht Ruhe hätten, — schreibet M. Jac. Da. Ernst Confict-Tafel. 3. p. 316.“ — Die Crypta dient noch jetzt zum Weinkeller. — Vergl. Chron. Episcopp. Mersebb, pag. 493.

2) Vulpius, Megal. Martisb. pag. 56.

 

 

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des 15ten Jahrhunderts erneuert und enthält nichts Merkwürdiges. Auf demselben Blatte sind unter W. und X. zwei aus derselben Zeit sich herschreibende Kapellen angedeutet; in deren ersterer sich die im Jahre 1665 vom Herzog Christian I. eingerichtete fürstliche Gruft 1) befindet.

 

Das Innere

des Domes machte ursprünglich gewiss einen vortheilhafteren Eindruck auf den Beschauer, indem dieser beim Eintritte durch die Hauptthüre(Bl. 9 O.) in die Vorhalle sogleich die ganze Länge der Kirche bis zur Chor-Nische übersah; während gegenwärtig der ganze Platz M. (Bl. 9) mit dem Orgelchore überbaut ist, so dass nur Raum für eine unter demselbem befindliche niedrige Glasthüre übrig bleibt. Erst durch letztere tritt man jetzt in das Schiff, welches nun in unverhältnissmässiger Kürze zur Breite erscheint und dadurch die Wirkung des Ganzen stört. (Vergl. Bl. 9, I. K. R. S. T.)

 

Das Mittelschiff ist ziemlich weit gespannt, die Abseiten sind fast eben so hoch als dieses, und von ihm durch achteckige magere Pfeiler getrennt. Die Gewölbe sind verhältnissmässig niedrig, und das ganze Schiff mit seinen Abseiten bildet in der Breite und Länge ein beinahe gleichseitiges Viereck. Uebrigens bemerkt man in dem Baue des Schiffes grosse Nachlässigkeit und Unregelmässigkeit; die Fenster nämlich stehen nicht allenthalben in der richtigen Mitte zwischen den Pfeilern, die sich vielfach durchschneidenden Ribben des Gewölbes bilden keine ganz regelmässigen Figuren, und auch die Bearbeitung des Steines an allen einzelnen Theilen ist nicht scharf und nicht gleichförmig. Dasselbe gewährt daher keinen erhebenden Anblick und zeigt auch sonst in seinem Baue nicht viel Merkwürdiges. Im Schiffe machen wir noch auf die an dem dritten Pfeiler zur Rechten befindliche Kanzel aufmerksam, welche in Holz geschnitzt ist, und in ihren verschiedenen Feldern Scenen aus der Bibel darstellt, mit Thürmchen und anderen Zierrathen in gothischem Style geschmückt. Der Fuss, worauf die Kanzel ruht und ihre Decke sind ebenfalls reich geziert. Das Ganze ist eine Arbeit des 16ten Jahrhunderts 2). — Von hier aus geleiten wir den Beschauer nach dem südlichen Flügel des Kreuzbaues (oder Queerschiffes), von wo aus, unfern der aus dem Kreuzgange führenden Nebenthüre, die Ansicht Bl. 6 genommen ist. (Vergl. Bl. 9 U.) Von diesem Standpunkte aus überblickt man (die neueren Einbaue an Kirchenstühlen etc. sind in der vorliegenden Abbildung weggelassen,) das ganze Queerschiff mit seinen dreifachen Kreuzgewölben. Alle diese Theile entsprechen dem Baustyle des 12ten Jahrhunderts, wenn man die schweren gedrückten Spitzbögen, die einfachen Gewölbe ohne Ribben, die überaus starken Pfeiler und Mauern, die scharfe und genaue Bearbeitung der grossen Quadern, aus denen diese Theile zusammengesetzt sind, berücksichtigt. Der untere Theil des Mittelbaues und des nördlichen Flügels des Kreuzbaues wird dem Blicke durch eine Queerwand entzogen, welche den südlichen Flügel vom Mittelbaue (Bl. 9. E. F.) trennt. Eine ähnliche Queerwand scheidet auch den nördlichen Flügel des Kreuzbaues (Bl. 9 G.) von dem Mittelbaue. Wie in der geschichtlichen Einleitung (S. 11) erwähnt worden ist, war auch an der westlichen Seite des nur gedachten Mittelbaues (Bl. 9 bei H.)

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1) Vulpius, Megal. Martisb. pag. 29.

2) Die engen Grenzen, welche dem vorliegenden Werke gesteckt werden mussten, haben nicht gestattet, von dieser Kanzel eine Abbildung zu geben. Indessen wird wo möglich an einem anderen Orte eine Darstellung derselben geliefert werden.

 

 

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eine Mauer (Lectorium), wodurch mithin dieser für die Domherren bestimmte Platz nach drei Seiten abgeschieden wurde, und nur nach dem Chore zu frei blieb. Beide Queerwände sind nach innen zu ganz glatt und ohne Verzierung, indem daselbst die Domherrenstühle standen; nach aussen zu aber sind sie mit Säulchen und Bogenstellungen geschmückt, welche letztere in die Wand hineingearbeitet sind. Die Form dieser Säulchen und Bogenstellungen ersieht man deutlicher auf Bl. 5r; doch müssen wir hierbei bemerken, dass diese letztere Abbildung die nördliche Queerwand (aus der sogenannten Bischoffskapelle) darstellt, an welcher über den Bogenstellungen noch ein steinerner mit fensterartigen Blenden verzierter Aufsatz sich vorfindet, welcher über der südlichen Queerwand fehlt. Die Zwischenräume jener nördlichen Queerwand sind mit den gemalten Brustbildern sämmtlicher Bischöffe von Merseburg ausgeschmückt, jedenfalls eine Arbeit aus dem Ende des 15ten oder Anfange des 16ten Jahrhunderts, unter Bischoff Thilo von Trotha, welcher (vergl. Seite 11) die sogenannte Bischoffskapelle einrichten und ausmalen liess. Diese Benennung hat sie vermuthlich erst wegen der darin enthaltenen Abbildungen der Bischöffe erhalten. Die Gemälde selbst sind in späterer Zeit wiederholt übermalt worden, und von dem ursprünglichen Style ist daher wenig noch erkennbar. Die Kapitäle der oben erwähnten Säulchen der Queerwände zeigen nicht nur die grösste Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit in den Motiven (s. Bl. 5 a b e bis g), sondern sie sind auch mit besonderer Sauberkeit und Schärfe ausgearbeitet. An den Füssen derselben bemerkt man die dem byzantinischen Style eigenthümliche Blattverzierung oder Abblattung (s. Bl. 5r und c); übrigens aber haben die Füsse die Form des gewöhnlichen attischen Säulenfusses. Der in den nur erwähnten Verzierungen der beiden Queerwände herrschende Styl, ebensowohl als der des ganzen Queerschiffes, stimmt mit dem des 12ten Jahrhunderts überein. In ihren Formen herrscht schon mehr Eleganz als Grossartigkeit, und sie sind in diesser Hinsicht sehr verschieden von den Verzierungen, welche wir in der Crypta der Kirche zu Memleben und an den ältesten Theilen des Domes zu Naumburg, der Kirche zu Freiburg a. d. U., in der dasigen und der Wartburger Schlosskapelle finden; ähnlicher hingegen denen, die wir an der Neumarktskirche zu Merseburg (Bl. 7), und an der Kirche des Klosters Zschillen oder Wechselburg 1) bemerken. — Durch eine kleine Thüre 2), welche sich in jeder der beiden Queerwände befindet (vergl. Bl. 6 und 9), und zu welcher mehrere Stufen hinaufführen, gelangt man in den schon mehrmals erwähnten mittleren Theil des Kreuzbaues. (Bl. 9 E. F.) Der Fussboden dieses Theiles ist mit dem des daranstossenden Altarplatzes oder Chores von gleicher Höhe, und bildet überhaupt (da er durch die Queerwände von den beiden Seitenflügeln des Kreuzbaues völlig abgetrennt wird,) mit dem Chore und der Chor-Nische einen zusammenhängenden grossen Raum. (Bl. 9 A. B. E. F. H.) Dicht an den Stufen, welche vom Schiffe zu diesem Platze heraufführen, (Bl. 9 H.) steht ein einfacher Altartisch, welcher eben so wenig als der Taufstein im Chore, und als der Hauptaltar in der Chor-Nische, etwas Bemerkenswerthes darbietet. Desto mehr Beachtung verdient das am Eingange in das Chor sich befindende Denkmal des Gegenkönigs

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1) Vergl. des Verf. Baudenkmale des Mittelalters im Königreiche Sachsen, 1te und 2te Lief. Die Kirche zu Wechselburg enth. Bl. 4. 6. 11. 13.

2) Das Thürgewände ist wegen der eigenthümlichen daran befindlichen Einkehlung auf Bl. 5 unter d. besonders abgebildet. Diese Einkehlung zeigt gleichfalls grosse Aehnlichkeit mit Verzierungen der Art in der Wechselburger Kirche, s. des Verf, „die Kirche zu Wechselburg“, Bl. 1. 9.

 

 

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Rudolph von Schwaben, welcher in der Schlacht an der Elster im J. 1080 von K. Heinrich IV. geschlagen wurde. In dieser Schlacht wurde ihm die rechte Hand abgehauen 1), und er starb bald darauf an seinen Wunden zu Merseburg in dem Schlosse seines Anhängers, Bischoff Werner’s. Das Denkmal besteht aus einer Platte von Bronze, welche in wenig erhabenem Relief den Gegenkönig in ganzer Figur (in etwa Zwei-Drittheil Lebensgrösse) und in völligem Ornate darstellt. (s. Bl. 81.) Schon der strenge byzantinische Styl, welcher in der ganzen Gestalt und in der Art der Bearbeitung des Metalles sich ausspricht, sodann die Form der Buchstaben in der Umschrift 2) und mehrere andere Gründe bürgen dafür, dass dieses Denkmal unmittelbar nach dem Tode Rudolph’s verfertigt worden ist. 3) Dieses Monument ist daher als eines der ältesten plastischen Kunstwerke Sachsens, dem in ganz Deutschland hinsichtlich der Aechtheit nur wenig gleichzeitige an die Seite gestellt werden können, von grösster Wichtigkeit. Sein Werth wird noch erhöht durch den Reichthum des Costümes, dessen Zierrathen an die Formen und den Geschmack der Verzierungen der Römer aus dem 6ten und 7ten Jahrhundert n. C. G. erinnern 4). Der Kopf des Bildnisses Rudolph’s ist auf Bl. 82. in etwas grösserem Masstabe besonders dargestellt worden, damit theils die Gesichtsbildung, theils die Hölungen in den Pupillen und an der Krone, worin ohne Zweifel ursprünglich Edelsteine gefasst waren, deutlicher zu erkennen seyen. — Noch bleibt die runde Chor-Nische zu betrachten übrig. Sie hat fünf hohe Fenster 5) mit gedrückten Spitzbögen von derselben Form, wie wir sie an den alten Theilen der Domkirche bereits bemerkten. Diese Fenster, so wie die ganze Nische und das Mauerwerk des Chores, sind ohne Verzierung, und die Pfeiler, worauf die Scheidbögen ruhen, sind eben so einfach als diejenigen, die auf Bl. 6 dargestellt sind. Ueberhaupt ist nicht mit Gewissheit zu entscheiden, ob die Fenster der Chor-Nische noch die ursprünglichen sind, denn in den runden Chor-Nischen jener Zeit findet man in der Regel nur drei Fenster, hier aber fünf; und die Fenster aus jener Zeitperiode sind gewöhnlich niedrig und schmal, hier aber weit und hoch. (s. Bl. 9 A.) — Das zur Linken in der Chor-Nische befindliche Sacramenthäuschen ist eine spät-gothische Arbeit aus dem Ende des 16ten oder Anfange des 17ten Jahrhunderts, wie schon die Nachahmung von Baumästen in den Verzierungen desselben beweist. — Die ziemlich einfachen Chorstühle, so wie mehrere reicher geschmückte Monumente in der Bischoffskapelle sind zwar interessante Arbeiten, gehören aber einer späteren Kunstperiode an; deren nähere Beschreibung würde auch zu weit führen und weniger Interesse gewähren, da man aus dieser Zeit fast allenthalben plastische Kunstwerke vorfindet. — Ueber einige werthvolle Gemälde aber, die sich im Chore und im Schiffe der Kirche befinden, können wir uns hier gleichfalls nicht weiter verbreiten, da Malereien,

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1) Diese abgehauene Hand Rudolph’s wird noch in der Sacristei der Domkirche aufbewahrt.

2) Der Inhalt dieser Umschrift deutet dahin, dass ein Anhänger Rudolph’s, jedenfalls wohl Werner selbst, das Monument setzen liess.

3) Vergl. P. A. Déthier, Abh. üb. das Grabmal d. K. Rudolph von Schwaben zu Merseburg, m. einem Kpf. in den Neuen Mittheilungen des Thüringisch-Sächs. Vereines zu Halle, 1834. (auch besonders abgedr.). Der Verfasser dieser Abhandlung ist derselbe, welcher die vorliegende Abbildung gezeichnet und in Stahl gestochen hat.

4) Vergl. die Abbildungen bei Mabillon, Annal. Ord. Benedict. T. I. pag. 248. T. II. pag. 202. 203.

5) Eines derselben ist in neuerer Zeit, als man ein Gebäude dicht an die Nordseite der Chor-Nische anbaute, zugemauert worden. (s. Seite 16.)

 

 

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sofern sie nicht als Theile von Bauwerken mit diesen in genauester Verbindung stehen, dem Plane dieses Werkes fremd sind. Ebenso können wir des merkwürdigen Gewandes d. heil. Kunigunde, einiger Messgewänder, sowie der trefflichen Urkunden und Handschriften in der Bibliothek etc. hier nur flüchtig erwähnen.

 

Bevor wir den Beschauer durch die Vorhalle aus der Kirche herausführen, machen wir ihn noch auf einige in dieser Vorhalle befindliche plastische Kunstwerke aufmerksam. Das wichtigste darunter ist ein hier aufgestellter, ursprünglich der Neumarktskirche angehöriger Taufstein 1), welcher Bl. 4 abgebildet ist. Er ist von achteckiger Form und aus einem sehr grossen Blocke röthlichen Sandsteines (welcher dem gleicht, der in der Nähe von Rochlitz gebrochen wird) ausgehauen. Seine Höhe beträgt 4’ 2” Rheinisch, der Durchmesser‚ zwischen den Ecken genommen, 4’; die Höhe der stehenden Figuren (Propheten) ist 1’ 10”; der Durchmesser des in der oberen horizontalen Fläche eingehauenen Beckens 2’ 10, und die Breite des Randes, zwischen den Ecken, 7”. — Die unterste Abtheilung dieses Taufsteines zeigt vier nackte menschliche Figuren in verkürzten Stellungen, welche mit eben so vielen unförmlichen Thiergestalten abwechseln 2). Dicht über dieser Darstellung läuft ein mit verschiedenen Ornamenten versehener Sims um den Taufstein herum. Man sah vordem hier die Spuren von eingegrabenen Buchstaben, welche wir (auf Bl. 10, worauf die Schluss-Vignette steht,) möglichst treu haben abbilden lassen. Aus denselben ergiebt sich, dass die vier Flüsse des Paradieses: Euphrat, Tigris, Gihon oder Araxes, und Pischon oder Ganges, durch die nackten Menschengestalten dargestellt sind. — Auf dem erwähnten Simse steht eine Galerie von Säulen, welche um den Taufstein herumlaufen; sie tragen Rundbögen, über welchen sich ein zweiter verzierter Sims befindet, welcher sich an die horizontale Fläche des Taufsteines anschliesst. Zwischen den Säulen stehen zwölf Propheten, die Repräsentanten des alten Testamentes. Jeder derselben hält in der Hand einen Streifen (ein Spruchband), worauf sein Name eingegraben ist. Auf der Schulter eines Jeden sitzt ein Apostel, dessen Füsse nebeneinander über die Brust des Propheten herabhängen. Die Namen der Apostel, (welche den neuen Bund repräsentiren,) stehen auf den Rundbögen eingegraben, die sich über den Köpfen derselben wölben. In den Zwischenräumen der Rundbögen, dicht unter dem oberen Simse, schauen einzelne Köpfe hervor, welche vermuthlich Kirchenväter und Stifter von geistlichen Orden vorstellen 'sollen. Alle diese Figuren und Köpfe sind in ziemlich starkem Relief gearbeitet, die Säulen über die Hälfte freistehend. Auf dem Rande des Beckens sind im Kreise herum Worte eingegraben, die sich auf die Reinigung durch die Taufe beziehen. (Die Namen der Propheten und Apostel, so wie die nurgedachte Inschrift haben wir möglichst treu auf Bl. 10, worauf die Schluss-Vignette steht, nachbilden lassen.) — Die Form der Säulenfüsse, welche denen in Paulinzelle vorkommenden ganz

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1) Vergl. Büsching, Reise durch einige Münster etc. Deutschlands, 1819 8. — Wiggert, über einen Taufstein im Dome zu Merseburg etc. in den Neuen Mittheilungen des Thüringisch-Sächsischen Vereines, 1834. 1ster Th. 2ter Heft. — Stieglitz, von altdeutscher Baukunst, S. 97. Note 73.

2) Zur vollständigen Uebersicht des Ganzen gehört ausser den auf Bl. 4 gegebenen beiden Abbildungen noch eine dritte, welche die hier fehlenden Figuren darstellt. An einem passenden Orte soll diese später mitgetheilt werden. — Der Taufstein hatte bereits mehrere Beschädigungen erlitten, als ich vor einer Reihe von Jahren davon die vorliegenden Abbildungen fertigen liess. Auf meine Veranlassung und Bitte wurde er später im Dome aufgestellt; beim Fortschaffen sind durch seine ungemeine Schwere und durch die Schwierigkeiten des Transportes noch grössere Beschädigungen unvermeidlich gewesen.

 

 

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ähnlich ist; die Verzierungen an den Kapitälen, welche den Charakter sehr früher Zeit an sich tragen 1); die langgedehnten Gestalten der menschlichen Figuren; die Art des Faltenwurfes; das Costüm und die Kunstwerke, welche sich von den ersten Jahrhunderten n. C. G. an, (vorzüglich in den Basiliken Roms und an anderen Orten Italiens) erhalten haben, und dessen Typus sich auch in den Kunstwerken Frankreichs und Deutschlands bis zum Anfange des 12ten Jahrhunderts ausspricht. Auch die Form der Buchstaben in den Inschriften finden wir bereits in den Schriftzügen des 9ten bis 11ten Jahrhunderts 2), sie hat auch viel Aehnlichkeit mit der der Umschrift auf K. Rudolph’s von Schwaben Denkmale. Endlich ist der Geschmack in den Ornamenten der Simse offenbar ein früherer als man im 12ten Jahrhundert vorfindet 3). — Daher möchte wohl dieser Taufstein, wenn nicht gar noch in das 11te, doch mindestens in den Anfang des 12ten Jahrhunderts zu setzen seyn.

 

Gleichfalls zu beachten ist die (Blatt 5 unter s. dargestellte Säule,welche der Sage nach die ewige Lampe trug, jetzt aber in der Vorhalle frei aufgestellt ist. Die Form ihres Fusses oder Schaftgesimses (wenn man den Würfel, worauf derselbe ruht, nicht hinzunimmt,) zeigt einige Aehnlichkeit mit den (auf demselben Blatte auf beiden Seiten dieser Säule unter u. und v. abgebildeten) Pfeiler-Verzierungen der Crypta; auch deutet die an dem Würfel, worauf die Säule ruht, angebrachte Verzierung von Menschenköpfen (einer derselben ist in grösserem Maassstabe bei t. abgebildet) auf ein hohes Alterthum. Es ist zu vermuthen, dass diese Säule in dem Nebengewölbe der Crypta gestanden und dort die ewige Lampe am Grabmale Rudolph’s von Schwaben (vergl. Seite 16) getragen hat, daher sie nicht ohne Grund in das 11te Jahrhundert zu setzen seyn dürfte. — Nur über die Aechtheit des Kapitäles derselben ist bei uns einiger Zweifel entstanden, weil die Form dieses aus übereinandergeschobenen Blättern bestehenden Kapitäles dem Geschmacke einer weit späteren Zeit anzugehören scheint, und die Bearbeitung des Steines an demselben einen weit moderneren Charakter an sich trägt, als die Steinarbeit am Fusse der Säule. Hierüber jedoch ganz genau zu urtheilen, verhindert die dicke Uebertünchung.

 

In der Vorhalle hängt auch noch ein, als Kunstwerk nicht unwichtiges, Crucifix 4). Es hat in seiner Form und Bearbeitung Aehnlichkeit mit dem am Hochaltare der Kirche zu Wechselburg ersichtlichen 5); noch mehr gleicht es aber einem in der Kirche zu Schulpforta befindlichen, indem bei beiden

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1) Man findet sogar noch einige Aehnlichkeit zwischen ihnen und den im Menologium graecorum (Urbini 1777. fol.) mehrfach vorkommenden Säulen-Kapitälen. Das Menologium schreibt sich bekanntlich aus dem 10ten Jahrh. her.

2) Vergl. Traité de Diplomatique etc. par deux Religieux Benedictins, 1757. 4. T. III. pl. 36. 38. 48. Chronicon Gotwicense‚ 1732. fol. T. I. pag. 52. Auch in einem in der Stiftsbibliothek zu Merseburg befindlichen Liber sacramentarius aus dem Anfange des 11ten Jahrhunderts finden wir im E. H. M. T. dieselben Schriftzüge; nur das U. hat daselbst eine andere Gestalt.

3) Vergl. Die goldene Altartafel Kaiser Heinrich II., Basel 1836. 4. mit einer Abbildung.

4) Der Herausgeber hat dessen bereits in seiner Beschreibung d. Kirche zu Wechselburg, welche in den beiden ersten Lieferungen der „Baudenkmale des Königreiches Sachsen“ enthalten ist, Seite 25. erwähnt. — Wegen Mangel an Raum konnte leider auch von diesem Crucifix hier keine Abbildung gegeben werden.

5) Namentlich findet man bei beiden die eigenthümliche Gestalt der Felder, auf denen hier die Symbole der vier Evangelisten, dort Gott der Vater und die beiden Engel abgebildet sind, vergl. Bl. 10 der Beschreibung der Kirche zu Wechselburg.

 

 

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an den vier Enden des Kreuzes die Symbole der vier Evangelisten abgebildet sind. Das zu Schulpforta ist auf Leinwand gemalt und auf Holz gezogen; auch die Rückwand desselben ist mit einer ähnlichen auf Leinwand gemalten Vorstellung versehen, es hat also ehedem frei gehangen. Das zu Merseburg ist jedoch in Relief in Holz geschnitzt. In Hinsicht des Kunstwerthes steht letzteres aber beiden ersteren nach, scheint auch einer späteren Zeit, nämlich dem Ende des 13ten Jahrhunderts, anzugehören.

 

Die in der Vorhalle gleichfalls vorhandene Statüe (angeblich) des Grafen Esico, Zeitgenossen des Bischoff Giselar, ist zwar nicht ohne Kunstwerth, ihr Alter reicht aber keinesweges in so frühe Zeit, als man gewöhnlich angiebt, da sie das Costüm des 14ten Jahrhunderts zeigt.

 

Bei dieser Gelegenheit erwähnen wir noch eines, vermuthlich in das 13te, vielleicht noch in das 12te Jahrhundert gehörigen Grabsteines (s. Bl. 84), welcher jetzt in dem Gange, der nach den Capitelstuben führt, aufgestellt ist. Er stellt einen Ritter im Haus- oder Sterbekleide, mit weitem Mantel umgeben, vor; in der Rechten hält derselbe sein Schwert, um welches ein Riemen gewunden ist, in der Linken den Schild. Letzterer ist mit drei Rosen und zwei in einem spitzen Winkel zusammenlaufenden Balken geziert. Der Sage nach stellt diese Statüe Einen von Alvensleben vor; es scheint jedoch eine bei Vulpius 1) sich findende Nachricht dahin zu deuten, dass der Dargestellte zu dem Geschlechte der Herren von Altenburg (s. Seite 12) gehöre. — Dieses Denkmal hat in Hinsicht des Costümes und der Bearbeitung die grösste Aehnlichkeit mit den im Kloster Altenzelle bei Nossen befindlichen Grabsteinen der Markgrafen zu Meissen, welche laut geschichtlichen Nachweisungen in das 13te Jahrhundert gehören. Bemerkenswerth ist, dass jene Statüe die Abbildung eines antiken geschnittenen Steines am Halse trägt, welcher auf Bl. 85 in grösserem Maassstabe abgebildet ist.

 

Es bleibt nun noch die jedenfalls zu den ältesten Theilen der Domkirche gehörige (vergl. Seite 10) ’ Crypta zu näherer Betrachtung übrig. In diese unterirrdische Kapelle gelangt man (vergl. Seite 16) jetzt aus dem Schlosshofe. Sie ist sehr breit und ihre Rundbogen-Wölbung ist sehr hoch. Drei starke Pfeiler scheiden ihr Mittelschiff von ihren Abseiten. Von diesen Pfeilern sind die beiden mittelsten (B. 9 x. x) von gleicher Form (wie diese der Durchschnitt auf Bl. 9 x. in grösserem Maasstabe, und die Hauptansicht Bl. 5 u. u. zeigen,), und eben so sind die vier anderen (Bl. 9 y. y.) unter sich gleichförmig, (wie diese der Durchschnitt auf Bl. 9 y. und die Hauptansicht Bl. 5 v. v. zeigen). Ganz eigenthümlich erscheint hier die Form der ausgebogenen Kapitäle und der mit mehreren kleinen Gliedern versehenen Füsse der Säulchen, welche Bl. 5 u. an den Ecken, und ebendaselbst v. in der Mitte der Pfeiler zu sehen sind; auch müssen wir bei dem Pfeiler u. auf die erhobenen Streifen aufmerksam machen, welche an den Kapitälen der Säulchen sich zeigen. Diese sämmtlichen Verzierungen der Säulchen haben wir nirgends sonst in unserer Umgegend wahrgenommen, und sie deuten auf das hohe Alterthum dieses Baues. — Die Wölbungen in der Crypta sind ganz einfach und ohne vorstehende Ribben. — Ein einziges kleines Fensters welches nach Osten zu geht, erhellt diese unterirdische Kirche — Aus der Crypta führt eine Thüre in die Nebenhalle, (Bl. 9 f.) welche (vergl. Seite 16) das Denkmal des Gegenkönigs Rudolph von Schwaben ehedem enthielt, und mithin auch

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1) Megalurgia Martisb. pag. 69. „Das alte Geschlecht der Herren von Altenburg führete ein zweyschildiges Wapen, nehmlich 3 rothe Rosen im weissen Felde und 3 weisse Rosen im rothen Felde, das Wapen von oben herab gezweyschildigt; haben etwa in alten Hanff- Garten gesessen.“

 

 

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seine Begräbnissstelle ist. Die Halle ist ganz einfach, und nur über dem inneren Theile der Thüre erblickt man die Bl. 10 als Schluss-Vignette abgebildete seegnende Hand Christi, in Relief ausgehauen.

 

Nach erfolgter genauer Betrachtung des Domes ergiebt sich aus dem Baustyle seiner einzelnen Theile, dass die Crypta, die östlichen Thürme und der untere Theil der westlichen Thürme in das 11te Jahrhundert, zum Theil vermuthlich in die erste Erbauungszeit gehören, der obere Theil dieser Thürme aber etwas später erbaut worden seyn mag; — ferner dass der Chor nebst dem Kreuzbaue, so wie die Vorhalle dem Style des Endes des 12ten und des Anfanges des 13ten Jahrhunderts entsprechen; dass endlich das Schiff nebst seinen Abseiten erst im 15ten Jahrhundert erbaut worden sind. Wegen der Verschiedenheit eines Theiles dieser Angaben im Vergleich mit den historischen Nachrichten über den Bau der Domkirche verweisen wir auf die in der „allgemeinen Einleitung Seite 2 aufgestellten Bemerkungen.

 

Die Neumarktskirche.

hat gegenwärtig, nachdem sie vor mehreren Jahren eine bedeutende Bauveränderung erfahren hat, eine andere Gestalt bekommen, als wie wir sie auf dem Grundrisse (Bl. 9 g bis w) sehen. Damals waren zwar bereits die südliche Abseite r. s. des Schiffes und der südliche Thurm q, ingleichen die runde Nische h. an dem nördlichen Flügel des Kreuzes, wegen Baufälligkeit abgebrochen; allein es stand noch die nördliche Abseite m. n., welche bei der letzten Bauveränderung nun ebenfalls weggerissen worden ist. Wir bemerken hierbei, dass das Schiff ursprünglich zwei Abseiten gehabt haben muss, indem die Construction der runden Säulen und der viereckigen Pfeiler zwischen dem Schiffe und den vormaligen Abseiten, darauf hinweist. Von diesen, aus der Erbauungszeit sich herschreibenden, Abseiten stand jedoch vor der letzten Bauveränderung keine mehr, sondern nur die nördliche Abseite, welche den Styl des 14ten Jahrhunderts zeigte, war damals noch vorhanden. — Bei dem gedachten letzten Hauptbaue ist nun auch eine Versetzung der Portale vorgenommen worden, indem man das ehedem bei n. befindlich gewesene Hauptportal in die Mitte des nördlichen Flügels des Kreuzbaues, — das kleinere bei l. befindlich gewesene Portal aber in den Raum, welcher südlich von n. zwischen der runden Säule und dem Pfeiler zunächst des Thurmes o. inneliegt, eingesetzt hat. Ueberhaupt hat gegenwärtig die Kirche eine weit regelmässigere Form, als unmittelbar vor der gedachten Bauveränderung, indem dieselbe nach Wegreissung auch der nördlichen Abseite, und nachdem die Säulen und Pfeiler, welche aus dem Schiffe in diese Abseite führten, eben so als wie auf der Südseite des Schiffes durch eine Hauptmauer miteinander verbunden worden sind, ein regelmässiges Kreuz bildet.

 

Diese Kirche, wie sie jetzt steht, zeigt den byzantinischen Baustyl des 12ten Jahrhunderts in seiner ganzen Reinheit 1), nämlich eine runde Chor-Nische mit drei, oben in Rundbögen geschlossenen schmalen und niedrigen Fenstern; sodann zwei nischenförmige Vorlagen an den beiden Flügeln des

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1) Vergl. Stieglitz, von altdeutscher Baukunst, 1820. 4. Seite 74. und 97.

 

 

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Kreuzbaues, wovon jede ehedem mit eine so wie die Fenster der Chor-Nische gestalteten, Fenster versehen war; ferner im ganzen Baue rundbogige Fenster; im Inneren der Kirche starke niedrige Säulen, welche abwechselnd mit viereckigen Pfeilern das Schiff von den Abseiten trennen, mit einfachen Würfelknäufen 1), und halbrunde Bögen tragend, welche die gerade hölzerne Balkendecke stützen; endlich aber Portale, welche ebenfalls im Rundbogen geschlossen sind. — Diese Portale verdienen eine nähere Betrachtung. Das kleinere derselben ist auf Bl. 9 abgebildet, wo man auch die oberen Theile und die Füsse der beiden Säulen desselben in grösserem Maassstabe dargestellt findet. Die Verzierungen an diesem Portale sind ganz im Geschmack derer, die wir an Säulen in der Wechselburger Kirche sehen 2). Auffallend ist an den Säulen dieses Portals der Neumarktskirche die Verschiedenheit ihrer Höhe, ihrer Füsse (von denen der eine mehr die Form und Verzierung eines umgekehrten Kapitäles an sich trägt,) und die Ornamente ihrer Schäfte. Bemerkenswerth ist ferner die Ausschmückung des Stäbchens, welches an der inneren Seite um das ganze Portal herumläuft. Das grössere Portal, Bl. 8 abgebildet, zeigt auf jeder Seite drei Säulen mit reich verzierten Kapitälen geschmückt. Die Form der Ornamente ist den an den Säulen in der Kirche zu Wechselburg ersichtlichen ebenfalls sehr ähnlich 3). Eigenthümlich ist aber an diesem Portale die mittlere Säule auf der linken Seite, welche aus vier kleinen Säulchen besteht, die in der Mitte in einem Knoten zusammenlaufen 4). Auch ist noch zu beachten, dass der Sims über den Kapitälen auf der rechten Seite des Portals nur mit einfachen Gliedern, auf der linken Seite aber reich verziert ist, und dass die in dem vordersten Bogen, welcher beide Seiten des Protals verbindet, vorkommende, aus kleinen Kugeln zusammengesetzte Verzierung im 12ten Jahrhundert selten erscheint; doch wiederholt sie sich an der Neumarktskirche nochmals aussen am oberen Simse der runden Chor-Nische, um welche sie herumläuft; wir finden sie auch an der Chor-Nische der Kirche auf dem Petersberge bei Halle. Endlich muss noch angemerkt werden, dass die Füllung über der Thüre des Portales nicht mehr vorhanden, sondern herausgebrochen ist, so haben wir die hier dargestellte Füllung von der Schlosskirche zu Querfurt entlehnt. Die Säule, welche man durch die offenstehende Kirchthüre erblickt, steht gleichfalls nicht hier, und sie ist nur deshalb von uns angedeutet worden, damit man die Form der Säulen im Inneren der Neumarktskirche daraus ersehen möge.

 

Die Sixtkirche.

Ueber dieses Gebäude ist wenig zu bemerken, indem dasselbe nur wegen des Gegensatzes, welches es als Bauwerk späterer Jahrhunderte im Vergleich zu den anderen Baudenkmalen der Stadt

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1) Eine Abbildung eines Würfelknaufes aus dieser Kirche s. in Stieglitz, v. altd. Bauk. Bl. XIII. 6.

2) Vergl. des Verf., die Kirche zu Wechselburg, Bl. 4. 6. 9. 11. 13.

3) S. ebendaselbst.

4) Zwei ähnliche Säulen, welche am Portale des Domes zu Würzburg vorkommen, s. bei Stieglitz, von altdeutscher Baukunst, Bl. XXXIII. – Vergl. Seite 186. Ebendas.

 

 

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Merseburg bildet, und wegen der mahlerischen Ansicht, die es als unausgebaute Ruine gewährt, unter die im vorliegendem Werke abgebildeten Gegenstände aufgenommen worden ist. — Der südliche Theil dieser Kirche, welchen man auf der Titel-Vignette rechts im Vorgrunde erblickt‚ so wie der grösste Theil des übrigen Unterbaues dürften wohl dem 15ten Jahrhunderte, angehören, (wie sich aus der Form der Fenster und besonders der oberen Füllungen derselben schliessen lässt,) obgleich es an Nachrichten mangelt, dass die Kirche nach ihrer Einräumung an die Canonici, welche aus Zwenkau hieher kamen, neuerbaut worden sey. Der nördliche Theil dagegen scheint erst der Zeit, wo Herzog Christian II. die Kirche wiederherzustellen anfing, nämlich dem Ende des 17ten Jahrhunderts, (vergl. Seite 12) seine Entstehung zu verdanken, indem man in den Details eine sehr verfehlte Nachahmung des Baustyles der übrigen Kirche erblickt. — Der an der Westseite derselben stehende Thurm möchte zwar allerdings aus einer weit früheren Zeit herstammen als die Kirche selbst, und mindestens sein unterer Theil könnte noch dem ersteren Baue angehören; allein seine Bauart zeigt durchaus Nichts, woraus sich mit Gewissheit auf die Periode seiner Errichtung schliessen liesse. Auf der Titel-Vignette konnte dieser Thurm nicht mit abgebildet werden, weil die gegebene Ansicht vom Fusse desselben nach dem Chore zu genommen ist.

 

Die Peterskirche

bildet jetzt einen Theil der Wirthschaftsgebäude, namentlich des Kornmagazins , welches in den ehemaligen Klostergebäuden angelegt worden ist. Man hat nämlich die Kirche durch eine horizontale Bretterdecke in zwei Abtheilungen oder Stockwerke getheilt, welche zum Aufschütten des Getraides angewendet werden. Diese Kirche, welche man mit der auf einem Hügel gelegenen Kirche in der Altenburg, in der noch Gottesdienst gehalten wird, und welche gar nichts Bemerkenswerthes zeigt, nicht verwechseln darf, ist dem Baustyle nach im 14ten oder 15ten Jahrhundert erbaut, aber ganz einfach und schmucklos. Unter derselben ist jedoch noch eine geräumige Crypta, welche dem Ende des 11ten oder mindestens dem Anfänge des 12ten Jahrhunderts anzugehören scheint. Da nun (vergl. Seite 13) das Perterskloster im J. 1091 eingeweiht worden ist, so stimmt der Baustyl mit den geschichtlichen Nachrichten überein. Diese Crypta ist von so ganz einfacher Bauart‚ dass nur die Form der an ihrem, Mittelpfeiler ersichtlichen Einkehlung ein Merkmal frühen Baustyles abgiebt 1). Drei andere dem ehemaligen Peterskloster angehörige Gegenstände geben über den Geschmack, in welchem die ursprüngliche Kirche erbaut gewesen ist, (zusammengenommen mit den im Betreff der Crypta gemachten Bemerkungen,) noch näheren Aufschluss. Es sind dies drei runde plastische Kunstwerke; (auf Bl. 9 abgebildet,) welche in die Wand des Stallgebäudes links im Hofe eingemauert sind. Das grösste derselben, im Durchmesser 1’ 5 Rheinisch, stellt Gott dem Vater vor, welcher in der linken Hand eine Weltkugel trägt, und mit der rechten eine seegnende Bewegung macht. Sein Kopf hat drei Strahlen, von

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1) Eine Abbildung dieses Pfeilers wird wo möglich noch später an schicklichem Orte gegeben werden.

 

 

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der Art, wie man sie oft an Christusköpfen wahrnimmt. Die Umschrift lautet: Deus pater . . . . creator mundi. (Das mittelste Wort ist nicht lesbar.) — Das zweite, im Durchmesser 11½“ Rhein., stellt das Lamm mit dem Kreuze dar. Jenes ist liegend abgebildet. Die Umschrift lautet: Deus Redemptor mundi. — Das dritte, von gleicher Grösse als das vorige, zeigt den heiligen Geist in der Gestalt einer Taube. Es führt die Umschrift: Spiritus Sancte Deus Illuminator Mundi. — Diese drei plastischen Arbeiten, welche in halb erhobenem Relief gearbeitet sind, dienten ehedem auf jeden Fall als Schlusssteine des Gewölbes in der früheren Kirche, und sind wegen ihres Alterthumes merkwürdig. Sie rühren gewiss noch aus der oben erwähnten Erbauungszeit des Petersklosters her, indem sie das Gepräge des rein-byzantinischen Styles an sich tragen. Allerdings zeigen diese drei Schlusssteine keineswegs fleissig ausgeführte und vollendete Kunstwerke, man muss aber auch bedenken, dass nicht nur dergleichen Arbeit ohnehin nur von gewöhnlichen Steinmetzen verfertigt wurde, sondern‚ dass auch die hier abgebildeten Darstellungen bestimmt waren, in einer bedeutenden Höhe, nämlich an der gewölbten Decke der Kirche, angebracht zu werden, mithin nur auf den Effect berechnet waren, wobei eine sorgsame Ausführung gar nicht am rechten Platze gewesen seyn würde. Ueberdies haben sie auch später durch den Einfluss der Witterung manche Beschädigung erlitten.

 

Dr. L. Puttrich

 

 

 

Quelle:
Kurzer Abriss der Geschichte des Stiftes und der Kirchen und Klöster zu Merseburg.

Autor: Puttrich, Ludwig Verlagsort: Leipzig Erscheinungsjahr: 1836 Verlag: Brockhaus Signatur: Augsburg, Staats- und Stadtbibliothek -- 2 K-K 77

Das Buch wurde vom Münchener DigitalisierungsZentrum eingescannt und ist unter dem Link https://reader.digitale-sammlungen.de//de/fs1/object/display/bsb11198330_00005.html einsehbar.

Hier können auch die bisher nicht einbezogenen Abbildungen eingesehen werden.

Permalink: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11198330-3

 

 

 

 

XV. Archäologische Wanderungen in den Königlich Preussischen Landräthlichen Kreisen Zeitz, Weissenfels und Merseburg während der Jahre 1856 bis 1866, unternommen von Gustav Sommer, Königlicher Bau-Inspector zu Zeitz.

 

Vorwort.

Zu den Mittheilungen und Aufsätzen über alterthümliche Gegenstände aus den verschiedenen Gegenden Deutschlands, zumal denen, welche der thüringisch-sächsische Geschichts- und Alterthums-Verein in seinen Bereich zu zählen sich vorgesetzt hat, will der Verfasser dieses auch seinerseits in dem Nachfolgenden beizutragen versuchen, um bekannt zu machen und zu besprechen, was überhaupt in seiner Gegend aus dem Alterthum noch vorhanden, wie dieses beschaffen, und ob es von demjenigen historischen oder künstlerischen Werthe ist, dass es wünschenswerth erscheine, für dessen Erhaltung, beziehungsweise Herstellung zu sorgen. Die Reihenfolge der Oertlichkeiten ist hierbei eine zufällige, je nachdem die Durchforschung fortschritt, und werden, da manche derselben noch nicht abgeschlossen, die an alterthümlichen Gegenständen reicheren Ortschaften aus diesen Gründen zuletzt an die Reihe kommen.

 

Die deutschen Gaue sind bekanntlich sehr verschieden in der Vertheilung und in dem Besitz von Alterthümern begünstigt, die einen reich, die anderen arm daran zu nennen, sei es, dass im Laufe der bereits darüber verstrichenen Zeit sehr Vieles zerstört und geraubt, sei es, dass überhaupt von Haus aus wenig vorhanden war. Die Spuren von früher Vorhandenem lassen freilich mehr auf öftere Zerstörungssucht denken. Gibt es doch noch jetzt, und zwar leider jetzt vielleicht erst recht, eine gewisse Classe von Leuten, welche in ihrem Mangel an einem für die Schönheit und den Reiz des Alterthums empfänglichen und gebildeten

 

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290 XV. Archäologische Wanderungen

 

Sinn Alles modernisieren möchten. Auf diese Weise werden oft unnöthigerweise reich geschnitzte Holztheile von Fachwänden, inneren Decken und Wandbekleidungen beseitigt und mit nüchternem Kalkmörtelputz, mit elenden Tapeten vertauscht; interessante Thüren, Thore, Fenster durch beliebige, dem Privat- oder Handwerkergeschmack unterworfene andere ersetzt; oft ohne einen andern Grund alte Glockengruppen gegen neue umgetauscht als den, weil ein Nachbardorf kürzlich neue Glocken sich verschafft hat, und die eigenen Mittel einer Gemeinde dieses zulassen. Schöne Gesimsformen und kunstgerecht behandelte Architekturflächen von Altären, Kanzeln, Taufsteinen u. dgl. werden mit modernen Zeugen gardinenartig behängt, Kirchen wol gar im Innern tapeziert (Langendorf östlich Zeitz); alte Grabsteine mit mehr oder weniger wichtigen Inschriften und zum Theil hübschen, ja selbst schönen Ornamenten, zu Trittsteinen in Gängen von Kirchen, freien Plätzen, zu Canalüberdeckungen, oder auch mitten durchgeschnitten zu Einfriedigungspfosten von Friedhöfen verwendet (z. B. in Gross-Grafendorf zwischen Lauchstedt und Schafstedt); alte Taufsteine als Brunnentröge benutzt (z. B. in Riethgen bei Griefstedt) oder in Ober- und Untertheil halbiert als Sitzsteine vor einer Kirchthüre (z. B. in Prittitz bei Weissenfels) aufgestellt.

 

Wenn auch bereits im Laufe der früheren Jahrhunderte viel verändert, unkenntlich gemacht, vernichtet worden ist, so scheint doch namentlich das 19. Jahrhundert sich darin auszuzeichnen. Vermehrung der Cultur, Wolstand, höherer Bildungsgrad in allen Schichten der menschlichen Gesellschaft, daher auch vermehrte Ansprüche an das Leben, die Macht der „Mode,“ welche sich oft ohne allen Grund und Geschmack überall geltend macht, Vervollkommnung des Verkehrs durch bequeme Wege, behaglichere Einrichtungen für Haus-, Hof-, und Landwirthschaft, höhere Rente vom Besitz, um diese Behaglichkeit zu erhöhen — alle diese und noch viele andere Veranlassungen Ueberreste der Vergangenheit zu beseitigen sind ein Hauptzug der Characteristik des 19. Jahrhunderts, und es ist dieser Umstand eine Veranlassung mehr für den Forscher von Geschichte und Alterthum, sein Augenmerk auf Vorhandenes aus der Vorzeit zu richten, damit zeitig noch zu erhalten gesucht werde, was erhaltenswerth ist.

 

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291 von Gustav Sommer.

 

Eine Freude ist es daher, dass sich die betreffenden Vereine vermehren, welche entweder ganz Deutschland oder einzelne Theile desselben oder auch nur besonders merkwürdige Städte zum Areal ihres Wirkungskreises auserkoren haben, und höchst dankenswerth ist die Unterstützung und Hebung der Vereine durch Fürsten, Staatskassen, Städte, indem sie ihnen Geldmittel gewähren, oder (wie im Königreich Sachsen) ihnen die Eigenschaft begutachtender Commissionen und Curatorien geben. Freilich wird hier und da eine bessere Methode der Forschung noch sehr vermisst, dagegen mannichfach Isolierung, Verheimlichung einerseits und planloses Verlieren ins Endlose andererseits vorgefunden. Vervollständigungen herbeizuführen, da wo Mittheilungen begonnen haben, müsste stets im Auge behalten werden, weshalb vor Allem aufs Dringendste die Anfertigung von Repertorien, Inventarien wünschenswerth erscheint; indem wir bei dieser Gelegenheit in Erinnerung zu bringen uns erlauben, welch überaus zweckmässiges, segen- und fruchtbringendes Institut für Deutschlands Geschichte das Germanische Museum in Nürnberg ist, welches planmässig das Vorhandene registriert und aufs Uneigennützigste Auskunft ertheilt über einschlägige Fragen, — soweit eben die Auskunft mit Rücksicht auf den augenblicklichen Stand der Sache überhaupt möglich ist. Der Verkehr mit einer solchen Central-Anstalt müsste indessen reger werden, um von den wissenschaftlichen Schätzen und Arbeiten derselben, den Repertorien, vielfachen Nutzen zu ziehen.

 

Die Anfertigung von Repertorien nochmals erwähnend, so ist von grösster Wichtigkeit geworden, systematische Nachschlagebücher über die Literatur zu besitzen, ja jeder Privatgelehrte sollte sich dergleichen über die eigene Bibliothek und Sammlung anlegen, so mühsam sie auch sein mögen, da sie nach verschiedenen Gesichtspunkten auch verschiedene Systeme zu ihrer Grundlage haben müssen. Wie viel geht unbeachtet verloren von dem, was in den verschiedenen Schriften höchst zerstreut sich vorfindet und in Folge tüchtiger Forschungen, fleissiger Bearbeitungen erst mühsam gesammelt war, eben weil man augenblicklich keine Gelegenheit hatte, hiervon Kenntniss zu nehmen. Gegen einen kleinen Beitrag sollte das Germanische Museum fortlaufende specielle

 

 

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292 XV. Archäologische Wanderungen

 

Inhaltsanzeigen allmonatlich nach einem gewissen Plane den einzelnen Specialvereinen, oder Jedem, der es für sich und seine Studien wünschen sollte, mittheilen, um unter allen Umständen die Kenntnissnahme nicht zu versäumen und die Mittheilungen zu vervollständigen. Nicht, wie in der Zeitschrift für preussische Geschichte und Landeskunde und im Anzeiger des Germanischen Museums dies geschieht, als kurze Inhaltsanzeige, sondern nach ein und demselben System geordnet, wie das Germanische Museum seine Repertorien nachträgt. Diese Repertorien-Laufzettel, um sie recht eigentlich zu bezeichnen, würden namentlich den Privatgelehrten, die fern von grossen Städten, fern vom Sitz der Vereine, sich den von ihnen ins Auge gefassten Studien widmen, von unberechenbarem Nutzen sein. Aehnlich dem trefflichen Buche von Dr. W. Lotz über Deutschlands Kunstwerke (Statistik der deutschen Kunst, 2 Bde.) wäre wol an der Zeit, ein analoges über Litteratur der Geschichte und Alterthumskunde auszuarbeiten, beziehungsweise das von Walter sachgemäss fortzusetzen. Die specielle Einrichtung, das System, die Methode müsste durchaus gleich, ja verabredet sein, um die gegenseitige Communication, den wissenschaftlichen Verkehr nicht zu erschweren.

 

Nach diesen einleitenden Auseinandersetzungen, in welche unwillkürlich viel „fromme“ Wünsche mit unterliefen und als „brennende Fragen“ verzeihlich erscheinen möchten, gehen wir zu dem über, was die Ueberschrift des gegenwärtigen Aufsatzes aussprechen wollte.

 

I. Allgemeines.

1. Der äussere Gesammteindruck der hiesigen Landschaft muss für jeden dieselbe zum ersten Mal berührenden Fremden insofern ein befriedigender sein, als überall Anzeichen von Cultur hervortreten, die Landwirthschaft sehr rationell betrieben wird, die Ortschaften in ihren Theilen Wolstand und verbesserte Hofeinrichtung zeigen, und ein rühriges, gewerbliches Leben nach zahlreichen Richtungen hin stattfindet. Derjenige Reisende aber, welcher diese Gegend vor nicht ganz 10 Jahren besuchte und jetzt zum ersten Mal widerkehrt, findet eine so ungeheure Veränderung im äusseren Habitus, dass er ein völlig neues Leben erstanden sieht. Der unermessliche Reichthum an Braunkohlen, an fetten Kohlen

 

 

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293 von Gustav Sommer.

 

zumal, welcher erst seit kaum 10 Jahren aufgefunden ist und bereits tüchtig verwerthet wird, hat auch alles Andere umgewandelt. Die Verkehrsmittel sind vermehrt und verbessert, Chausseen auf lange Strecken, ja sogar einzelne Communicationswege gepflastert, Eisenbahnen angelegt, und da dem Landbesitzer neue, wesentliche Fonds gegeben sind (pro Morgen 500 — 700 Thlr.), an die er früher nicht im Traum gedacht hat, ist auch so viel an neuen Häusern erbaut, an alten umgebaut, dass die ganze Umgegend ein durchaus neues, modernes Kleid angezogen hat, während das aus früheren Zeiten Herrührende allmählich verschwindet. Zu den fortschreitenden Umwandlungen tragen sehr wesentlich die Separationen der Fluren bei, welche eine rationellere Bewirthschaftung von Grund und Boden im Auge haben, indem für die jetzigen Grundsätze die alte Form und Lage der Acker- und Wiesengrundstücke in so mancher Beziehung unzweckmässig erschienen ist. Die Wege von Ort zu Ort (Communicationswege), oder nur zum Grundstück (Feldwege, Wirthschaftswege) werden dabei nur von der regelmässigen Form der Pläne abhängig gemacht und gerade gelegt, ohne Rücksicht auf Kürze des Weges oder bequemere, trockenere Lage desselben dem neuen Wege, dem neuen Grundstück vielleicht geradezu Zwang angethan, so dass oft grosse Ausgaben und Mühwaltungen zur Erreichung des vorgesteckten Zieles erforderlich werden.

 

Auf diese eben auseinander gesetzte Weise verschwindet so das Alterthümliche der früheren Feldeintheilung, welche neuerdings mannichfach Veranlassung gewesen ist zu ausführlichen Abhandlungen (Dr. Landau, Jacobi u. And.) Wenig Jahre nur werden vergehen, dann werden die Separationen, weil eifrig betrieben, zu Ende sein, aber auch nichts mehr von der früheren Feldeintheilung erkannt werden können; diese verfällt dann in den Bereich der Sage. Die bessere Ausnutzung des Ackerlandes um einer höheren Rente willen führt auf Zusammenlegung der Pläne, auf regelmässige, leicht zu übersehende Planformen, Einebenung von Hohlwegen und Abtragen von Terrassen, zu Ausholzungen an steilen Bergabhängen (dies Letztere selbst mit nur zweifelhaftem Nutzen). Die bessere Ausnutzung der Wiesen andrerseits beseitigt alle Weiden, Erlen, Pappeln, verlegt Entwässerungsgräben,

 

 

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294 XV. Archäologische Wanderungen

 

führt zu grösseren oder geringeren Regulierungsarbeiten.

 

Hünengräber verschwinden, als dem Landwirth höchst „lästige“ Gegenstände, besonders wenn ein Landbesitzer dieselben mitten in seinem Plane überwiesen bekömmt und seine Rechnung auf grösst möglichsten Ertrag auch auf diese in der Regel nur wenig Quadratruthen haltende Fläche gerichtet ist. Solche für die Geschichte unserer deutschen Vorfahren so interessante Hügel sollten doch geschützt und auf ewige Zeiten erhalten oder wenigstens für die Wissenschaft nutzenbringender ausgebeutet werden. Man sollte von Oberaufsichtswegen darauf bestellen, dass bei Separationen, oder wenn diese auch nicht vorliegen, die Hünengräber als Gemeindegut erklärt oder allenfalls zum Besten der Gemeinde verwerthet werden; niemand dürfte sich ohne höhere Ermächtigung daran vergreifen, und ist die Entfernung der Hügel wirklich eine Nothwendigkeit, dann müsste das etwa gefundene Werthvolle, nachdem die ganze Arbeit des Aufdeckens und Abgrabens unter Aufsicht eines Alterthumsforschers vor sich gegangen und genau beschrieben ist, in eine solche Sammlung einverleibt werden, wo für spätere Zeiten ein wissenschaftlicher Nutzen daraus entspringt. Es gibt in dieser Beziehung, wie die zahlreichen Nachgrabungen bewiesen haben, sehr interessante Funde, und wolle man es gestatten, dass in gegenwärtigen Zeilen (eigentlich nicht hierher gehörig) auf den sogenannten „Bahrenhügel,“ „Bahrenberg,“ (vielleicht richtiger mit Bornhügel, wie Bornhök, bezeichnet) auf der fiskalischen Wiese des Stiftungsgutes Nägelstedt bei Langensalza aufmerksam gemacht wird. Die Tradition hat fortwährend diesen, mitten in einer Wiesen-Niderung belegenen Hügel von etwa 40 Ruthen Länge, 20 Ruthen Breite, 10 Fuss Höhe als Todtenhügel bezeichnet, indem die 13,000 Gefallenen nach der vom König Heinrich IV. am 11. Juni 1075 den Sachsen und Thüringern gelieferten Schlacht hier begraben worden sein sollen. Neuerdings, indem er dem Pächter fortdauernd ohne Düngung vortreffliche Erndten von Oelfrüchten bot, ist er von Zeit zu Zeit durch Gärtner beraubt worden, um die überaus humusreiche Erde zu benutzen; auch werden fuderweise grosse Erdmassen abgefahren: es wäre wol möglich, dass auch Waffen

 

 

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295 von Gustav Sommer.

 

u. dgl. aufgefunden würden, weshalb eine Ueberwachung des Hügels auch an dieser Stelle räthlich erscheint. Wir erwähnten diesen Punkt, weil über die Umgegend von Langensalza so gut als gar nichts mitgetheilt und doch daselbst so viel Interessantes vorhanden ist. Bei Langensalza gibt es noch mehrere unversehrte Hünengräber, dort mit „Rangenhügel“ bezeichnet.

 

Alte Wüstungen von Dörfern, vor der Separation der Fluren noch leicht kenntlich, werden zu Land gemacht und sind in der Regel innerhalb höchstens zweier Jahre ganz verschwunden. Man sollte doch auch dieses möglichst überwachen, mindestens darauf hinzuwirken suchen, dass in die Archive oder Alterthumssammlungen Auszüge aus den Flurkarten geliefert werden, und zwar aus den Brouillonkarten, woraus alte Wüstungen, Hünengräber, oder überhaupt historisch-wichtige Stellen deutlich zu entnehmen sind, worauf dann immerhin, nachdem die Wissenschaft befriedigt ist, eine Umwandlung vorgenommen werden mag, die einmal nicht zu verhindern ist. In der Regel sind darin die Namen alter Fluren genau registriert.

 

An Alterthümern wird in hiesiger Gegend selten etwas gefunden, hin und wieder aus der Steinzeit der Kelten: Hämmer, Aexte, Abhäutegeräthe, aus späteren Jahrhunderten wol auch Münzen, Pfeile, Schwertstücke, Sporen, selten haben diese Dinge das Glück sorgfältiges Aufbewahrens und Beschreibens.

 

2. Die Städte hiesiger Gegend haben für die Jetztzeit wenig Alterthümliches aufzuweisen; wir werden vorläufig hier nur Zeitz und Lützen besprechen, da die kleineren Schkölen, Stössen, Osterfeld, Hohenmölsen, Teuchern mehr in die Kategorie offener Marktflecken gehören, keine Ringmauern, Gräben, Thore und Stadtthürme besitzen und allenfalls Ruinen von Herrensitzen, Schlössern u. dgl. enthalten. Weissenfels überlassen wir vorläufig einem anderen Historiker. Zeitz gehörte zu den stärker befestigten Städten wegen der hohen, freien Lage und hatte desshalb starke Ringmauern mit erhöhten Gängen hinter den Zinnen und mit Schiesscharten darunten, von dem fahrbaren Wege längs der Mauer aus zu bedienen; die Aussenseite durch tiefe Wallgräben, die Thore verdoppelt, durch Brückenköpfe geschützt. Von allem diesem verschwindet immer mehr, die Thore von Zeitz sind bis

 

 

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auf eins (das schlechtere, welches in der Kürze ebenfalls abgetragen werden wird) beseitigt, dafür zierlichere Thore mit Gittern gebaut und von den Ringmauern und Gräben wird bald gar nichts mehr zu sehen sein, indem auch sie der Vergrösserung der Stadt, der Communication mit den Vorstädten hinderlich werden. Lützen war für den ersten Anlauf, ähnlich wie Pegau, auch durch Mauern, Gräben, Thürme und Thore geschützt, hat von diesen Befestigungselementen jetzt aber ebenfalls nur sehr wenig aufzuweisen: es ist nur das geblieben, was eben bisher anderen Zwecken und Ausnutzungen nicht hinderlich war.

 

3. In Betreff der Dörfer ist noch manches an die früheste Vorzeit Erinnernde zu ersehen. Wie schon fast alle Ortsnamen hiesiger Gegend mit Sicherheit verrathen, dass hier Niderlassungen von Sorben - Wenden (Slawen) gewesen, zu denen nach der Germanisierung nur wenig Deutsche gekommen sind, so ist dieses aus der bereits an andern Orten viel besprochenen Dorfform leicht herauszufinden. Zuweilen hat sich der Dorfname deutsch verändert, aber die Hofgruppierung verräth ein Anderes.

 

Das grosse uralte Volk der Slawen, oder wie sie Max Müller (in seinen Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache I. S. 166) allgemein lieber mit dem Namen der Wenden oder Winden bezeichnet, „da Winidae einer der ältesten und umfassendsten Namen ist, unter welchem diese Stämme den älteren Historikern bekannt waren,“ war in seiner vorzugsweise der Landwirthschaft ergebenen Beschäftigung ein durch und durch praktisches Volk, wählte mit Umsicht die brauchbarsten, passendsten Plätze für Ansiedelungen und gruppierte die Höfe auf Grund seiner socialen Lebensweise ziemlich constant nach denselben durch Alter und Bewährung geheiligten Gesetzen rund um einen, in der Regel mit einem kleinen Teiche versehenen, freigelassenen Dorfplatz, nur einen einzigen Zugang von der in einiger Entfernung daran führenden Strasse aus enthaltend, welcher im gemeinen Leben mit „Sackgasse“ bezeichnet wird. Da die Wenden (Slawen) auf staatliche Centralisation gar nichts gaben, still hin lebten, fast immer zufrieden mit dem, was sie seit Jahrhunderten besassen, darin auch wol kaum je ernstlich gestört wurden, wie das jahrtausendlange, fast unbemerkte, Ansitzen in der östlichen Hälfte von

 

 

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Europa und das Fehlen aller derartigen Mittheilungen alter Schriftsteller genügend beweist, so genügte ihnen das Selfgovernment der Gemeinden. Eigenthümlich ist daher auch die geringe Grösse der wendischen (slawischen) Dörfer, welche fast nur (ursprünglich nämlich) aus 5 bis 6 oder 7 gleichgestalteten Gehöften bestehen, die mit ihren Schmalseiten, den Giebeln der Wohnhäuser und den Thorwegen, sich der Ringlinie um den Dorfplatz anschliessen, und deren Grenzabtheilungen radial nach Aussen, (fast immer sogar bis an die Flurgrenze) laufen. Anfänglich mögen die Vertheilungen solches Besitzes ganz gleich ausgefallen sein und sind nur im Laufe der Zeiten vergrössert oder verkleinert, weil die Bevölkerung wuchs oder abnahm, hier oder da Familien ausstarben, oder durch Trägheit verarmten oder verschuldeten; daher hat die constante Dorfform hin und wider gelitten und ist den neueren Bedürfnissen des Lebens oder Verkehrs entsprechend umgewandelt, die geschlossene Form nach der Richtung durchbrochen, wo eine Verbindung mit der Aussenwelt nöthig erschien. Am meisten findet sich die Form des Dorfplatzes wie Ω oder Π, allein ausnahmsweise auch lang gestreckte Gassen, da wo man keinen Teich inmitten des Dorfes anzulegen nöthig hatte, sondern einen vorüberfliessenden Bach oder Fluss benutzte. Nicht sowol als eine fernere characteristische Form, wie vielmehr als eine Multiplication von wendischen Dorflagen findet sich noch zahlreich vertreten die Weise, dass (vielleicht durch die Aufsuchung von Wasser geboten) zwei bis 6 Rundlinge sich an einander reihen, welche auch jetzt noch mehr oder weniger sichtbar erscheinen, je nachdem Zwischenbauten ausgeführt sind oder nicht. Am deutlichsten zeigt noch das an der preussischen Grenze gelegene sächsische Dorf Stöntzsch diese Form, wo sechs an einander gefügt sind.

 

Wir theilen als Beispiel einer Dorflage der Sorben-Wenden nachfolgenden Grundriss von Ober-Nedissen, südöstlich von Zeitz, mit; es ist aus ihm zu ersehen, wie bei a der ursprüngliche, alleinige Eingang in das Dorf gewesen und dass bei b, c, d Durchbrüche stattgefunden haben, wie sich die Radial-Gruppierung um einen unregelmässig viereckigen Platz gestaltet, der Teich inmitten jedoch nur in Spuren zu ersehen ist.

 

An jedem „Rundling,“ wie man jetzt die wendische Dorfform

 

 

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Abbildung: Grundriss von Ober-Nedissen

 

 

benennt, finden sich hauptsächlich folgende wesentliche einzelne Bestandtheile:

 

a) der Eingang in das Dorf. — Indem die wendische Dorfform ausser dem socialen auch noch einen gemeinschaftlichen Vertheidigungszweck hatte und alle gleichlangen Gärten mit einem undurchdringlichen Zaun geschlossen wurden, der sowol Menschen als Thieren den Eingang von hinten erschwerte, so bot dieser einzige Zugang zum Dorfplatz die Möglichkeit guten Verschlusses oder der Aufstellung eines Wächters oder eines Hundes.

 

b) der Dorfplatz. — Während der Eingang schmal sein konnte, entsteht hier das Bedürfniss einer Erweiterung, um in alle Höfe gelangen, von ihnen heraus bequem umlenken zu können und Raum für Versammlungen aller Art vor den Häusern zu haben. Die Grösse dieses Platzes findet sich daher verschieden, und mehr oder weniger ausgebildet und geschmückt, Rasenplätze, einen Teich, Pfuhl mit Federvieh und als Wasserreservoir für Feuersgefahr einschliessend, von Bäumen umstanden. Die Böhmen und Polen bezeichnen die Dorfplatz mit „náwes,“ auf deutsch „im Dorfe „auf dem Dorfe.“

 

c) das Gehöft, die Baustelle, die Hofrheite. — Dasselbe wird eingenommen von dem Wohnhaus, welches mit seinem Giebel an

 

 

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den Dorfplatz stösst und nach ihm hin selten mit einem sogenannten Vorhaupt, Hausgarten, versehen ist; an das Wohngebäude anschliessend ein längeres Stallgebäude für die vorliegenden Wirthschaftszwecke; und am Ende, den Hof abschliessend, die Scheune.

 

d) Durch die Scheune oder seitlich derselben gelangte man in den Garten, welcher meist Grasgarten war und mit Obstbäumen bepflanzt wurde. Dieser Gartencomplex um das Dorf wurde mit „Klanzei,“ „Klenzig“ bezeichnet, es ist dieses Wort aber nicht wol sprachlich zu begründen, da die heute dafür aufgesuchten Wörter zum Theil einen andern Sinn geben, daher eine gewaltsame Etymologie herbeigezogen werden muss. Unmöglich werden dabei die Sorben- Wenden an ein Gewölbe, an Keile, Kreissegmente u. dgl. gedacht haben, höchst wahrscheinlich hat sich der eigentliche Name verloren, und noch wunderlicher ist die Bezeichnung und Benennung mit dem Worte Kleinod.

 

e) Hinter dem Dorfzaun findet sich häufig oder immer ein Rain von grösserer Breite als Hütung und um den Zugang nach der Länderei zu vermitteln.

 

f) Das Prising. — Der Ort, wo vermöge besonderer Fruchtbarkeit oder Cultur des Bodens Sämereien, Gemüse, Kraut u. dgl. gezogen, und worauf ganz besonders Werth gelegt wurde. Wendisch ist das Wort entschieden nicht und lässt sich nur nidersächsisch erklären, indem die Leute sagen: „dät is mie Prising;“ schwerlich ist es von Prsnj, die Brust betreffend, abzuleiten.

 

Soviel über die in hiesiger Gegend vorgefundenen Dorfformen. Auch diese verändern sich vor den Augen und nach jetzigen Bedürfnissen, die Sackgassen werden durchbrochen, die freien Plätze, wenn sehr geräumig, bebaut durch Kirche, Pfarre, Schule, oder auch Privatgebäude, die vorbeiführende Strasse, der Communicationsweg erhält Gehöfte statt der Rückseite der Gärten.

 

4. Schwieriger ist es, eine volksthümliche Einrichtung der Gebäude herauszufinden. Ursprünglich von Holz, in Form von Fachwerk, oder von Erde (Pisé) sind diese Constructionen zu wandelbar, als dass sie nicht nach wenig Jahrhunderten Umbauten erfahren müssen, die unwillkürlich anderen Formen, anderem Geschmack unterliegen, und gegenwärtig im 19. Jahrhundert scheint der letzte Rest als nicht zeitgemäss beseitigt zu werden.

 

 

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Es würde zu weit führen, die verschiedenen Formen einzeln zu besprechen und durch nothwendige Zeichnungen zu erläutern. Nur eine Eigenthümlichkeit findet sich vorzugsweise an den meist zweistöckigen Wohnhäusern anzuführen, welche sie mit den einstöckigen in Polen fast durchaus gemein haben: die Wohnstube im Erdgeschoss, als wichtigster Raum, ist in der Regel durch eine Bohlwand eingefasst, um dem Zimmer mehr Wärme zu bieten. Nach Verminderung der holzspendenden Wälder wird diese Bohlwand nach ihrer Baufälligkeit durch Pisé ersetzt, (Füllwand, Fuhlwand wie die Leute sagen), und da entsteht dann die eigenthümliche Praxis, dass die obere, aus Fachwerk bestehende Etage nur auf einzelnen, verdoppelten Säulen aus Holz, gehörig verstrebt, ruht, diese Säulen aber vor der inneren, für sich ausgeführten Wand vorstehen und stets als Stützen fest stehen bleiben, wenn eine Reparatur der unteren Wände hinter den Säulen vorgenommen werden muss. An sich sinnreich und durch die Nothwendigkeit geboten, wird doch gegenwärtig der Massivbau so allgemein vorgezogen, dass je eher je lieber die alte Construction cassiert wird. Nicht vergessen darf dabei werden, dass, wie in der Regel an Holzgebäuden, sich auch hier hin und wider Inschriften befinden, welche in das Holz eingeschnitten sind und den Namen des Besitzers, die Zeit der Erbauung und die Angabe des Grundes zum Umbau (etwa Feuersgefahr etc.) enthalten; sonstige werthvolle oder interessante Zierrathen haben wir nirgends gefunden. Die Inschriften gehören meist in das 17. oder 18. Jahrhundert.

 

Ueber die verschiedenen Hof- und Gebäudeformen dürfte die Dr. Landaw’sche Abhandlung nachzulesen sein, welche sich durch zahlreiche Skizzen verdeutlicht im Jahrg. 1862 des Corresp.-Blattes findet.

 

5. Wenn die Abstammung vom wendischen Volksstamme noch vielfältig aus der wendischen Dorflage und hin und wider im Hausbau zu erkennen ist, so ist dieses auch aus den Ortsnamen zu beweisen. Die Ortsnamen hiesiger Gegend, wie eines grossen Theils der östlichen Hälfte Europas zwischen dem schwarzen Meere und der Ostsee, sind daher neuerdings mit Recht einer specielleren Untersuchung unterzogen worden, um linguistische

 

 

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und ethnographische Aufschlüsse zu erlangen. Die hiesige Gegend zumal gehört zu den Grenzen der wendischen (slawischen) Ansiedlungen, wo in gewisser Beziehung eine Art von Brandung sich bildete, die theils an die deutschen, theils an die wendischen Idiome anschlug, in Folge deren zahlreiche gewaltsame oder unwillkürliche Aenderungen, Abschleifungen, Verbrechungen an den Sprachdenkmalen vorgenommen wurden. Es ist deshalb ebenso schwierig als interessant, lohnend und wichtig, die einzelnen Namen einer Betrachtung zu unterziehen. Sind diese, da eine Litteratur der Wenden aus dieser Zeit nicht existiert, doch fast das Einzige, was aus jenem Sprachen-Processe auf uns gekommen ist. Das unaufhaltsam cultiviererde Element der Deutschen siegte über das Wendische, die Conversation, die Litteratur wurde deutsch, und wird bekanntlich in Kurzem auch in dem letzten Rest der beiden Lausitzen obsiegen, doch blieben, scheinbar als gleichgültige, unschädliche Dinge, die Orts- und Familiennamen entweder ganz unverändert, oder nur zum Theil verändert, oder vertauscht zurück.

 

Denkmale der Litteratur sind leider aus dieser frühen Zeit gar nicht vorhanden. So spärlich als sie jetzt sind, gehen sie nicht weiter als 150 - 250 Jahre zurück. Es ist deshalb auch nicht möglich, die Ortsnamen einer Vergleichung mit solchen Schriftproben zu unterwerfen, welche zu gleicher Zeit blüheten. Die Vergleichung wird lückenhaft, gewagt, bleibt aber immer höchst interessant und lohnend. Freilich müssen dabei verschiedene Dialekte, das Serbische, Böhmische, Polnische u. a. m. zu Hilfe genommen werden, da so viele gleichklingende Ortsnamen im Süden, wie im Norden gefunden werden.

 

Zwischen der Einwanderung der Kelten (nach Holtzmann der allgemeine Name für Gallier, Germanen etc.) von Asien her, und der der Wenden (Anten, Slawen) aus gleichem Ursitze, müssen viele Jahrhunderte liegen und jedes dieser grossen Völker viel früher in denjenigen Theilen Europa’s, wo sie die Geschichte auffindet, sesshaft geworden sein, als man bisher gewohnt war anzunehmen. Die Verbreitung muss nach allen Seiten ziemlich ungehindert stattgefunden haben, so dass die alten Schriftsteller niemals von einem Verkehr unter einander, von einem Bekriegen

 

 

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berichten, wodurch die Entwickelung, das Wachsthum und die Ausbildung der betreffenden Sprachen ungestört vor sich gehen konnte und diejenigen Formen sich befestigten, welche in der historischen Zeit zu Tage treten. Aus diesem Mangel an Verkehr entspringt auch die geringe Wichtigkeit der Namen, die man den Völkern, Gegenden, Personen zur Zeit gab, die vielfache Widerholung derselben unter analogen Verhältnissen. Wie bei allen Urvölkern bezeichnet der Name jederzeit die Sache, eine nähere Eigenschaft des Gegenstandes, unbeschadet seiner Unterscheidungen, deren Nüancen bei dem Mangel gründlicher Kenntniss der alten Sprachen der gegenwärtigen Menschheit grösstentheils unverständlich sind. Da die Lage von Ortschaften bei aller Aehnlichkeit unter sich doch auch immer kleine Unterschiede aufweist, so musste dieses ganz unbestritten auch in dem Ausdruck enthalten sein, wozu noch der gewichtige Umstand hinzutritt, dass diese Ausdrücke, Bezeichnungen, Benennungen, — kurz alle Orts- und Familiennamen nicht von gelehrten Sprachforschern erfunden oder construiert wurden, sondern vom Volksmunde selbst, der in seiner Naivität und Praxis von selbst das Richtige traf. Jetzige Forschungen müssen daher stets diesen einfachen Umstand ganz allein im Auge behalten, wenn es auch den Sprachgelehrten schwer fällt, sich von grammatikalischen Formensatzungen zu trennen, die die Erklärung ganz unnöthig erschweren. Wie vielerlei Namen musste man z. B. für die verschiedenen Gattungen von Bergen, Hügeln, Anhöhen; von Thälern, Schluchten, Niderungen; Wiesen, Sümpfen; Haideplätzen, Weiden u. dgl. haben, je nachdem die Form, die Lage, die sonstige Eigenschaft eine etwas andere war. Waren es einerseits auch geradezu neue selbständige Wörter, so benutzte man auch andererseits vorhandene durch vorgesetzte oder angehängte Sylben, durch Präpositionen, bildete Adjective oder Diminutive und Collective.

 

In ihrer reinen, ursprünglichen Form sind freilich die Ortsnamen nicht immer, ja selten, geblieben, obschon auch hierin das cultivierende deutsche Element Duldsamkeit ausübte. Eher verändern die Wenden, Polen, Czechen die Namen, als die Deutschen. Eigennamen sind überhaupt, wie Förstemann sehr richtig sagt, in gewissem Sinne Privateigenthum, und daraus erklärt sich zum

 

 

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Theil ihr der übrigen Sprache gegenüber eigenthümliches Verhalten, namentlich ihr alterthümliches Gepräge, da sie weniger als der übrige Sprachschatz dem allgemeinen Gebrauche und der Abnutzung ausgesetzt sind. Die sociale Einrichtung der Dorflage und der geringe Verkehr der Leute führt es ferner mit sich, dass Familiennamen um so weniger dem Orte den Namen gegeben haben, als Familiennamen überhaupt erst im 12. Jahrhundert aufkamen, die Ortsnamen urkundlich jedoch schon viele Jahrhunderte früher bestanden. In einzelnen Fällen finden sich Anklänge an Volksstamm -Namen, an Götternamen, doch ist die sichere Nachweisung stets schwierig, fast immer bedeutet der Name die Sache.

 

6. Gehen wir nunmehr auf die Gebäude, welche alterthümliches Gepräge besitzen, über, so sind es vorzugsweise die Kirchen, welche den Stoff zu einer Beschreibung liefern, da sie vermöge ihres allgemeinen Gemeinde-Zweckes und wegen der dazu verwendeten dauerhafteren Materialien weniger der Umwandlung unterworfen sind, und daher vielfach in mehr oder weniger ursprünglicher Form auf uns gekommen sind. Ausser den Kirchen sind es Rittersitze, Thürme und Mauern derselben, in Städten vielleicht auch Brücken, städtischen Zwecken dienende öffentliche Gebäude, Wohnungen von Patriciern, Brunnen u. dergl., welche vielleicht etwas Alterthümliches zeigen. Die Wohnhäuser aber und Wirtschaftsgebäude, vorübergehendem Bedürfnisse unterliegend und oft nur von geringen Mitteln abhängig, sind in den seltensten Fällen von archäologischem Interesse, da ihr Alter höchstens in das 16. Jahrhundert zurückreicht. Vermöge ihrer veralteten Einrichtung entsprechen sie den jetzigen Bedürfnissen nicht mehr und müssen daher zusehends totalen Umbauten weichen, wie auch ihre Bauconstructionen grösstentheils wandelbar sind und nur kurzen Zeiträumen dienen können.

 

Die ursprünglichen, mit der Einführung des Christenthums nothwendig gewordenen Kirchen müssen von Holz construiert, oder andere Räume zum Gottesdienst benutzt worden sein, da sich die ältesten Kirchenbauten höchstens in das Ende des 11. oder den Anfang des 12. Jahrhunderts zurück versetzen lassen. Die Gemeinden waren zur Zeit klein, der (katholische) Gottesdienst damaliger Zeit begnügte sich mit Capellen, deren Eingangsthüre bei Menschen-Andrang

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offen stand, wie noch jetzt, wenn nicht gar der Gottesdienst mittels tragbarer Altäre in das Freie, auf den Platz vor der Capelle verlegt wurde, um Raum zu gewinnen. Genug, die ältesten Dorfkirchen waren capellenartige Kirchenformen, mit einem kleinen, dachreiterähnlichen, oder gar keinem Thurme. Die ältesten Thürme datieren daher höchstens aus dem XII. Jahrhundert, um so mehr, als auch erst in dieser Zeit die Einführung grösserer Glocken allgemeiner wurde, welche weitere Thurmräume verlangen. Der früheste Gottesdienst des Mittelalters bedurfte keiner hellen Kirchen, daher haben die ältesten Kirchen kleine Fensterchen in Form von Mauerschlitzen, wie sich noch jetzt viele, namentlich in den halbkreisrunden Altarnischen vorfinden. So klein nun auch manche Kirchen waren, so erforderten doch die Thürme der Glocken wegen, welche zu 2 bis 3 neben einander hingen, eine grössere Räumlichkeit im Innern, und so entstand das so oft empfundene, wenn auch aus innerer Nothwendigkeit entsprungene Missverhältniss zwischen Thurm- und Kirchengrösse, das in ästhetischer Beziehung unangenehm wirkt und erst heutzutage öfters in das rechte Geleise kommt, wenn dem noch benutzbaren alten Thurme ein grösseres Kirchenschiff angefügt wird. Dieses Benutzen älterer noch benutzbarer Theile aus ökonomischen Gründen ist in allen Jahrhunderten ausgeübt, wie sich an vielen Orten zeigt, daher diese gemischten Bauten, die Verunzierung älterer classischer Formen durch die zopfreichste Renaissance, Unbilden der kläglichsten Art, und wenn auch nur mittelst viereckiger Fenster und Thürme in die Spitzbogen-Nischen, Aufstellung von Altären, Canzeln und Taufständern, sowie Orgelprospecten und Emporen in Rococco-Schnörkeln, geschmacklosen Bemalungen, Behängungen, Tapezierungen; daher auch die im XVII. Jahrhunderte so allgemein gewordenen schwedischen Thurmhauben in allen nur möglichen Schnörkeln, Schwingungen und Verkröpfungen.

 

Wie angedeutet, findet sich jene dicke Thurmform, namentlich von oblongem Grundplan (so breit als das Kirchenschiff, so tief, dass die Glocken gut ausschwingen können) sehr vielfach vertreten, von kleineren Dimensionen und auch sogar von grossen über das innere Bedürfniss hinaus (Petersberg bei Halle). Für solche Grundpläne eignen sich Hauben oder Pyramiden als Spitzen

 

 

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gar nicht, sondern entweder Satteldächer mit massiven, abgetreppten oder glatten Giebeln, oder hohe abgewalmte, von hier beigezeichneten Formen, mit oder ohne Dachreiter auf der Forstlinie, mit oder ohne kleinen abgespitzten Erker auf den Langfronten der Thurmseiten.

 

3 Abbildungen von Dachformen

 

Auf den ungleichen Seiten gibt es also auch verschiedene Zahlen von Fenstern oder Schalllöchern. Es muss zugestanden werden, dass Grundpläne von rechteckiger Form nicht wol anders abgedacht werden können, und dass diese Dachform der architektonischen Abbildunge in weites Feld darbietet. In Fällen der Gegenwart, wo es darauf ankam, alte Kirchen zu restaurieren oder umzubauen, blieb aus diesen Gründen nichts anderes übrig als geradezu bei kleineren Kirchen rechteckförmige Grundpläne den Thürmen zu geben, damit die Glocken gehörig ausschwingen können: man stösst bei den oft widerspenstigen Kirchengemeinden mit diesen Formen weniger an, als mit schlanken, engen der geringen Schiffgrösse entsprechenderen Thürmchen.

 

Ein gleicher Kampf um Formen hat sich zu allen Zeiten darin gezeigt, womit die Spitzen der Thürme, der Thurm- und Kirchengiebel zu schmücken, abzuschliessen sei. In der Regel verlangten die Gemeinden zu allen Zeiten „Wetterfahnen auf Knöpfen“, die Knöpfe zur Einlegung von Urkunden bestimmt. Das der Kirche entsprechende Kreuz findet sich vielfältig nicht vor, und findet auch gegenwärtig Schwierigkeit in der Anwendung; es bleibt oft nichts anderes übrig, als Beides anzubringen, Kreuz auf Wetterfahne, weil sich die Bauern einen Thurm ohne die gemüthliche Wetterfahne, diesen treuen Rathgeber und Freund in der Noth, nicht denken können. —

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Soviel sei als Allgemeines den nun folgenden Schilderungen vorausgeschickt, um nicht vorzugreifen. Doch behalten wir uns vor, über einige Gegenstände am Schlusse noch besondere Zusammenstellungen zu geben, z. B. über die Glocken, Altäre, Taufsteine u. dergl., nachdem alles Einzelne besprochen ist.

 

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Quelle: Gustav Sommer. Archäologische Wanderungen in den Königlich Preussischen Landräthlichen Kreisen Zeitz, Weißenfels und Merseburg während der Jahre 1856 bis 1866

Neue Mittheilungen aus dem Gebiet historisch-antiquarischer Forschungen 11. Bd (1865) S. 289-306

Fortsetzungen in 11. Bd. (1865) S. 306-334, 12. Bd. (1869) S. 126-149, S. 386-420, 13. Bd. (1874) S. 111-128.

 

Auf die eingescannte Zeitschrift einschließlich der ausgelassenen Abbildungen kann über das Journals-Portal (journals@UrMEL) der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena unter folgendem Link zugegriffen werden:

https://zs.thulb.uni-jena.de/rsc/viewer/jportal_derivate_00211535/neumittaudeg_1865_11_0292.tif

 

 

 

 

Leizmann 1845: Antipathien zwischen teutschen und slavischen Volksstämmen

Antipathien zwischen teutschen und slavischen Volksstämmen mit besonderer Beziehung auf Russland.

 

Von Dr. Friedrich Leizmann.

 

Lemgo und Detmold, Meyer'sche Hof-Buchhandlung 1845.

 

 

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Vorwort.

 

Ein in kräftiger Entwicklung begriffenes Volk, das wenigstens in seinem Kerne noch in unverdorbener Jugend steht, das aber schon mit allen Kräften nach Eroberungen ringt, die innerhalb seiner selbst auf den friedlichen Pfaden der Bildung und Menschlichkeit zu vollbringen sind, gehört zu den erhabensten und interessantesten Schauspielen der Geschichte und bleibt in jedem Falle für den denkenden Beobachter eine höchst lehrreiche Erscheinung. Einem solchen Volke aus unmittelbarer Nähe zuzusehen, wie es sich bestrebt gewissen Gestalten des socialen Lebens und gewissen Ideen des Fortschrittes, die bei andern Kulturvölkern schon längst Gemeingut der großen Menge geworden sind, Eingang und Heimathsrechte in seiner eigenen Mitte zu verschaffen, gewährt einen ganz eigenthümlichen Reiz, den diejenigen unter uns unmöglich kennen können, die niemals auf längere Zeit aus den vaterländischen Kreisen herausgetreten sind. Wenn es nun einerseits wahr ist, daß in Europa das russische Volk einem solchen Volke am nächsten kommt, so darf der Verfasser der gegenwärtigen Schrift andererseits aufrichtig versichern, daß er jenen Reiz während seines Aufenthaltes in Russland oft und stark empfunden hat, der verbunden mit dem wohlthuenden Gefühl des Mitwachsthums ihn vielleicht für immer an ein fremdes Volk gefesselt hätte, „wenn man das Vaterland an den Schuhsohlen mitnehmen könnte.“

 

 

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Dieser Reiz, der sich ihm während mehrjähriger Betrachtung oft genug erneuerte, hat zuerst in dem Verfasser die Lust erregt und das Bedürfniß geweckt, seine Ansichten über die gegenwärtigen Bildungsvorgänge im russischen Volke öffentlich auszusprechen. Ohne diese Veranlassung würde die Abfassung der gegenwärtigen Schrift niemals unternommen worden sein. Daß sich aber der Verfasser dabei auf einen so allgemeinen Standpunkt stellte, wie derjenige ist, welcher der nachfolgenden Schrift zu Grunde liegt, wird sich leicht vor denjenigen rechtfertigen lassen, die es der Mühe werth halten, die gegenwärtige politische Lage der europäischen Völker und Staaten näher in's Auge zu fassen. Uebrigens ist in dieser Schrift Vieles, was der Verfasser, der selbst mehrere Jahre russischer Beamter war, hätte sagen können, zurückbehalten worden, hauptsächlich aus dem Grunde, weil derselbe diejenigen Seiten russischer Staats- und Volkszustände, in welchen das Werden und Wachsthum eines Volkes am deutlichsten hervortritt, noch ganz besonders und umständlicher zu besprechen unternommen hat. Somit dürfen die folgenden Blätter nur als Vorläufer zu ähnlichen und verwandten Erscheinungen angekündigt werden.

 

Der Verfasser.

 

 

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Seit dem frühesten, historischen Zusammentreffen teutscher und slavischer Volksstämme hat zwischen beiden ein schroffer Gegensatz und eine gehässige Feindschaft obgewaltet, die ihnen neuerdings wieder bestimmter ins Bewußtsein getreten zu sein scheinen. Der Grund davon ist klar und liegt jedermann vor Augen! Auf der einen Seite die täglich wachsende Macht und Bedeutung eines großen slavischen Reiches; auf der andern die Besorgniß vor möglichen Eroberungsentwürfen des letzteren nebst dem Gefühl der eignen Unsicherheit, weniger durch Mangel an Kraft als durch das Bewußtsein um innere Haltlosigkeit im heimischen Lande erzeugt; auf beiden Seiten endlich das Wiedererwachen nie ganz entschlafener, nationaler Antipathien, die nicht minder in der Erinnerung an die Vergangenheit, wie durch die politische Weltlage der Gegenwart, mannigfaltige und reiche Nahrung finden.

 

Was das Letztere betrifft, so haben zu allen Zeiten zwischen Völkern verschiedener Abstammung, Sprache, Sitte, Religion und Verfassung Antipathien und zwar sehr starke bestanden. Wie sollten diese nicht zwischen teutschen und slavischen Volksstämmen hervorgetreten sein, die wenn auch nicht seit den ältesten , historischen Zeiten doch gewiß noch vor denjenigen der Karolinger mit ihren Landesgrenzen unmittelbar zusammenstießen oder sich gar gegenseitig ganze Ländergebiete streitig machten, und die schon durch diese geographische Stellung zu einander Veranlassung genug zu wechselseitigem Unfrieden, Streit und Kampf fanden.

 

Man wird zugestehen: In dem früheren Entwicklungsgange des europäischen Völkerlebens sind Umstände eingetreten, die zwischen die Völkerschaften teutscher und slavischer Abkunft nothwendig den Apfel des Haders und der Zwietracht werfen mußten! Nicht allein die Verschiedenheit der Abstammung, Sprache, Sitte und Religion wirkten dahin;

 

 

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sondern auch die durch ihre geographische Stellung zu einander bedingte Art ihrer fortdauernden, gegenseitigen Berührungen; und wo slavische Staaten und Reiche mit Selbstständigkeit empor kamen, der fremdartige, fast außereuropäische Charakter ihrer Verfassungen und Regierungen.

 

Die teutschen Volksstämme drangen aus dem Nordosten Europas in die historisch lichte Welt hervor, überschritten die Grenzen des in seinem Innern zerrütteten, römischen Reiches, bemächtigten sich seiner schönsten Provinzen und gründeten allda in Italien, Spanien, Gallien u. s. w. nach väterlichen Satzungen und Weisen neue Staaten und Reiche, die bald alle der christlichen Welt angehörten, wie dieser von Rom her allmälig Fassung, Halt und Gestalt gegeben wurde! Unter diesen teutschen Volksstämmen, die innerhalb des römischen Imperatorenreiches ansäßig geworden waren, gelang es allein den Franken, ihre Macht zu befestigen und ihrem Staatswesen dauernden Bestand und eine große und allgemeine Bedeutung für die Geschichte der europäischen Menschheit zu erringen. Denn seitdem dieselben die Gefahren, welche von den Arabern drohten, für immer von ihrer Schwelle gewiesen, ja selbst als glückliche Eroberer im Südwesten unseres Erdtheiles weit um sich gegriffen hatten; seitdem sie dadurch mit dem Mittelpunkte der abendländischen Christenheit, mit Rom, in befreundete Beziehung gekommen waren, dessen Beschützung das Schicksal ihnen anvertraut zu haben schien: wendeten sie sich, nicht mehr bloß durch eigne Eroberungslust getrieben, sondern auch im Interesse der großen Angelegenheiten, die in der ewigen Stadt gepflegt wurden, den Völkern verwandter Abkunft zu und trafen hier, nachdem sie sich Thüringen unterworfen und ehe sie noch das mächtige Volk der Sachsen mehr durch die Gewalt der Waffen als durch die Macht der Wahrheit der christlichen Kirche und ihrem Reiche gewonnen hatten, an den Ufern der Sale und Elbe, und beide Flüsse aufwärts bis in die Gebirge, wo sie ihren Ursprung nehmen, zahlreiche, heidnische Volksstämme unter vielerlei Benennungen, die aber in ihrer Gesammtheit von den Schriftstellern jener Zeiten und den folgenden mit dem Kollektivnamen der Slaven bezeichnet werden. In der That war während jener Eroberungszüge germanischer Kriegsvölker und ihrer Heerkönige nach dem Südwesten der ganze Nordosten Europas, das große, sarmatische Flachland, wie die Römer es nannten, nebst

 

 

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vielen Landstrichen zwischen Weichsel, Oder und Elbe, das Erbe und das vollständige Besitzthum einer zweiten, großen Völkerfamilie geworden, die, obgleich durch alle wesentlichen Unterscheidungsmerkmale, welche Volk von Volk sondern, den teutschen Volksstämmen entgegengesetzt, doch gleich diesen in Gesichtsbildung, Leibeswuchs, Sprache und manchen andern Eigenthümlichkeiten den Charakter des europäischen Menschenschlages an sich trug, und wahrscheinlich in unserm Erdtheile, obgleich unter andern Namen, in uralten Zeiten heimisch war.

 

Diese gegenwärtig noch unter dem Namen der slavischen weit verbreitete Völkerfamilie umfaßte, als sie auf dem sichern Boden der Geschichte erschien, am Ende des fünften und im Anfange des sechsten Jahrhunderts zahlreiche und kriegerische Volksstämme in den ausgedehnten Ländern vom baltischen bis zum schwarzen Meere und zur Donau; von der Theiß und Oder bis zu den Ufern des Dnjepr. Den gleichzeitigen Geschichtschreibern zufolge zerfielen sie in drei Hauptstämme, in die Veneter, die zwischen dem baltischen Meere und dem karpathischen Gebirge wohnten; die Slavenen, welche von der Theiß bis zu den Ufern des Dnjestr und von der Donau bis zu den Quellen der Weichsel saßen; und die Anten, welche die Länder zwischen den Mündungen der Donau und des Dnjepr an den Küsten des schwarzen Meeres einnahmen.

 

Die frühere Geschichte dieser Volksstämme bis zu der Zeit, als einzelne Staaten durch sie gebildet werden, wie der böhmische, mährische, russische u. s. w. , ist entweder gar nicht oder nur sehr mangelhaft und bruchstückweise aus den gelegentlichen Berichten ihrer Feinde bekannt. Im sechsten und siebenten Jahrhunderte treten deutlicher als andere Zweige derselben die südlichen Slaven in den Donauländern hervor, welche bald gegen die Oströmer siegreiche Waffen tragen und in wilder Grausamkeit bis tief nach Griechenland hinein furchtbare Verheerungen anrichten, bald aber auch von den Oströmern auf eignem Boden schwere Niederlagen erleiden, oder wohl auch diesen letzteren einen Theil ihrer kampflustigen Mannschaft bald freiwillig, bald gezwungen zum Kriegsdienst überlassen. Die Verwandtschaft dieser südlichen Slaven mit denjenigen Volksstämmen, die unter gleichem Namen besonders im achten und neunten Jahrhundert an den Ufern der Oder und Elbe mit ähnlicher Kriegs- und Raublust auftreten,

 

 

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ist keinem Zweifel unterworfen. Da galt es denn für die teutschen Volksstämme , sich der fremden, von Osten nach Westen vorwärtsrückenden Andringlinge zu erwehren und die heimathliche Erde gegen jene slavischen Völkerschaften zu vertheidigen, die sich im achten und neunten Jahrhunderte in Pommern, Meklenburg, den Marken, durch Obersachsen nach Böhmen und Mähren hinein in großer Zahl und mit großer Kraft festsetzten, hier zum Theil besondere Staaten und Reiche gründeten und namentlich an den Ufern der Sale und Elbe immer weiter in die ursprünglich teutschen Länder einzudringen suchten, oder doch nach Thüringen und Niedersachsen häufige Raubzüge unternahmen.

 

Fortan zwischen Teutschen und Slaven ein wenig unterbrochener, lange Zeit fortgesetzter, blutiger Kampf von Karl dem Großen an bis auf den Untergang des großen, sächsischen Herzogthumes unter Heinrich dem Löwen. Dieser Kampf wurde anfänglich in manchen Gegenden, wie eben gesagt wurde, den teutschen Volksstämmen von der Pflicht der Selbsterhaltung und der Liebe zur heimathlichen Erde geboten. Es ist bekannt, welche Anstrengungen es z. B. den Thüringern und Franken kostete, um das weitere Vordringen slavischer Volksstämme und deren Verheerungszüge von sich abzuhalten. Allein dieser Kampf verwandelte sich schon unter den ersten sächsischen Kaisern von Seiten der Teutschen in einen Kampf der Eroberung und Unterwerfung, und artete schließlich in einen mit großer Bitterkeit geführten Bekehrungskrieg aus, durch welchen zwischen Slaven und Teutschen glühender Volkshaß auf das heftigste entzündet wurde! Denn die Absicht und die Plane der teutschen Könige und Kaiser gingen seit Anfang des zehnten Jahrhunderts ganz offen darauf hin, zunächst die slavischen Anwohner der Elbe und weiter östlich nicht nur zu einem neuen, unbekannten Gott zu führen, sondern auch Anstalten, Einrichtungen und Gebräuche in deren Lebensmitte zu verpflanzen, die sich durch den Einfluß des römischen Kirchenwesens und durch die Einwirkungen römischer Bildung zunächst bei den Franken festgesetzt hatten, die aber schon den freiheitliebenden Sachsen äußerst drückend und gehässig erschienen waren. Schon Otto der Erste gewann eine ähnliche Stellung zu den slavischen Völkern jenseit der Elbe, wie diejenige war, welche sich Karl der Große in Bezug auf die Sachsen besonders in kirchlicher Hinsicht erkämpft hatte. Gleich dem letzteren

 

 

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ließ sich jener sächsische Kaiser die Ausbreitung des christlichen Namens aber unter den Slaven besonders angelegen sein. Es gelang ihm, durch Gründung von Kirchen, Klöstern, Bischofssitzen das Christenthum unter ihnen zu verbreiten. Als solche von den sächsischen Kaisern zur Befestigung des christlichen Namens unter den Slaven errichtete Bischofssitze dürfen Havelberg, Oldenburg, Lübek, Brandenburg, Magdeburg, Merseburg, gelten. Allein alle diese Anstalten zur Bekehrung der heidnischen Slaven waren wenigstens für die nächste Folgezeit noch von keinem, dauernden Bestande. Denn die Herzen der nur äußerlich und formell dem christlichen Kirchenwesen zugeführten, slavischen Volksstämme hingen im Verborgenen den alten Göttern an und ertrugen die Herrschaft der Teutschen ohnehin mit verbissenem Ingrimm! Darum hatten die Erfolge der letzteren gegen sie auch nur so lange Geltung, als die Furcht vor der Schärfe ihres Schwertes ihren Maaßregeln Nachdruck gab. Sobald aber die kriegerische Kraft der Teutschen nachließ, wie unter Heinrich dem Zweiten, als überdieß Bernhardt, der Sachsenherzog, gegen einzelne Slavenstämme gewaltthätige Härte übte, gedachten die letzteren ihrer alten Freiheit und ihres angestammten Glaubens wieder und verwüsteten mit Feuer und Schwert, was in ihrer Mitte sich als christliches Element festgesetzt hatte oder dem Dienste der christlichen Kirche gewidmet worden war. Die christlichen Priester wurden vertrieben oder ermordet und die christlichen Kirchen sanken in Staub. Da nun auch in der Folge sächsische Herzöge und andere teutsche Markenhüther sich fortwährend Geiz, Habsucht und Bedrückungen aller Art gegen die ihrer Botmäßigkeit wieder unterworfenen Stavenstämme zu Schulden kommen ließen, erneuerten sich die Feindseligkeiten immer wieder, bis in der Mitte des zwölften Jahrhunderts die gänzliche Verdrängung aller Slaven aus den Landschaften zwischen Elbe und Oder begann, die dann durch energische Maaßregeln glücklich fortgeführt, dem langwierigen und verderblichen Kampfe zwischen Teutschen und Slaven wenigstens äußerlich ein Ende machte. Indessen hatten sich während dieser Vorgänge an der Elbe auch diejenigen slavischen Völker, die zu einer gewissen, politischen Selbstständigkeit und Bedeutung gekommen waren, wie die Böhmen, die Mähren und selbst die Polen, wenn auch nicht auf die Dauer, vor der Hoheit der teutschen Könige beugen müssen.

 

 

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So waren denn die Teutschen aus dem großen Kampfe mit ihren slavischen Nachbaren unbestritten als Sieger hervorgegangen. Die letzteren waren völlig überwältigt worden. An ihrer Germanisirung, d. h. an dem Hereinziehen der slavischen Völkerschaften zunächst zwischen Elbe und Oder in teutsche Staats - und Lebensgemeinschaft konnte sofort systematisch gearbeitet werden.

 

Dieß geschah mit der ganzen Härte jener Zeiten!

 

Zuerst rückten in die durch die langwierigen Kämpfe entvölkerten und von ihren slavischen Bewohnern zum Theil verlassenen Gegenden ohnehin Teutsche nach, oder es wanderten neue Anbauer aus den Gegenden des Niederrheins in dieselben ein, wie dieß in Wagrien und der Mark Brandenburg der Fall war, in welchen die Grafen von Holstein und Albrecht der Bär Holländern, Seeländern und Flanderern Wohnsitze einräumten. Dann zogen aber auch in Länder, die noch ganz von Slaven bewohnt waren, immer mehr Teutsche ein. So im dreizehnten Jahrhunderte in Schlesien, aber auch in Meklenburg, wo obotritische und slavische Fürsten eine überwiegende Anzahl teutscher Kolonisten in ihre Landschaften brachten. Diese neuen Einwanderer haben in diesen Gegenden sicherlich nicht allein sehr viel zur Aufnahme und Verbesserung des Landbaues, sondern namentlich auch zum Emporkommen des städtischen Lebens beigetragen. Denn entweder waren es Bauern und Landleute, die auf slavische Erde übergeführt wurden, um Einöden anzubauen und um die Landwirthschaft überhaupt zu vervollkommnen; oder es waren Kaufleute, Handwerker, Künstler, welche durch die Ertheilung großer Vorrechte bewogen wurden, in den slavischen Ländern Städte anzulegen. Ein für die weitere Cultur dieser Gegenden sehr wichtiger Umstand! Denn erst durch die Einführung teutscher Kolonisten wurde von jetzt an ein dritter Stand, derjenige der freien Bürger, in den slavischen Ländern geschaffen, in welchen sich in früherer Zeit keine Spur dieses bedeutenden Elementes für Volksbildung findet. Lag es aber in der Natur der Dinge, daß die teutschen Einwanderer den slavischen Einwohnern dieser Länder schon als Fremdlinge wenig willkommen erschienen, so trug zur Antipathie der Slaven gegen die Teutschen das gewaltthätige Verfahren nicht wenig bei, welches sich nicht bloß teutsche, sondern auch slavische Fürsten gegen die alten Einwohner erlaubten. So kamen

 

 

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manche von den neuen Einwandern auf Güter und Höfe zu sitzen, die ihren slavischen Eigenthümern geradezu gewaltsam entrissen worden waren. Die Geschichten der teutsch-slavischen Länder bieten dafür Beispiele in Menge. So verordnete Bischof Meinhard von Halberstadt im Jahre 1246: daß, wenn die slavischen Bewohner einiger dem Kloster Distorf zugehörigen Ortschaften, die noch einigen heidnischen Gebräuchen anhingen, diesen Gebräuchen nicht entsagen wollten, teutsche Anhänger des katholischen Glaubens an deren Stelle gesetzt werden sollten. In Schlesien führte der Herzog Heinrich der Erste im Jahre 1223, als er das Dorf Sichowa dem Kloster Leubus schenkte, seine Leibeigenen daraus weg, gab ihnen aber, um nicht ihren Fluch zu verdienen, das Recht Lasanka. Der Bischof Johann von Breslau befahl noch im Jahre 1495 den polnischen Bauern in Woitz, innerhalb fünf Jahren teutsch zu lernen, außerdem wolle seine Gnade sie allda und anderwärts nicht dulden, sunder sie von dannen jagen. Ungegründet ist jedoch die von mehreren Schriftstellern aufgestellte Ansicht, daß die Einführung teutscher und niederländischer Kolonisten in die genannten und andere slavische Länder die harte Leibeigenschaft der Slaven in Teutschland zur Folge gehabt habe; da, wie Wersebe bewiesen hat, die Ansiedlung derselben auch in ursprünglich teutschen Ländern vielmehr zur Verwandlung der Leibeigenen in freie, erbliche Besitzer ihrer Höfe nicht wenig beitrug. Die Leibeigenschaft war überhaupt schon vor der Ansiedlung der Teutschen in den meisten slavischen Ländern in völlig ausgeprägter Gestalt vorhanden; sie beruhte auf einheimischem Rechte, dessen drückendste Bestimmungen gerade durch die Einführung teutscher Rechtsnormen in manchen Gegenden aufgehoben wurden. Wenn es aber im Allgemeinen wahr bleibt, daß die Leibeigenschaft der Slaven in Teutschland alle übrige in dem letzteren gewöhnliche Leibeigenschaft an Härte weit übertroffen hat, so erklärt sich dieß eben theils aus altem, slavischen Rechte, theils auch aus der mangelhafteren Bildung, in welcher die Slaven den Teutschen gegenüber lange Zeit verblieben. Indessen mag auch dazu beigetragen haben, daß dort, wo, wie in der Lausitz, nach theilweiser Ausrottung des heimischen Adels teutsche Grundherren die Mehrzahl bildeten, die ganze Bitterkeit fremder Herrschaft am stärksten geübt wurde, oder daß da, wo, wie in Meklenburg, die ursprünglich slavischen Herren

 

 

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teutsche Sitte, Art und Sprache annahmen, diese Entfrem-dung von ihrem angestammten Volkswesen eine größere Härte zwischen Grundherren und Leibeigene hinein brachte.

 

Aus diesen angeführten Thatsachen erhellet, warum seit dem Ausgange des zwölften und seit dem Anfange des dreizehnten Jahrhunderts die slavischen Bewohner der Länder zwischen Elbe und Oder immer mehr verschwinden, oder vielmehr mit Verlust ihrer Nationalität, ihrer Sprache u. s. w. in teutsche Staats - und Lebensgemeinschaft völlig hineingerathen. Die teutsche Sprache, Sitte, teutsche Rechtsnormen und andere sociale Verhältnisse verbreiten sich von dieser Zeit an gleichmäßig in Pommern, Meklenburg, den Marken, Schlesien und den Lausitzen. Wo aber die slavische Sprache in Kraft blieb, war es nur für den gewöhnlichen Gebrauch des Lebens in den niedersten Volksklassen. Bei Allem, was sich damals zur gebildeten Welt zählen durfte, an den Höfen, bei der höheren Geistlichkeit, bei dem Adel und in den Klöstern wurde die teutsche Sprache bald allgemein. Die erobernden oder eingewanderten Teutschen wirkten daher entweder durch die Macht höherer Bildung und durch ihre bessere Einsicht in landwirthschaftlichen Dingen, oder durch die Gründung der Städte und deren natürliches Uebergewicht über das flache Land verdrängend auf die geistigen Substanzen des Slaventhumes. Es ging eben damals, wie noch im achtzehnten Jahrhundert in Böhmen, wo Pelzel klagt: „Viele alte Leute erinnern sich, daß sie in ihrer Jugend Dörfer gekannt haben, die böhmisch waren und die jetzt ganz teutsch sind. Dieß geschieht nicht etwa durch die Vertreibung der Böhmen und durch Einführung teutscher Einwohner; die nemlichen Menschen bleiben. Es rührt einzig daher, weil der Böhme eher teutsch, als der Teutsche böhmisch lernet. Sobald also an einem Orte nur der vierte Theil teutscher Einwohner ist, so nimmt der Böhme die fremde Sprache an und verlernt die seinige, weil er ohnedem sieht, daß sie von den Großen seiner Landsleute vernachlässigt wird.“ In jenen früheren Zeiten, von welchen wir hier sprechen, wurde jedoch das Teutschthum mehr absichtlich und gewaltthätig den Slaven aufgelegt. Selbst in slavischen Ländern, wie in Pommern, wenigstens dem westlichen, in Meklenburg und Schlesien, gaben die einheimischen Fürsten den Teutschen bald allgemein den Vorzug und setzten an die Stelle einheimischer Gerichte und nationaler Rechte teutsches Rechtsverfahren.

 

 

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Bei der Besetzung geistliher Pfründen suchte man sogar die Slaven ganz auszuschließen. Auch die in slavische Länder eingewanderten Kolonisten behandelten die alten Landeseinwohner als abgesagte Feinde, litten dieselben nicht in ihren Dörfern und schlossen sie von allen Handwerksgilden aus. In ähnlichem Sinne galt in den Hansestädten, wie in Hamburg, das Gesetz, daß Niemand das Bürgerrecht erlangen konnte, der nicht nachwies, daß seine Vorfahren keine Slaven gewesen seien. Diese letzteren erscheinen mithin als die wahren Parias des teutschen Mittelalters. Solche und ähnliche Maaßregeln konnten aber keine andere Folge haben, als daß sich in dem Herzen der bewältigten und in eine ihnen fremdartige Lebens - und Staatsgemeinschaft hineingezogenen Slaven ein unaustilgbarer Haß gegen die fremde Obmacht und die fremde Bildung festsetzte, der so lange dauerte, als ihnen noch ein Gedächtniß für die zerbrochene Nationalität blieb. Ja, dieser Haß mußte am Ende auf die ihnen blutsverwandten, nicht besiegten Slavenstämme übergehen und sich gegen das gesammte, teutsche Volkswesen und den gesammten, teutschen Namen richten, als durch welche die heiligsten Güter, die überhaupt Völker besitzen, auf slavischer Erde verkümmert und zu Boden gedrückt worden waren. Wie hätte aber der leibeigene Slave gegen solche Verluste die Segnungen der Kultur in Anspruch bringen sollen, die von den neben ihm sitzenden Teutschen ausging, von der er gleichwohl keinen Gewinn für sich sah?

 

Daß aber dieser Haß der Slaven gegen die Teutschen durch solches Verfahren, wie das mehr erwähnte, und durch die unbarmherzigen Bedrückungen teutscher oder germanisirter Herren, die unter ihren slavischen Unterthanen zuweilen ein wahres Blutsaugersystem übten, erst recht Befestigung und Dauer erhielt, dafür sprechen tausend Thatsachen. Schon der slavische Fürst Pribislav klagte, als der Bischof Gerold die Wagrier zur Wiederannahme des Christenthumes ermahnte: Wie sollen wir den von dir bezeichneten Weg betreten? Unsere Fürsten verfahren mit solcher Strenge gegen uns, daß wir wegen der Größe der Abgaben und der Härte der Knechtschaft, von welcher wir gedrückt werden, statt des Lebens lieber den Tod möchten. Siehe, noch in diesem Jahre haben die Bewohner dieses Erdwinkels dem Herzoge tausend Mark und dem Grafen eine andere Summe gezahlt; und noch werden wir täglich gedrückt und ausgesogen.

 

 

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Wie sollen wir uns nun dieser neuen Religion zuwenden und Kirchen erbauen, da wir uns täglich auf der Flucht befinden und gezwungen sehen, auf den Wellen des Meeres zu wohnen? Man gewähre uns die Rechte der Sachsen an Landgütern und Gefällen, dann wollen wir Christen werden, Kirchen erbauen und den Zehnten geben. Wenn es nun auch nicht aus der Antwort des Bischofs hervorginge, so wissen wir ja schon aus dem Kreuzzuge, welchen teutsche Fürsten gegen die Slaven unternahmen, daß damals der Wahnglaube in dem Geiste der Zeit lag, daß die noch an dem Heidenthum hängenden, slavischen Völkerschaften überall nicht gerechte Ansprüche auf menschenwürdige Behandlung machen dürften. Darf nun zwar dieser Wahnglaube nicht nach der kahlen Verstandesaufklärung der modernen Welt gemessen werden, so bleibt es doch eine himmelschreiende Ungerechtigkeit, die keine Sophisterei beschönigen kann, daß der Druck teutscher oder germanisirter Grundherren zumal in Meklenburg und in den Lausitzen auf der leibeigenen, ländlichen Bevölkerung mit Centnerschwere lastete, die noch bis in unser Jahrhundert die Geißel immerdar über sich geschwungen sah.

 

Um so mehr mußten sich auch auf der andern Seite durch die von hart gedrückten, ja oft mißhandelten Slaven nicht selten zur Rettung und zu verzweifelnder Selbstrache durch List, Verschlagenheit, Treulosigkeit versuchten Auswege bei den Teutschen Abneigung, Widerwille, Volkshaß gegen sie steigern und am Ende zu der Maxime führen: Traue keinem Slaven; wie denn von den Teutschen treulose Handlungen bald allgemein mit dem Namen des wendischen Verfahrens bezeichnet wurden. So waren denn die Antipathien zwischen Teutschen und Slaven durchaus gegenseitig. Sie waren eine feste Thatsache geworden. Daher verordnete der Sachsenspiegel: Kein Sachse solle gegen einen Wenden und kein Wende gegen einen Sachsen zum Zeugniß gelassen werden, weil man im Voraus wisse, daß beide Parteien jede Unwahrheit, die der andern Nachtheile bringe, als wahr beschwören würden. Wie hier -- ähnliche Erscheinungen auch in rein slavischen Ländern. So wird von Boleslav dem Zweiten berichtet, er sei dadurch, daß er die Teutschen überall vorgezogen und ihnen viele Güter geschenkt, bei den Polen so verhaßt worden, daß sie ihm den Gehorsam aufkündigten. Im Jahre 1615 faßten die versammelten böhmischen Stände den Beschluß, daß Niemand, welcher der böhmischen

 

 

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Sprache unkundig sei, zum Einwohner des Landes und zum Bürger einer Stadt angenommen werden solle. Auch ist es noch nicht lange her, daß die Kassuben in Pommern die Teutschen noch so sehr haßten, daß sie ihrer Seits keine Verehlihung mit den letzteren dulden wollten! Wie mißliebig nun auch dergleichen Wahrnehmungen dem Teutschen erscheinen mögen, wir müssen, wenn wir die Kränkungen, Beeinträchtigungen und Gewaltthaten nicht länger bemänteln wollen, welche viele slavische Volksstämme von den Teutschen erlitten haben, in der That eingestehen, daß die ersteren wahrhaftig keine Ursache fühlen können, den letzteren dankbar zu sein.

 

Man hat freilich nicht ohne Grund behauptet, daß die zahlreichen, slavischen Völkerschaften in den östlichen Gegenden Teutschlands ihre Niederlagen sammt dem daraus folgenden Verluste ihrer Nationalität lediglich selbst verschuldeten. Denn zersprungen, wie sie waren, in eine Menge kleiner Stämme, die fortwährend in innerem Unfrieden und eigner, unsäglicher Zerwürfniß verfallen blieben, die sich nicht an einen mächtigen, herrschenden Volksstamm anzulehnen wußten, wie mehrere teutsche Stämme an den mächtigen Stamm der Franken, konnten sie nicht die Einheit eines festen Volksstaates gewinnen, der sie befähigt hätte, ihre gemeinsame Kraft nach außen zu lenken, um der nachdrücklichen Einigung der Teutschen hinlänglichen Widerstand zu leisten und ihr eigenthümliches , eingeborenes Volkswesen selbstständig zu entwickeln. Es leidet ferner keinen Zweifel, daß die Teutschen vor ihren slavischen Nachbaren nicht allein die größere, politische Macht, sondern auch die höhere, geistige Bildung voraus hatten, welchen sie von ihrer Errungenschaft in Staat, Leben und Glauben, wenn man so will, gleichsam zur Entschädigung für die gekränkten oder ganz entzogenen Nationalgüter mittheilten. Denn abgesehen davon, daß jene bereits die Ideen des christlichen Lebens und Glaubens mit angestammter Innigkeit in sich aufgenommen hatten und an deren Verbreitung mit begeistertem Eifer arbeiteten, während diese noch vor der vielgestaltigen Götterwelt Indiens niederfielen und den Manen ihrer Verstorbenen, wie ihren Götzen, blutige Menschenopfer brachten, erfreuten sich die Teutschen vom Hause aus einer gesünderen Gestalt des Familienlebens, das schon in ihren ältesten Zeiten Grundlage und Stützpunkt ihrer socialen Zustände war und besaßen einen offneren Sinn

 

 

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für geordnete Rechts- und Gemeinheitsverhältnisse, so wie für die Ideen bürgerlicher Ehre und Freiheit, als die Slaven, welchen die wahre Natur des Familienlebens und dessen hohe Bedeutung für feste Gestaltung einer Gesammtbürgerschaft so wenig bekannt war, daß bei ihnen Vielweiberei nicht gegen die Volkssitte verstieß und die Vermischung der Geschlechter mehr dem unbewachten Triebe des Lebens frei gegeben blieb, und daß sie für gesetzliche und dauerhafte Ordnung ihrer innern Verhältnisse an den Ufern der Elbe ein ähnliches, merkwürdiges Ungeschick bewiesen, wie die ihnen stammverwandten Völkerschaften am Ilmensee, welche sich von inneren Wirren und Zerwürfnissen nur durch Herbeirufung fremder Kriegsfürsten zu befreien wußten. Daher sind auch, beiläufig gesagt, aus dem slavischen Alterthume nur sehr wenige und deutliche Spuren von festen und gemeinsamen Einrichtungen, Rechten und Gesetzen übrig geblieben, wie z. B. von der Zaude in Mähren und Schlesien, dem eigentlichen einheimischen ursprünglich slavischen Landgerichte (judicium Polonicale per totam terram 1), während die germanischen Völker und die teutschen Volksstämme schon in den frühesten Zeiten eigenthümliche Rechts- und Staatsbegriffe besaßen, deren Entwieklung den rothen Faden bildet, an welchem ihre ganze, innere Geschichte hängt. Denn Jaroslaws Prawda, Kasimirs Wislicer Verordnungen, Dusans serbisches Rechtsbuch, können mit keinem Grunde als reine Erzeugnisse des slavischen Volksgeistes gelten. Der Einfluß fremder Rechtsbegriife ist in ihnen unverkennbar! Da nun ferner in allen slavischen Völkern ein außerordentlicher Hang zur Sinnlichkeit und zum sorglosen Genußleben waltet, wie wir denn nicht mit Dobrowsky die Keuschheit der Slaven rühmen möchten, so mag zugegeben werden, daß den teutschen Volksstämmen uranfänglich ein reicherer und regsamerer Geist von dem Schicksale als Mitgift oder als Geburtstagsangebinde verliehen war, ein Geist, der

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1) Von dieser Zaude , als hohem Landesgerichte, seiner Zusammensetzung, seinem Umfange und Verfahren, fehlen bis jetzt alle näheren Nachrichten , und wir wissen nur, daß sie bereits im vierzehnten Jahrhundert verfiel, weil die schlesischen Fürsten sie entweder mit ihren Hofgerichten vereinigten, die nach teutschem Rechte sprachen, oder ihr ein Vorrecht nach dem andern entzogen. Doch bestand die Zaude noch 1493 im Münsterbergschen.

 

 

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sie befähigte , auf den höchsten Stufen ihrer Bildung neben dem feinsinnigen Griechenvolke die zweite Stelle in der Geschichte der gebildeten Welt einzunehmen! Allein daraus folgt noch gar nicht, daß darum Alles, was den slavischen Namen und Charakter an sich trägt, als ein Minderes neben dem Teutschen bedeutungs- und werthlos erschiene, oder sich vor diesem zu beugen und seiner ursprünglichen Eigenthümlichfeit zu begeben hätte. Eben so wenig läßt sich aus dem Umstande, daß die Teutschen wirklich die Verbreiter und Pfleger der Kultur in slavischen Ländern geworden sind, deren Verfahren gegen die einheimischen, slavischen Einwohner rechtfertigen. Endlich wird es kein Unbefangener recht und billig finden, daß noch gegenwärtig Völker, die sich einer durchgreifenden Bildung erfreuen, mit Stolz und Verachtung auf das lange Zeit geistig zurückgebliebene Slaventhum, dort, wo es sich erhalten hat oder selbstständig geworden ist, herabsehen und ihm in dem Augenblicke, wo es seine nationalen Urkräfte mit den größten Erfolgen und mit welthistorischer Bedeutsamkeit zu entwickeln beginnt, zum Voraus alle Befähigung zu einem wahrhaften, geistigen Dasein und zu einem innerlich freien, organischen Staatswesen absprechen. Welche Sünden haben aber die Teutschen gerade in dieser Beziehung auf sich geladen? Was weiland der Bischof von Merseburg Ditmar von den Polen äußerte, daß sie nemlich ein Volk wären, qui more hovis est pascendus et tardi ritu asini castigandus, wurde sehr früh in Bezug auf slavische Völker herrschende Ansicht in ganz Teutschland und drang in die Praxis des Lebens ein. Und man höre nur teutsche Historiker und Politiker über slavische Völker, deren Erlebnisse, Zustände und Charaktere berichten; wenn die Berichterstattung nicht etwa einem gang unbefangenen Forscher und Beurtheiler in die Hände fällt, wird sich das letzte Wort immer wieder auf Anerkennung ihrer großen mechanischen Talente beschränken, während ihnen die höheren Kräfte des Geistes und die edleren Bedürfnisse der menschlichen Seele oft ganz und gar abgesprochen werden, gleich als ob es tief in dem slavischen Volkscharakter läge, den Blick immer nur erdwärts gerichtet zu halten. Darum darf man sich nicht wundern, wenn sich slavische Schriftsteller, wie der edle Pole Surowiecki, bitter über die Parteilichkeit auch der Teutschen beklagen, die in ihren Jahrbüchern, Geschichten und sonstigen Schriftwerken alter und neuer Zeit den slavischen

 

 

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Volksstämmen fast geflissentlich so viel Böses nachreden; und die unbedacht auf Rechnung der angestammten Volksnatur bringen, was in den meisten von Slaven bewohnten Ländern größtentheils nothwendige Folge langdauernder Bedrängniß, Unterjochung und Knechtschaft war, die überall zu geistiger Verwahrlosung und zur Entsittlichung führen. Wenn nun gleich selbst bei den bedeutendsten slavischen Völkern jene Idealität, Innerlichkeit und Macht organischer Bildungstriebe nicht wahrgenommen wird, die sich in der Geschichte der Teutschen zeigt; wenn bei ihnen nicht, wie bei den letzteren, der Bewegungstrieb von der Masse des Volkes ausgeht, der eine ungewöhnliche Entwicklung mannigfaltiger Kräfte und Anlagen nach sich zieht und eine Vielgestaltigkeit gesellschaftlicher und staatsbürgerlicher Zustände und Verfassungen zur Folge hat; wenn selbst die bedeutendsten slavischen Völker jener inneren und heilsamen Gährung der Geister ermangeln, „welche die Begierden läutert und neue Mittel zur Befriedigung allgemeiner Bedürfnisse ersinnen lehrt:“ zeigt doch der Grundcharakter derselben, nicht bloß wie er sich seit ihrer Bekehrung zum Christenthume festgestellt hat, viele achtbare und löbliche Seiten, welche die Anerkennung der gebildeten Welt im höchsten Grade verdienen und zu den erfreulichsten Hoffnungen für die spätere Zukunft des Slaventhumes berechtigen. Um es mit wenigen Worten anzudeuten: Warmer, religiöser Sinn, tapfrer Muth und leichtes Herz zu allen Dingen, menschlich zuthätiges Wesen, preiswürdige Uebung der Gastfreundschaft, unermüdliche Ausdauer in schwerer Arbeit und unverbrüchliche Liebe und Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus, das Vaterland und den kirchlichen Glauben sind Grundzüge des Charakters, die sich bei allen Släven mehr oder weniger finden, die aber besonders in dem Volke, das unserer Zeit politisch als Repräsentant der slavischen Welt dasteht, in dem russischen, auch bis in die dürftigste Hütte des ärmsten Leibeigenen in harmloser Naivität angetroffen werden. Unter diesen Grundzügen des slavischen Volkscharakters treten die ächt menschlichen Tugenden der Gastfreundschaft und der wohlthätigen Milde schon in der alten, heidnischen Zeit hervor! Die geistlichen Jahrbuchschreiber des Mittelalters, die gern bei den Gemälden wilder Raublust und Grausamkeit von den Slaven verübt verweilen, erkennen doch diese Tugenden einmüthig an. Das Recht der Gastfreundschaft war,

 

 

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wie Helmold berichtet, den Slaven so heilig und unverbrüchlich, daß die Volkssitte bei ihnen befahl : Dasjenige, welches heute geraubt worden, morgen dem Gastfreunde darzubringen. Uebertretung dieser Sitte wurde mit allgemeiner Schande bestraft, ja es war gestattet, Haus und Habe des Frevelnden zu zerstören. Diese unbegrenzte Uebung der Gastfreundschaft bildet heute noch ein wesentliches Merkmal des slavischen Volkscharakters überall da, wo sich dieser von fremdartigen Zusätzen frei und rein erhalten hat. Wer z. B. in das Innere des russischen Reiches gekommen ist und mit der dortigen Menschen Sitte und Art vertraut wurde, wird davon eben so zu rühmen wissen, wie von dem schönen Sinne der Wohlthätigkeit, welcher den schlichten russischen Bauer und Bürger belebt, wovon der Verfasser selbst die auffallendsten Beispiele auf seiner Reise nach Moskau erlebt hat. Und so sehr auch bei der wendischen Bevölkerung der Niederlausitz der Teutsche bis in die neuesten Zeiten verhaßt blieb, ist doch wohl, wie Anton bemerkt, nie ein teutscher Bettler von der Thüre eines Wenden unbarmherzig und unerhört zurückgestoßen worden. Allerdings bestehen neben diesen Tugenden der Slaven auch gewisse Mängel, von denen wir ihre Vorliebe für sinnenberauschende Genüsse, eine nicht seltene Härte der Kinder gegen ihre bejahrten Eltern, einen Hang zur Grausamkeit und einen die Würde des Menschen wenig ehrenden Knechtssinn, von dem jedoch auch die Teutschen in gewisser Beziehung nicht ganz freizusprechen sind, erwähnen müssen. Wir möchten indessen diese mißliebigen Erscheinungen vielweniger für ein uraltes Erbtheil der slavischen Völkerwelt, als vielmehr als die Folge unglücklicher, geschichtlicher Verhältnisse betrachten, mit welchen die meisten slavischen Völker Jahrhunderte lang zu kämpfen hatten. Ueberhaupt hat wohl Schaffarik, der große Kenner des slavischen Alterthums, vollkommen Recht, wenn er sich in einem Schreiben an Pagodin in Moskau dahin ausspricht: Griechen und Römer waren unsere Vorfahren nicht; sie gingen in kein Theater und waren mit den Schriften des Platon unbekannt; aber nimmermehr waren sie auch so wilde Barbaren und Kannibalen, wie uns mehrere Schriftsteller glauben machen wollen. Allein auch damit hat dieser berühmte Forscher Recht, wenn er behauptet, „daß, wie viel man auch zum Schutze der gelehrt und vornehm thuenden Verunglimpfungen des slavischen Volkscharakters noch

 

 

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immer hie und da sagen möge, die wahrhaft treue Geschichte des slavischen Volkes doch nur in seinem eignen Herzen aufleben könne!“ Und man sage doch ja nicht, daß den slavischen Völkern Sinn und Trieb für die höheren Güter der Seele und Thätigkeiten des Geistes entweder ganz und gar abgingen, oder daß doch diese ihnen nur in einem geringen Maaße beschieden wären! Wie schön spricht sich nicht der Reichthum ihres inneren Lebens, die Stärke ihrer Empfindung und die Innigkeit ihres Gefühles, in jenen zahllosen, vielgestaltigen Volksliedern aus, die in weichen, klangvollen Klagetönen wie ein Schwanengesang um eine zu Grabe getragene Volksherrlichkeit sich ausnehmen, die aber Bürgen dafür sind, daß in den slavischen Völkern Geisteskräfte wohnen und Gemüthsanlagen schlummern, die sie zu eignem lebendigen Schaffen und Wirken auch in dem Reiche der idealen Welt, im Staate, in der Wissenschaft, in der Dichtung und jeglicher Kunst, befähigen und bestimmen. Denn Völker, in welchen eine tüchtige Grundlage ächter Volkspoesie lebt, stehen nicht sowohl am Ende als vielmehr am Anfange ihrer Bildungsbahnen, und verheißen in ihrer Entwicklungsgeschichte, den Gesetzen unserer inneren Natur zufolge, eine mannigfaltige, geistige Blüthe, welche die höheren Richtungen des Lebens und Denkens unmöglich ausschließen kann. Nun besitzen aber bekanntlich die Slaven unter allen europäischen Völkern bei weitem den größten Reichthum an ächten und wahren Volkspoesien, an Liedern und Gesängen, die der freie, ungesuchte Ausdruck von der Gemüthsstimmung und Gemüthslage ganzer Völker und Volksstämme sind, die daher auch als Gemeingut der letzteren auf keinen besondern Namen eines einzelnen Verfassers laufen. Lieder und Gesänge sind, wie sich ein russischer Schriftsteller ausdrückt, ihr tägliches Brod, die Träger ihrer Welt- und Lebensansicht, die Denkmäler ihres fernen Alterthumes und die lebendigen Jahrbücher ihrer Vergangenheit. Ihr gemeinsamer Grundton ist bereits angedeutet worden. Als andere, volksthümliche Grundzüge derselben müssen dann noch die durchgängig vorherrschende Natürlichkeit und Einfachheit der Erfindung und Anordnung des Stoffes, die Naivität der Ausführung und die eigenthümliche Kraft und Kürze des sprachlichen Ausdruckes hervorgehoben werden. Merkwürdig erscheint auch in vielen dieser slavischen Volkspoesien, wie in manchen unserer alten, teutschen Lieder, das

 

 

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innige Vereinleben des menschlichen Gemüthes mit der ganzen, lebendigen Natur und ihren vielnamigen Geschöpfen. Dem entspricht eine ungewöhnliche, überraschende Fülle von onomatopoëtischen Bezeichnungen in allen slavischen Sprachen. Dieser allgemeine Charakter der slavischen Nationalpoesien nimmt natürlich bei den verschiedenen, slavischen Völkern und Stämmen eine besondere. Gestalt und Färbung an; und wie sie, nicht zum kleinsten Theile, als ihre Ursprungsquelle einen, man möchte sagen, fast wehmüthigen Rückblick auf ihre Vergangenheit, auf ihre Geschicke und Erlebnisse, haben, athmen sie auch den Geist ihrer besondern Geschichten. In den wenigen Liedern der wendischen Bewohner der Niederlausitz, die dem Verfasser zu Gesichte kamen, herrscht tiefe Melancholie. Die poetischen Ergüsse der Böhmen sind vorherrschend lyrischer Natur mit epischen Tendenzen vermischt; während jene slavischen Volksstämme, die sich seit Jahrhunderten in den südlichen Provinzen Oesterreichs eines ungestörten, fast patriarchalischen Daseins erfreuen, vorzüglich idyllische Poesien besitzen. Bei den Serben, die einen großen Theil ihres Lebens mit stammverschiedenen Völkern in einem wenig unterbrochenen Kampfe lagen, ist der Grundton ihrer Lieder und Gesänge mehr lebenskräftig, jugendmuthig, episch-heroisch. In den Volksgesängen der nördlichen Russen spricht sich im Allgemeinen Resignation, duldende Unterwerfung unter die Macht des Schicksals und unter das Gebot der unvermeidlichen, kalten Nothwendigkeit aus. Daher schildernde und beschreibende Darstellung, mit welcher sich der Ton leidender Ergebung so gut verträgt, die Hülle und das Gewand ihrer Poesien bildet. Hoffnung auf gewünschten Erfolg, That und Handlung, treten mehr in den Hintergrund. Dagegen sprudelt in den Liedern der südlichen Russen mehr lebendige, frische Thatenlust und fröhliche Sanglust hervor. Allein in dem einzigen Guvernement Pultawa sammelte ein russischer Forscher vor mehreren Jahren eine sehr bedeutende Zahl von Volksliedern. Wenn man nun auch von allem Andern absehen und nur diese eben erwähnten Erscheinungen ins Auge fassen will, so wird man schon um ihrentwillen weder den Slaven überhaupt, noch den Russen insbesondere eine gewisse innere Energie des Geistes, oder doch ein mannigfaltiges Keimleben des Geistigen absprechen können, durch dessen gesunde Entfaltung sie immermehr eine welthistorische Bedeutung neben den ihnen in der Bildung, in

 

 

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Staat und Leben, weit voraus geeilten Nachbarvölkern erringen werden. Wäre dem aber auch nicht so; wären nicht allein alle jene Vorzüge sattsam begründet, welche das teutsche Volkswesen dem slavischen gegen über in Anspruch nehmen könnte, sondern wären auch jene Mängel, welche dem Slaventhum als solchem angehören sollen, so absoluter Art, wie einige Schriftsteller der Gegenwart glauben machen wollen; so würde doch den Teutschen damit keine absolute Berechtigung eingeräumt, auf das Slaventhum als auf eine geistig zurückgebliebene und wenig bedeutsame Erscheinung in der Geschichte der Menschheit verächtlich herabzusehen, und die gegenwärtigen Bemühungen der slavischen Völker, geistig zu sich selbst zu kommen und ihre angestammte Volksthümlichkeit in die Weltgeschichte auszusprechen, vornehm zu bespötteln. Ja selbst, wenn eine solche Berechtigung damit eingeräumt würde, höbe dieses die Ursachen des Schmerzes nicht auf und grübe die Quellen des Hasses nicht ab, die bei jedem Ungewitter und einfallenden Regentagen zwischen dem Bewältigten und dem Ueberwältiger, dem Verächter und dem Verachteten, nothwendig immer auf's Neue hervorbrechen werden!

 

Wie wäre es möglich gewesen, daß bei solcher Lage der Dinge keine nationalen Antipathien zwischen Teutschen und Slaven aufgewachsen wären? Daß aber diese Antipathien zwischen Teutschen und Slaven durch so viele Jahrhunderte fortgedauert haben, wird theils aus dem Umstande erklärlich, daß die Germanisirung der Slaven im teutschen Staatsverbande nicht mit einem Schlage und überhaupt nie völlig zu Stande kam, daß sich mithin jener Kampf, in welchem die Teutschen Sieger geblieben, zwischen beiden Nationalitäten in gesellschaftlichen und geistigen Sphären fortsetzte und das Gedächtniß früherer Tage aufrecht erhielt; theils aber auch daraus, daß in der unmittelbaren Nähe der Teutschen und selbst innerhalb ihrer Staatsgemeinschaft slavische Völker saßen, welche nicht ohne fortwährenden Kampf gegen das eindringende Teutschthum ihre Nationalität leidlich bewahrten und jedenfalls als Zeugen von dem Absterben ihnen stammverwandter Volkszweige gleichsam als Erben jener alten Antipathien der Slaven gegen teutsches Volkswesen und teutsche Bildung stehen blieben. Wenn das letztere besonders von den Böhmen gelten dürfte, so walteten noch andere, zum Theil rein politische Gründe ob, die zwischen

 

 

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Polen und Teutschen gegenseitige Abneigung fortdauernd erzeugten. Ueberhaupt kann aber bei einem in seiner Nationalität absterbenden Volke und Volksstamme das Gedächtniß seiner Vorzeit und die Erinnerung an seine Vergangenheit nicht früher verlöschen, als mit seinem gänzlichen Tode, der oft Jahrhunderte nach dem politischen erfolgt. Ja selbst über den Tod einer Nationalität reichen die Gefühle der Völkerschaften weit hinaus! In dem französischen, gemeinen Rathe der Deputirten äußerte sich Reynouard im Jahre 1814 so: né dans un pays depuis longtems associée aux destins de l'antique France, non par le funeste droit des armes, mais par le voeu libre du dernier comte de Provence, par le consentement solemnel des citoyens et l'acceptation du monarque françois, non pour être dependant, mais à la condition expresse de n'être point subalterne je me souviens avec orgueil etc.

 

Wodurch sind nun diese nationalen Antipathien zwischen Teutschen und Slaven heut am Tage wieder zu neuer Lebenskraft gekommen?

 

Zur Erklärung dieser Erscheinung könnte zuerst gesagt werden: weil sie eben auf beiden Seiten noch niemals völlig abgestorben waren. Auch könnte auf andere Erklärungsgründe hingewiesen werden, die zum Theil in der nächsten noch nicht abgekühlten Vergangenheit liegen. Der vornehmste Erklärungsgrund wird aber immer darin zu suchen sein, daß das Slaventhum seit geraumer Zeit durch einen großen und mächtigen Volksstaat, durch Russland, als ein politisch bedeutendes und positiv wirksames Element in das gebildete Völkerleben Europas eintrat, und hier, indem es zuerst nur das Schwert in die Völkerwage der Geschichte warf, sehr bald zu großem Ansehen und zu nachhaltigem Einfluß auf den Gang und die Leitung der allgemeinen, europäischen Angelegenheiten kam. Peter der Große war es bekanntlich, der Russland in solcher Weise in das System der europäischen Staaten einführte, welchen es jedoch schon seit Iwan dem Grausamen näher getreten war. Durch Katharina die Zweite, eine als Regentin höchst ausgezeichnete Fürstin, erhielt Russlands politische Bedeutung für das Abendland eine tiefere Begründung und dauernde Befestigung: Sie erreichte jedoch ihre volle Höhe erst durch die Folgen jenes furchtbaren Kampfes, in welchem vor dreißig Jahren die europäischen Völker den Traum einer französischen Weltherrschaft für immer

 

 

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zerstörten. Unstreitig hatte sich Russland in diesem Kampfe große Verdienste um den Frieden und das Heil der Menschheit erworben. Der Lohn, den es erntete, war nicht gering. Denn es galt in der neuen Gestalt, welche fortan das politische System der europäischen Völker annahm, nicht bloß als eine von jenen Mächten ersten Ranges, von deren Verträglichkeit unter einander der Friede der Welt abhängt, denn als solche durfte Russland auch schon zur Zeit Katharinas gelten; sondern es galt fortan auch als eine Macht, die sich nicht allein auf das Schwert, sondern auch auf geordnete, sociale Zustände in seinem Innern, auf eine europäische Regierungsform und auf die Grundlagen einer eigenthümlichen, nationalen Bildung stützt.

 

Diese und manche andere glückliche Ereignisse für Russland, in welchen es Gelegenheit erhielt, seine nationalen Kräfte zu zeigen und zu entwickeln, konnten unmöglich ohne Rückwirkung auf diejenigen slavischen Volksstämme bleiben, die zwar, wie manche Völkerschaften in den Donaugegenden, außerhalb des russischen Staatsverbandes standen, die aber schon aus dem Grunde, weil sie sich ihre Nationalität bewahrt hatten, eine natürliche Vorliebe für Russland empfinden mußten. Wie sehr glaubens- oder doch stammverwandte Völkerschaften in jenen Gegenden und noch weiter südlich den Russen sich befreundet erkannten, zeigte sich schon unter Katharina der Zweiten, während diese ihre glücklichen Kriege gegen die Erbfeinde des christlichen Namens führte. Damals war es, daß Abgeordnete südslavischer Volksstämme aus dem türkischen Reiche her vor ihren Thron traten und sprachen: Gib uns Feuerstaub und eiserne Kugeln und Deinen Enkel Konstantin zum Kaiser! Es haben sich in neueren Zeiten ähnliche Sympathien für Russland, man darf sagen, nicht bloß in den südslavischen Völkerschaften geregt. Jedermann wird dieß begreiflich finden! Denn je bestimmter das Bewußtsein um ihre ursprüngliche und blutsverwandte Einheit in den meisten, slavischen Völkern zu erwachen beginnt, ein Bewußtsein , das überdieß durch die Ausbildung slavischer Literaturen, wie durch historische Forschungen und deren Ergebnisse, allgemeiner genährt und belebt wird, um so mehr müssen sie sich veranlaßt sehen, auf Russland und dessen Entwiklung mit einer gewissen Theilnahme hinzublicken, das politisch in der Gegenwart als Repräsentant des Slaventhums dasteht, und das mithin auch allein die feste Basis

 

 

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für ein innigeres Vereinleben aller slavischen Völker werden könnte. Außerdem darf ja Russland als eine glänzende Widerlegung jener durch die Geschichte freilich vielfach bestätigten Thatsache gelten, daß in der slavischen Volksnatur ein ganz eigenthümliches Ungeschick zu gesunder Staatenbildung wohne, ein Ungeschick, das sie, wie man gesagt hat, unfähig mache, eine andere als eine untergeordnete Stelle in der Mitte der gebildeten Welt einzunehmen. Denn bei den in die teutschen Landschaften hineinwohnenden Slavenstämmen, ja selbst bei den Böhmen, Mähren, Serben und Polen, hat solches Ungeschick vielfach obgewaltet.

 

Die ersteren konnten freilichh wegen ihrer nothgedrungenen Kriege mit den Teutschen und weil sie überhaupt in ihrem Hause nie ganz Herren waren, keine nationale Staatsgemeinschaft auf die Dauer gründen. Sie erlagen ohnehin den Einwirkungen des teutschen Volkswesens und teutscher Bildung schön sehr früh, wie bereits oben erwähnt worden ist. Wo sie sich aber auch angestammte Sprache und Volkssitte bewahrten, war dieß doch nur bei der ländlichen Bevölkerung der Fall. Wenigstens wurden die größeren Städte, die Feuerheerde politischer und geistiger Bildung, größtentheils von Teutschen bevölkert, welche vaterländische Sitte, Art und Bildung in Aufnahme brachten und auf die Dauer befestigten. Aehnliches geschah selbst in Böhmen und Mähren. Schon seit dem neunten Jahrhundert waren die Teutschen in Böhmen sehr zahlreich und verbreitet und übten auf die Regierung des Landes, auf dessen Anbau und Bildung, keinen unbedeutenden Einfluß aus. Dieß ist von dem schon oben angeführten trefflichen Pelzel mit eben so großer Sachkenntniß als Genauigkeit dargethan worden. Die slavischen Völkerschaften in den Donauländern dagegen und weiter südlich wurden, nicht ohne rühmlichen Kampf, eine Beute der über Europa herfluthenden Osmanen.

 

Aber Polen darf als ein sprechender Beweis für jenes an der slavischen Volksnatur allerdings wahrnehmbare, eigenthümliche Ungeschick zu gesunder, zu organischer Staatenbildung gelten. Die Heimath des unstreitig lebendigsten und geistreichsten Slavenvolkes schien Polen schon durch seine geographische Stellung von dem Schicksale dazu berufen worden zu sein: Der gesammten, slavischen Welt auf den Bahnen der Kultur voranzugehen und vorzuleuchten und zwischen jener und den gebildeten Völkern des Abendlandes ein gegenseitiges

 

 

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Verständniß zu vermitteln. Es hatte sich seine Nationalität reiner bewahrt als Böhmen; und seine kirchliche Gemeinschaft mit Rom, durch die es zwar seinen gemeinsamen Lebensgrund mit dem slavischen Nordosten einbüßte, dem es gleichwohl durch Sprache, Sitte und Gesammtcharakter leicht verständlich blieb, so wie seine fortlaufenden Berührungen mit den westlichen Völkern Europas und seine Theilnahme an deren Lebensbewegungen, schienen noch mehr dazu aufzufordern! Allein wie weit ist Polen hinter dieser Aufgabe zurückgeblieben, ungeachtet seiner Tendenzen, im Sinne seiner Wechselwirkung mit dem gebildeten Europa auf den slavischen Nordosten zu wirken? Es hat nicht einmal verstanden , für sich selbst zu sorgen und dem Bestande seines Staatswesens dauernde Grundlagen zu sichern. Es hat vielmehr ungeachtet so mancher bittern Erfahrung mit eigensinnigem Troße und durch alle Zeiten an jenem unauflöslichen Widerspruche eines königlichen Freistaates festgehalten, welcher die Willkührherrschaft Weniger, die grenzenlose Knechtschaft der Massen und die Unmacht des Ganzen zur nothwendigen Folge hatte, und der an seinen eigenen, ihm inwohnenden Gegensätzen zu Grunde gehen mußte! Denn dieser königliche Freistaat hat sich niemals von dem grundverderblichen Princip allgemeiner Leibeigenschaft losgerungen, die bekanntlich nirgends so schwer, wie in Polen, auf der Masse des Volkes lastete; oder auch nur den Versuch dazu gemacht. Auch hat er keine bedeutende, lebenskräftige Blüthe freistädtischen Bürgerthumes hervorgetrieben! Nur die Macht des Königthumes hat er geschwächt und in eine so leere Form ausgehöhlt, daß dem Wahlkönige unter allen Großen seines Reiches der geringste Raum blieb, Gutes zu thun und wahrhaft Heilsames zu fördern, während es in der Macht jedes einzelnen Landboten stand, dem Ganzen ungestraft so viel als möglich Böses anzuthun! So hat sich Polen selbst den ärgsten Schlag versetzt, indem es durch ein fast systematisches Verfahren die Seele tödtete! Nothwendig mußte auch der Leib zerfallen. Denn da es der polnischen Nation auch an jener felsenfesten, kirchlichen Einheit gebrach, welche in Zeiten augenscheinlicher Todesgefahr in Russland thatkräftiges Volksbewußtsein und aufopfernde Vaterlandsliebe weckte, blieb für die Erhaltung der königlichen Republik im Fall der Noth lediglich die schwankende, subjektive Macht vaterländischer Begeisterung übrig. War aber nicht vielmehr das Gegentheil

 

 

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von der letzteren in einem Lande und Volke zu erwarten, in welchem Viele der mächtigsten Familien seit Jahrhunderten von der Gewalt der verderblichsten Leidenschaften, der Herrschsucht und der Selbstsucht, zu welchen man noch ein großes Maaß von Eitelkeit setzen könnte, gleich Spielbällen hin und her geworfen wurden, und sich nicht entblödeten, um ihre Parteiintressen und ihre individuellen Gefühle zu befriedigen, die heiligsten Pflichten gegen das ganze Vaterland hintenan zu setzen? Wohl hat sich in Polen in schweren Zeitläufen ächt vaterländische Gesinnung und todesfreudiger Heldenmuth bewundernswerth und in entscheidenden Augenblicken so herrlich beurkundet, daß die schönsten Tage des Alterthumes wiedergekehrt zu sein schienen. Allein niemals sind diese preiswürdigen Tugenden ohne argen Zwiespalt und ohne Verrath in ihrem Gefolge erschienen, wodurch sogleich ihre Wirkungen abgeschwächt oder gänzlich vernichtet wurden. Durch die Theilung Polens wurde nicht nur, wie Johannes Müller sich ausdrückt, die Moralität der Großen der Erde, sondern auch die sündhafte Selbstversäumniß eines großen Volkes offenbar, das alle Anmahnungen seiner eigenen Geschichte zur Verbesserung seiner inneren Zustände mit stolzem Sinne sorglos an sich vorübergehen ließ. Vergebens ertönte die warnende Stimme des Königs Johann Kasimir auf dem Reichstage des Jahres 1661, indem sich derselbe mit prophetischem Geiste also äußerte: „Mitten unter unseren inneren Spaltungen müssen wir befürchten die Zerstückelung des Vaterlandes. Der Moskoviter wird, Gott gebe! daß ich ein falscher Prophet sei, die Völker unterjochen, welche seine Sprache reden. Das Großfürstenthum Lithauen, Großpolen und polnisch Preußen werden dem Hause Brandenburg zufallen, und bei der allgemeinen Zerreißung wird auch Oesterreich sich nicht vergessen. Krakau und der umliegende Landstrich werden dessen Beute sein.“ Wie hätten aber die großen und mächtigen Familien des Landes, welchen mehr an der Aufrechthaltung ihrer Parteiinteressen, als an der Wohlfahrt des ganzen Vaterlandes lag, die dem letztern überdieß durch eine flache, fernländische, encyklopädische Bildung immer mehr entfremdet wurden, auf diese Seherworte eines weitblickenden Fürsten hören sollen? Diesem Umstande muß es hauptsächlich zugeschrieben werden, daß dieselben, wenn auch nicht buchstäblich, wie die Gegenwart lehrt; in Erfüllung gegangen sind. Die Polen haben zu

 

 

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allen Zeiten ihre Staatsunfähigkeit so stark als möglich dargethan. Man könnte sagen: sie sind an zwei nationalen Krankheiten gestorben, an der Ausländerei und an der Anarchie!

 

Während nun in Polen die innere Auflösung mit jedem Tage vorwärts schritt, befestigte sich in Russland, das durch die Erhebung des Hauses Romanow auf den Thron der moskowitischen Zaren dem Verderben entgangen war, die Macht organisirender Alleinherrschaft in einem solchen Grade, daß sie es wagen durfte, die in der Denkweise, den Sitten und den Gebräuchen des ganzen Volkes der europäischen Bildung entgegenstehenden Schranken zu durchbrechen und die ganze Kraft der Nation unverrückt auf die Erreichung eines einzigen, großen Zieles hinzulenken. In den Entwürfen Peter des Großen, deren Ausführung er seinen Nachfolgern überlassen mußte, war bereits das klarste Bewußtsein um die Größe und die Bedeutung dieses Zieles ausgedrückt. Da nun wirklich die späteren Negierungen an der Ausführung dieser Entwürfe mit Eifer und Konsequenz fortarbeiteten und der Widerwille der russischen Nation gegen fremde Bildung dem immer stärker gefühlten Bedürfnisse zu geistiger Entwicklung allmälig zu weichen begann; da ferner die bloße Entfaltung der militärischen Kräfte des russischen Reiches nach europäischen Grundsätzen die größten Erfolge gewährte und der Gang der Dinge dasselbe immer tiefer in die politischen Systeme der gebildeten Welt verwickelte; gelang es ihm, die gegenwärtige Stufe seiner Macht und Größe zu erreichen, die, es ist nicht zu läugnen, bei den Nachbarvölkern wohl Besorgniß erwecken könnte, und wirklich Besorgniß zu erwecken scheint. An wirklichen und dauerhaften Elementen zu politischer Größe und Macht konnte es auch in einem zahlreichen und kriegerischen Volke nicht fehlen, dessen innere Kraft dur kirchlichen Glauben und unumschränkte Fürstengewalt zusammengehalten wird und das unermeßliche Länderstrecken bewohnt, welche die Kornkammer von Europa und außerdem unerschöpfliche, materielle Hilfsquellen aller Art enthalten. Es bedurfte nur der besonnenen Einsicht und des energischen Willens, um solche Elemente und Kräfte einem gegebenem Ziele entgegen zu führen. Dieß zeigt sich gleich an dem Beispiele Peter des Großen, der von der Natur mit eben nicht gewöhnlichen Verstandeskräften und einem thatlustigen Sinne ausgerüstet nicht ermangelte,

 

 

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sein Volk, ungeachtet mannigfachen Widerstandes , oft mit strengen Gewaltmitteln zur Entfaltung seiner geistigen Kräfte und zur Benutzung seiner materiellen Hilfsquellen anzutreiben. Auch unter Katharinens Regierung wird dieß noch offenbar, die freilich nicht mehr der äußeren Gewaltmittel gebrauchte, um ihren Ideen über Staatsleben, Volkswohl und Volksbildung in ihrem Reiche Platz zu verschaffen, die aber nicht minder entschieden, wie ihr Ahnherr, durchzugreifen pflegte, wenn es galt, einer dem russischen Volke annoch fremden, europäischen Gestalt Eingang und Heimathsrechte in dem letzteren zu verschaffen. Von diesen Zeiten an haben die Russen den abendländischen Völkern ihr Marinewesen, ihre Schifffahrtskunde und ihre moderne Kriegskunst mit jedem Tage glücklicher nachgebildet; sie haben sich mit Regierungs- und Verwaltungsformen und der ganzen, finanziellen Weisheit derselben vertraut gemacht; sie sind vielleicht in mancher Hinsicht bei diesen Völkern zu viel in die Schule gegangen und haben nach dem Muster namentlich der Franzosen und der Teutschen Erziehung-, Bildungs-, Unterrichts- und Lehranstalten aller Art errichtet und deren Werke der Literatur eifrig in ihre Sprache übertragen. Allein sie sind mit diesen Hilfsmitteln der Assimilation nicht nur in den Besitz großen politischen Ansehens, einer tüchtigen Kriegsverfassung und eines wohlgeordneten Staatshaushaltes gekommen, sondern sie sind auch zu bedeutenden Momenten innerer Entwickelung fortgeschritten, wie denn die ächte Kraft des russischen Reiches nicht sowohl in seiner physischen Stärke ruht, wenn sie schon die Grundlage bildet, als sie vielmehr jugendfrisch und lebendig aus dem innersten Herzgeäder des ganzen, russischen Volkes sprudelt und sich in demjenigen am reinsten offenbart, was sich im Innern Russlands unter dem Vorgange und Schutze einer wohlwollenden Regierung im Interesse des Volkswohles und der Volksbildung entwickelt und was dort still und geräuschlos als Frucht in Bewegung gekommener Bildungstriebe gedeiht und reift. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, daß ein Volk, dem noch ein gewisses Maaß von Jugendkraft inne wohnt, Vieles überwinden kann, was in jedem andern destruktiv wirken würde. Es werden in einem solchen Volke selbst unter weniger günstigen Verhältnissen dennoch Fortschritte geschehen, Wirkungen der einmal in Bewegung gekommenen Lebenskraft, die dann nicht wieder stille steht und stille stehen

 

 

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kann, bis sie sich völlig abgenutzt hat. Wie wäre es z. B. sonst erklärlich, daß die Russen unter einer so schwachen Regierung, wie die Elisabeths war, in ihre alte Weise nicht wieder zurückgingen und ihrer früheren Gleichgültigkeit gegen Geist und Bildung wieder anheimfielen? Aber auch ein Zweites darf nicht übersehen werden. Wenn man nemlich der russischen Nation zum Vorwurfe machen wollte, daß ihre ganze Civilisation von den Nachbarvölkern entlehnt wäre, so müßte dagegen bemerkt werden, daß Einsicht und Bildung überall Sache der geistigen Erbschaft sind, und daß die Russen sich erst alle wesentlichen Elemente der geistigen Kultur im übrigen Europa vollständig zu assimiliren haben, ehe sie eine wahrhaft selbstständige, nationale Bildung zeigen können.

 

Wenn indessen auch Russland, sobald es den Ruf zu seiner höheren Bestimmung vornahm, sich gleich andern slavischen Völkern nach den gebildeten Völkern des Abendlandes hinwendete und seine Hände vielleicht allzuhastig nach den Besitzthümern ihrer Civilisation ausstreckte, hörte es doch bei alle dem nicht auf ein in sich festgeschlossener Volksstaat zu sein, ein bestimmtes und sich bestimmmendes, geistiges Selbst, in dem die Nöthigung wohnt, seine Eigenthümlichkeit in die Weltgeschichte auszusprechen, das daher den Beistand fremden Geistes und die Einsicht ausländischer Bildung lediglich für seine eigenen Zwecke benutzte, das sich auch niemals der Leitung von Ideen, die andere Völker bewegten, unmaaßgeblich hingab, oder den Rathschlägen fremder Kabinette ohne Reservationen für sich willfährig ward, das mit einem Worte sich immer erst fragte: Was angestammte Volksnatur, vaterländische Denkweise, eigne Weltstellung und die günstigen oder ungünstigen Verhältnisse des Augenblickes in dem gegebenen Falle als das Nützliche und Heilsame zu ergreifen geböten? Ein Fürst auf dem russischen Throne, der diese letzten, wichtigen Rücksichten hoher Staatspolitik hätte aus den Augen verlieren oder gegen den Strom schwimmen wollen, in welchen sich seit Anfang des vorigen Jahrhunderts die Entwicklung des russischen Volkslebens zu ergießen begonnen hatte, wäre in dem Strome untergesunken. Wenigstens konnte seit den Zeiten Katharina der Zweiten die Aufgabe jeder russischen Regierung keine andere sein, als die neue Bildung in ihrem Volke, versteht sich mit Rücksicht auf dessen Nationalcharakter und mit möglichster Schonung

 

 

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desselben, mit sorgsamer Hand zu pflegen. Dieß scheint auch das Streben der gegenwärtigen Regierung zu sein, die seit dem Tode des trefflichen Kaisers Alexander wohl immer deutlicher zu dem Bewußtsein gelangt ist, daß ihrem Volke, wie jedem andern, das Edelste und Beste nicht bloß durch An- und Aufnahme aus der Fremde, sondern unerborgt von andern nur durch selbstständige Entfaltung der ihm eingebornen Geisteskräfte zu Theil werden könne; und daß sich auch in ihm die wahren und dauernden Grundlagen zu langlebiger, politischer Größe einzig und allein durch eine tüchtige, nationale Bildung des ganzen Volkes gewinnen lassen. Sie läßt sich aus diesem Grunde zumal die Verbesserung der socialen Zustände ihres Volkes und die Interessen der Bildung überhaupt angelegen sein. Sie hält besonders von den großen Ideen, welche schon Katharina die Zweite lebhaft beschäftigten, nächst der Vervollkommung der Rechtspflege und der tiefgreifenden Verbesserung der ländlichen und städtischen Betriebsamkeit, ihr Hauptaugenmerk auf die Angelegenheiten des Volksunterrichtes und der Volksaufklärung gerichtet, die sie immer mehr bestrebt ist in ein folgerechtes System zu bringen und in solche Bahnen zu leiten, die geeignet scheinen, das russische Volk nicht nur gegen übermäßige Ausländerei zu sichern, sondern die auch dem ferneren Anbau seiner nationalen Kräfte die nothwendigen Vorbedingungen unterbreiten. Sie sucht endlich zu diesem Zwecke der nationalen Sprache und Literatur die ihnen vom Hause her gebührenden Rechte zu verschaffen, die, wie bekannt ist, in den gebildeten Kreisen des russischen Gesellschaftslebens lange nicht die nöthige Theilnahme finden konnten. Wendet sich daher in Folge derartiger Bestrebungen Russland gegenwärtig und wenigstens scheinbar von den gebildeten Völkern des Abendlandes ab, vielleicht auch, weil die politischen Doktrinen der letzteren ihm wenig zusagen können; so wendet es sich durch die Gesetze geistiger Wahlverwandtschaft und durch sich aufdrängende, politische Rücksichten gleichsam fortgezogen mit sichtbarer Vorliebe nach denjenigen Völkerschaften hin, welchen es sich durch gemeinsame Abkunft und durch uralte Blutsbande verwandt erkennt, und denen es sich durch seine Sprache leicht verständlich machen kann. Von dem Bedürfnisse getrieben über seine eigene Vergangenheit zu einem zusammenhängenden, klaren Bewußtsein zu kommen, sucht es zugleich durch linguistische und historische

 

 

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Forschungen die alten Verbindungsfäden wieder auf, welche, wie man gesagt hat, schon in den frühesten Zeiten alle slavischen Volksstämme zu einem großen Lebensbunde verschlungen hielten, und wirkt dadurch, wie durch tausend andere Dinge, die theils in dem Blute der slavischen Völker, theils in der Atmosphäre der Gegenwart schweben, belebend und erregend auf die ihm stammverwandten und größtentheils auch glaubensverwandten Völkerschaften im Südosten unseres Erdtheiles. Freilich kann es bei dergleichen Bestrebungen nicht an Uebertreibungen fehlen, zu welchen historische Untersuchungen, die nicht immer von redlicher Unbefangenheit und Uneigennützigkeit begleitet sind, besonders dann Gelegenheit geben, wenn es sich um ein wichtiges Interesse der unmittelbaren Gegenwart und der nächsten Zukunft handelt. Was aber auch im Feuereifer engherziger Volksgefühle und berechneter Selbstsucht gefehlt werden mag, so viel bleibt gewiß: Die slavischen Völker der Gegenwart beginnen zum Lichte des Bewußtseins über sich selber vorzudringen. Sie beginnen zu begreifen, daß ihnen in der Bildungsgeschichte der europäischen Menschheit neben den romanischen und germanischen Völkern ebenfalls ein bestimmtes Tagewerk auferlegt sei. Sie scheinen sich selbst zu sagen, daß sie unter den europäischen Völkerfamilien, die bisher jede geistig lebendige Bewegung und Entwicklung in der modernen Welt trugen, noch am weitesten zurückgeblieben sind. Sollten sich daher die slavischen Völker nicht immer mehr gedrungen fühlen, ihre ganze Kraft daran zu setzen , um auch einen ganz eigenthümlichen Beitrag zur Geschichte der Menschheit zu liefern, der nicht im wilden Kriegesgetöse oder durch die Schlangenwege einer feinen Politik als Siegesbeute errungen, sondern durch die stillen Künste des Friedens groß gezogen und unter dem milden Sonnenlichte der Humanität gezeitigt würde?

 

Der einzelne Mensch vermag erst am Abende seines Lebens den Werth oder die Ergebnisse seines Daseins zu überschlagen. Aber dem jugendkräftigen Jünglinge, dem die Mächte reiner Begeisterung die Seele schwellen, liegt das unendliche Reich der Hoffnungen und Möglichkeiten offen. Er mag sich zu den höchsten und kühnsten Entwürfen versteigen und die Ausführung umfassender Lebensplane mit keckem Muthe unternehmen. Nicht anders mit ganzen Völkern, welchen freilich jene Freiheit der Bewegung, die dem Individuum

 

 

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zukommt, durch Naturverhältnisse wie durch politische Rücksichten, vielfach beschränkt wird. Nun scheinen die Russen seit ihrer Befreiung aus mongolischer Knechtschaft, eben weil sie so lange in ganz einfachen Lebensverhältnissen verharrten, erst spät an den Angelegenheiten europäischer Bildung Theil nahmen und dadurch den Verweichlichungen gebildeter Zustände und den Lastern verfeinerter Sitten in der Masse des Volkes fremd blieben, durch welche romanische und germanische Völker bereits mehr oder weniger anbrüchig geworden sind, wirklich in mancher Hinsicht einem zwar in der Entwicklung eben erst begriffenen Jünglinge zu gleichen, der aber noch im Vollbesitze seiner physischen und geistigen Kräfte ist. Sie befinden sich zugleich in einer ungemein günstigen Weltstellung, die sie gegen jeden Eroberungsversuch eines Feindes von außen her schützt. Alle Hilfsmittel, welche Völker und Staaten zu ihrer inneren Entwickelung und Kräftigung bedürfen, stehen ihnen zu Gebote. Endlich sind sie durch den glücklichen Gang ihrer Geschichte in den letzten Jahrhunderten auf die Lösung einer bestimmten, politischen Lebensaufgabe um so mehr hingewiesen, als sie jene zu unmittelbaren Nachbaren eines ehemals mächtigen Reiches gemacht hat, dessen Bildungssäfte gänzlich vertrocknet sind und das am Rande des Verderbens steht, eines Reiches, dessen Bevölkerung zum großen Theile aus Volksstämmen besteht, die durch Abstammung, Sprache, und Sitte oder durch kirchlichen Glauben ihnen, den Russen, verwandt und befreundet sind.

 

Wenn es nun keinem Zweifel unterliegt, daß die nationelle Einheit der slavischen -Welt von den ihr angehörigen Völkerschaften auf dem Wege geschichtlicher Selbverständniß und aus anderen Anlässen immer bestimmter anerkannt wird; wenn es ferner gewiß ist, daß die Idee dieser Einheit durch die gegenwärtige Stellung Russlands, eine auf die nächste Zukunft Europas bezügliche Bedeutung erhält, durch welche diese Idee Kraft empfängt, in der wirklichen Welt sofort die ihr angemessene Gestalt zu suchen; wenn überhaupt die Vermuthung nahe liegt, Russland werde sich auch fernerhin dem Impulse des Schicksals mit Selbstvertrauen hingeben: so braucht man gar nicht erst zu fragen, wohin das führen würde, die Antwort springt von selbst in die Augen und ist kurz diese: Es gälte dann, wenn jene Idee verwirklicht würde, der Gestaltung eines auch geistig in sich

 

 

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zusammengeschlossenen, slavischen Universalstaates. Man könnte sich zwar, besonders von teutschem Standpunkte aus, versucht fühlen, jene Idee als eine aus den Lieblingsträumen einiger slavischer Patrioten entstandene oder als eine phantastische Spukgestalt zu bezeichnen, die bloß vor dem Auge einiger politischen Hellseher vorüberzöge. Denn der Verwirklichung jener Idee treten unverkennbar große und nachhaltige Schwierigkeiten entgegen, die theils in der geographischen Stellung der slavischen Völker, ihrer geschichtlichen Bildung, der Verschiedenheit ihres religiösen Gläubens und selbst in der Mannigfaltigkeit ihrer Alphabete liegen, theils aber auch in dem mächtigen Interesse enthalten sind, das die europäischen Mächte ersten Ranges an der Erhaltung des gegenwärtigen Bestandes des europäischen Staatensystems haben und haben müssen. Indessen liegt doch die Möglichkeit vor, daß diese Schwierigkeiten überwunden würden; und so schweben auch die anderen Voraussetzungen, auf welche die Verwirklichung jener Idee sich gründen müßte, so wenig in der Luft; daß vielmehr der Gang der neueren Geschichte ihrer einstmaligen Erscheinung gleichsam vorgearbeitet hat, und daß namentlich Russland, durch seine fortdauernden, konsequenten Bestrebungen seine äußere Staatseinheit auf eine innere, geistige Verschmelzung der durch jene zusammengehaltenen Völkerschaften zu gründen, ihrer konkreten Gestaltung um ein gut Theil näher gerückt zu sein scheint. Die Hoffnungen und Befürchtungen aber, die sich um diese Idee eines slavischen Universalstaates versammeln, wären schon vorhin umsichtigen, teutschen Staatsmännern nicht fremd. Nach dem Abschlusse des Friedens von Kainardsche, durch welchen der kolossale Leib des russischen Reiches abermals an Umfang gewann, im Jahre 1774, äußerte sich der österreichische Internuntius bei der hohen Pforte in einem gesandtschaftlichen Berichte an den Fürsten Kaunitz folgendermaßen:

 

Da nicht gezweifelt werden kann, daß man (russischer Seits) nicht vernachlässigen wird -- in den neuen Acquisitionen auch jederzeit ein Corps von dreißig bis vierzig tausend Mann Truppen zu unterhalten, so erhellet daraus, daß künftig hin jederzeit in der russischen Mächt stehen wird, sobald man es in Petersburg für gut befindet, ohne alle neue Zurüstung von Seite des schwarzen Meeres ausgiebige Landungen vorzunehmen und mit günstigem Winde

 

 

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in einer Zeit von sechs und dreißig oder zweimal vier und zwanzig Stunden zwanzig tausend Mann unter die Mauern von Konstantinopel zu bringen, wo sodann -- dem Großherrn nichts anders übrig sein kann, als bei der ersten Nachricht von der erfolgten Landung seinen Pallast zu räumen, sich tief in Asien zu flüchten und den Thron des morgenländischen Kaiserthumes geschickteren Besitzern zu überlassen. Nach einmal eroberter Hauptstadt wird der Schrecken und die treue Beihilfe des schismatischen Anhanges gar bald weiters den ganzen Archipelagus, die asiatischen Küsten, ganz Griechenland bis zu dem adriatischen Meerbusen, ohne Mühe dem russischen Scepter zu unterwerfen haben, auf welche Weise dann die Vereinigung dieser von Natur gesegneten Länder, mit welchen keine andere Gegend der Welt an Fruchtbarkeit und Reichthume in Vergleich kommen kann, Russland zu jenem Grade der Uebermacht zu „erheben hat, so Alles dasjenige übertreffen muß, was in den Geschichten von der Größe der Monarchien älterer Zeiten öfters fabelhaft geschienen hat. -- Was bei allem diesen vielleicht das Bedenklichste ist, besteht darin, daß die Aufrechthaltung der Pforte für das künftige hin nicht wie bisher von dem allenfälligen Gutbefinden anderer Höfe abzuhängen hätte; indem, sobald nur die Veranstaltungen der neuen, russischen Etablissements zu einem gewissen Grade von Befestigung gelangt sein werden, sodann die Möglichkeit der Besitznahme von Konstantinopel täglich vorhanden ist, und diese Hauptstadt des ottomanischen Reiches noch eher erobert werden kann, als die Nachricht von einer russischen Bewegung die Grenzen der Christenheit erreicht haben würde.“ --

 

Wie nahe nun Russland seit dem Frieden von Kainardsche diesem in der angezogenen Depesche bezeichneten Ziele nicht bloß räumlich, sondern auch durch die immensen Fortschritte seiner Politik und seiner inneren Entwickelung gerückt ist, bedarf in unseren Tagen kaum einer näheren Beleuhtung. Schon einmal hielten russische Truppen Adrianopel besetzt, und wurden nur durch zufällige Ereignisse, oder durch eigne Mäßigung, oder endlich durch die Gegenwirkung der übrigen Mächte ersten Ranges abgehälten, unter die Mauern von Konstantinopel vorzudringen. Damals ging die Gefahr für das letztere vorüber! Wie aber Russland durch den darauf folgenden Frieden und bekannte Verträge

 

 

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besonders an moralischem Uebergewicht über die Türkei gewann, eben so nahm es bald darauf im Westen, durch die engere Aufnahme Polens in seinen Staatsverband eine für die Zukunft Teutschlands bedenklichere Stellung ein, als es jemals gehabt hatte. Schon im Jahre 1814 äußerten sich französische Publicisten, als es sich um Sachsen und Polen handelte: Quand un successeur du magnanime Alexandre voudroit disposer de la puissance de cet immense Empire pour franchir les dernières rivières qui coulent vers la Baltique, ce seroit alors que, non un etat isolé, non l'Allemagne seule auroit à se reunir pour conserver l'équilibre et les libertés de l'Europe etc. Während daher die Verhältnisse Polens auf dem Wiener Kongresse für die Dauer geordnet werden sollten, widersetzten sich, nach dem Vorgange Frankreichs, Oesterreich und England lebhaft der Vollziehung des zwischen Russland und Preußen in Bezug auf Polen eingeleiteten Separatvertrages. Man hob die Gefahr hervor, die durch vollständige Einverleibung des letzteren in den russischen Staatskörper für den Westen Europas und namentlich für Teutschland entstehen müsse: Es wurde damals als Grundsatz ausgesprochen, daß Preußen als natürliche Schutzwehr gegen Russland, stark sein müsse. In diesem Sinne machte der Fürst Talleyrand den Vorschlag, das ganze disponibel gewordene Herzogthum Warschau wenn nicht bis zur Narew, doch bis zur Weichsel, an die Krone Preußen zu überlassen; wodurch das letztere in den Besitz einer guten, militärischen Grenze nach Osten gekommen wäre, die ihm jetzt ganz mangelt. Wenn dieß auch unter den gegenwärtigen, freundlichen Verhältnissen zwischen dem preußischen und russischen Kabinette kein Bedenken erregen kann, so bleibt es doch immer merkwürdig, daß Preußen, das doch am meisten bei der Ausführung dieses Vorschlages betheiligt war, erst durch die Insinuationen fremder Höfe bewogen werden mußte, die ganze Größe und Bedeutung desselben in Betrachtung zu ziehen. Indessen kam es damals in Folge weiterer Verhandlungen und nach dem Eintritt späterer Ereignisse zu der nachmaligen und gegenwärtigen Gestalt der polnischen Angelegenheiten: Für die Zukunft kann aber niemand bürgen!

 

Unter so bewandten Umständen wird man sich nicht wundern, wenn bei dergleichen Aussichten in die Zukunft, wie sich aus der Idee des Panslavismus ergeben, den Teutschen

 

 

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das Blut rascher als gewöhnlich durch die Adern läuft, und wenn bei ihnen ungeachtet aller ihrer Weltbürgerlichkeit, die sie in den Stand setzt, jedes frische Streben für volksthümliche Bildung auch anderwärts freudig anzuerkennen, doch Russland gegenüber jene historische Abneigung gegen das Slaventhum wieder zu Tage tritt; wie wir schon in viel früheren Zeiten und nach dem ersten Zusammentreffen teutscher und slavischer Völkerstämme, wahrgenommen haben.

 

Man wird es auch ferner begreiflich finden, daß der Teutsche, der ohnehin gewohnt ist, bei allen Erscheinungen nach dem Grunde ihrer geistigen Berechtigung zu fragen, gegenwärtig mehr als je sein Augemerk auf den inneren Geist und Charakter der slavischen Völker und des russischen Volkes insbesondere und auf dessen Bildungsstufen richtet, um durch Ermessen seiner geistigen Errungenschaft die Befähigung desselben zur Lösung der großen Aufgabe zu prüfen, die in der Idee eines slavischen Universalstaates gegeben ist. Dergleichen Untersuchungen sind gewiß an sich nicht zu verwerfen, vorausgesetzt, daß sie vom Standpunkte der geschichtlichen Wahrheit und mit reiner Unbefangenheit und mit gründlicher Kenntniß slavischer und russischer Volkszustände geführt werden. Allein ich fürchte sehr, daß diejenigen, welche in neuester Zeit über Russland überhaupt oder über die Idee eines slavischen Universalstaates insbesondere von teutschen Gesichtspunkten aus Betrachtungen angestellt haben, mit den gegenwärtigen Bildungszuständen des russischen Volkes weder hinlänglich vertraut waren, noch auch von der Macht jener Antipathien sich ganz frei wußten, die in dem Blute der Teutschen so leicht aufsteigen. Denn wenn man auf die Stimmen hören will, welche in den jüngsten Zeiten über obigen Gegenstand, in geachteten teutschen Blättern und besonderen Schriften laut geworden sind, scheinen die Russen am wenigsten unter allen slavischen Völkern zu der Lösung jener großen Aufgabe befähigt zu sein. Ja sie sollen wegen ihrer äußerst mangelhaften Civilisation überhaupt nicht zu irgend welchen Ansprüchen auf selbstthätige Theilnahme an dem politischen und wissenschaftlichen Geiste in Europa und zu dessen Fortbildung berechtigt sein. Als Gründe für die Behauptung sind angeführt worden, daß in Russland die Leibeigenschaft, obschon in neueren Zeiten durch Gesetze gemildert, doch in der Praxis des Lebens noch in ihrem ganzen Umfange bestehe. Ferner sei dort,

 

 

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ungeachtet der Bemühungen Katharina der Zweiten und der späteren Regierungen, noch kein dritter Stand lebenskräftig emporgekommen, mithin auch der Stamm nicht vorhanden, auf welchen das Pfropfreis der europäischen Kultur mit Erfolg gebracht werden könne! Weiter habe in Russland die absolute Gewalt des unumschränkten Alleinherrschers nicht gar selten Unstätigkeit des Schutzes der Gesetze zur Folge. Endlich sei überhaupt in dem russischen Volke, in dessen geistigen Sphären, mehr das Talent der glücklichen Nachahmung, als eigene, originelle Erfindungsgabe und geniale Geisteskraft, bemerkbar. Aus allen diesen Gründen gehe aber deutlich hervor, daß auch das russische Volk zum Beweise dienen könne: daß die slavische Völkerfamilie zu spät gekommen sei, um an dem geistigen Tagewerke der europäischen Menschheit mit bedeutendem Erfolge selbstthätigen Antheil zu nehmen.

 

Sollen wir uns im Ernste zu einer solchen Behauptung berechtigt halten?

 

Ich glaube doch nicht! Denn wenn wir teutscher Seits nur so gerecht und billig sind, Russlands Gegenwart aus seiner Vergangenheit zu erklären, werden wir einsehen, daß Peter der Große und seine Nachfolger den geschichtlichen Grund und Boden, auf welchem sie ihr Volk vorfanden, nicht eigenmächtig ganz zurückwerfen oder umkehren und die Nachwirkungen unglücklicher, früherer Ereignisse nicht mit einem Schlage tilgen konnten. Wir werden ferner einsehen, daß sie die dringendsten und nothwendigsten Schritte, um ihr Volk auf die Stufen europäischer Art und Bildung rasch emporzuheben, doch mit großem Erfolge gethan haben, der für die Zukunft immer bedeutender zu werden verspricht. Die Entwickelung dieses neuen Lebens in Russland begann damit, daß Peter sein Volk auf den Schauplatz umfassender und glänzender Thätigkeit brachte und es dadurch näher mit dem Leben der europäischen Menschheit verband. Er gab seinem Vaterlande durch seine glücklichen Siege große, welthistorische Ereignisse und schrieb die ersten Kapitel seiner neuern Geschichte auf den Wogen des baltischen Meeres, auf den Feldern von Livland und der Ukräne. Gleichzeitig begann er im Inneren mit den nothwendigsten Reformen! Er vernichtete in seinem Reiche die Vielherrschaft eines mächtigen Adels dadurch für immer, daß er die Bedeutung des Geburtsadels von dem Dienstadel abhängig machte. Er lehrte

 

 

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sein Volk den rechten Gebrauch seiner großen, materiellen Hilfsmittel kennen, und brachte es, um die Ausbeutung derselben möglich zu machen, in Verbindung mit zwei Meeren. Allein Peters kräftiger Persönlichkeit galten alle Bewohner des russischen Reiches als eben so viel blinde Werkzeuge, bestimmt den Ideen seines energischen Geistes zu gehorsamen und zu dienen. So behandelte er seine ersten Beamten! Aehnlich verfuhr noch Elisabeth, die im Guten und Bösen altrussischen Sitten zugethan blieb. Der geistvollen und hellsehenden Regentin Katharina der Zweiten blieb es aufbehalten, Russland eine europäische Regierungsform und dem Begriffe des Unterthanen eine mildere Bedeutung zu geben. Unter dem menschenfreundlichen Alexander verbreiteten sich dann die Ideen von bürgerlicher Ehre so allgemein, daß durch deren Vergesellschaftung mit dem Begriffe des Unterthanen das russische Reich mit den übrigen Staaten Europas immer mehr auf gleiches Niveau der Kultur gelangt.

 

Wenn aber dennoch jene oben hervorgehobenen Mängel der russischen Civilisation, wirklich, auch in der Gegenwart noch vorhanden sind, sind sie es theils nicht in dem Grade, in welchem sie gewöhnlich in den Augen eines teutschen Beobachters erscheinen, theils werden sie auch nur durch eine langsam und vorsichtig zu Werke gehende Politik allmälig und in späteren Zeiten vollständig gehoben werden können! Auf keinen Fall berechtigt daher dieser Umstand zu Folgerungen, durch welche den slavischen Völkern oder doch den Russen ihr Anspruch auf die Theilnahme an europäischer Bildung geschmälert oder ganz entzogen werden soll. Eine nähere Beleuchtung jener genannten Mängel der russischen Civilisation dürfte deßhalb hier an Ort und Stelle sein.

 

Was zuerst die Leibeigenschaft anlangt, so hat dieselbe seit alten Zeiten in allen rein slavischen Ländern in der ausgeprägtesten Form bestanden. Sie war als ein auf nationalem Rechte beruhendes Lebensverhältniß schon aus diesem Grunde den Slaven weniger fühlbar als den Teutschen, bei welchen sich das Institut der Leibeigenschaft erst in Folge ihres Lehensstaates und dessen eigenthümlicher Heerverfassung obgleich nicht in so allgemeiner und weiter Verbreitung ausbildete, wie bei den slavischen Völkern. Daher auch in Teutschländ die staatsbürgerliche Bedeutung der eigentlichen Masse des Volkes nie so völlig verloren gegangen ist,

 

 

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wie z. B. in Polen und Russland: In dem ersteren und den an dasselbe grenzenden Ländern slavischer Bevölkerung bestand jedoch die Leibeigenschaft weit früher, als in dem letzteren, wo dieselbe gesetzlich erst in viel späteren Zeiten, in der ersten Hälfte des siebenzehnten Jahrhunderts, ausgesprochen und im allgemeinen nie mit jener Härte geübt wurde, wie in Polen. „Daß die polnischen Bauern schon im Anfange des elften Jahrhunderts vom Adel hart gedrückt wurden, erfahren wir aus der Nachricht von dem Schutze, welchen ihnen Herzog Boleslav der Erste angedeihen ließ. Die nicht minder ruhmwürdigen Bestimmungen König Kasimir des Großen für die Bauern zeigen indessen eben so, wie die Geschichte derselben in Polen, daß ihr Zustand sich hier immerfort wieder verschlimmerte!“ In Rußland fand vielmehr das umgekehrte Verhältniß statt. So verordnete Iwan der Grausame , daß den Bauern auf Dienst- und Erbgütern des Adels vergönnt bleiben dürfe in anberaumten Fristen ihre Wohnsitze und Grundherren nach eignem Dafürhalten zu verändern, sobald sie nur ihre Verbindlichkeiten gegen die letztern abgetragen hätten. Damals waren also die russischen Bauern noch keine völligen glebae ad scripti. Indessen bestand auch nach der Aufhebung der durch dieses Gesetz bestimmten Freizügigkeit der russischen Hörigen die Leibeigenschaft in Russland in einer zwar sehr weit ausgedehnten, aber in der Regel milden und der Volkssitte gemäß väterlichen Gewalt des Gutsherren über seine eigenen Leute. Freilich hat es in vielen einzelnen Fällen nach Menschenweise an schweren und drückenden Mißbräuchen nicht gefehlt. Rohe und hartherzige Grundherren haben sich oftmals allen Ausbrüchen ihrer wilden Leidenschaften gegen ihre Hörigen hingegeben und sich selbst unmenschliche Grausamkeiten gegen dieselben zu Schulden kommen lassen. Doch blieben, so viel dem Verfasser bekannt worden ist, Beispiele der letzteren Art in Russland weit seltener, als in den von teutschen Gründherren besetzten Provinzen von Liv- und Esthland *). Um aber auch der Möglichkeit solcher mißliebigen

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*) Dem Verf. sind von dem wirklichen Staatsrath X... in Petersburg, der bei den Verhandlungen über die Aufhebung der Leibeigenschaft in Esthland durch seine amtliche Stellung betheiligt war, und dem die Akten vorlagen, wahrhaft schauderhafte Geschichten über die Behandlung der armen leibeigenen Esthen von Seiten ihrer teutschen Herren mitgetheilt worden, Geschichten, die zum Theil in noch unlängst vergangene Zeiten fallen. Indessen exempla sunt odiosa.

 

 

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Erscheinungen nach Kräften vorzubeugen, richtete die russische Regierung, sobald sie überhaupt eine europäische Gestalt angenommen hatte, ihre gesetzgebende und verwaltende Macht auf die Beschränkung der gutsherrlichen Gewalt, und suchte, besonders seit dem Anfange dieses Jahrhunderts, durch dem entsprechende Verordnungen und Maaßregeln die Lage der Leibeigenen in alle Wege zu erleichtern und zu verbessern. So wurde den Gutsherren in Russland nicht allein der Verkauf ihrer leibeigenen Leute ohne den von ihnen bebauten Grund und Boden gesetzlich streng untersagt, sondern ihnen auch die Verpflichtung auferlegt, zur Bewirthschaftung der gutsherrlichen Ländereien ihre Leibeigenen auf keinen Fall länger als die Hälfte der wöchentlichen Arbeitstage in Anspruch zu nehmen, ihnen aber die andere Hälfte zur Bearbeitung ihrer eigenen Gesinde und Felder frei zu lassen. Ferner wurde zwar den Gutsherren das Recht nicht ganz entzogen zur Strafe und Besserung ihrer Leibeigenen häusliche Zuchtmittel zu gebrauchen, wohl aber auf viel engere Grenzen beschränkt und ihnen namentlich verboten, Leibesstrafen bis zur Gefährdung der Gesundheit und des Lebens zu steigern. Eine andere gesetzliche Verfügung untersagt gegenwärtig den russischen Gutsherren, ihre Leibeigenen zur Verheirathung zu zwingen, ein Mißbrauch, der in früheren Zeiten keineswegs selten vorkam, und der zur Anlegung von wahren Menschenzüchtereien führte. Außerdem sind die russischen Gutsherren verpflichtet, ihren Leibeigenen zur Ernährung ihrer Familien ein gesetzlich bestimmtes Maaß urbaren Landes zur freien Benutzung zu überlassen und ihnen in Zeiten der Noth, des Mißwachses, der Theuerung u. s. w: die nöthigen Mittel zu ihrem Lebensunterhalte zu reichen. Daher kennt der russische Leibeigene eigentliche Nahrungssorgen nicht, die in manchen teutschen Landschaften so schwer auf den niedern Klassen der Bevölkerung lasten; jener weißen Sklaven nicht zu gedenken, die anderwärts, wie in dem vielgepriesenen England, und in neuester Zeit leider auch immer mehr in unserem Vaterlande in den Fabriken verkümmern. Denn russische Gutsherrschaften, die sich eine Vernachlässigung jener gesetzlichen Vorschriften zu Schulden

 

 

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kommen lassen, müssen erwarten, daß ihre Leibeigenen sofort auf Kronsländereien ansäßig gemacht werden. Daraus wird erklärlich, weßhalb leibeigne Bauern die ihnen angebotene Freilassung nicht selten zurückweisen, weil sie ein sorgenfreies Leben der Freiheit selbst vorziehen, da sie sich in ihrer Stellung auch nicht mit dem Staate abzufinden haben, indem dafür gesetzlich die Gutsherren selbst eintreten müssen *). Eine anderweitige heilsame Beschränkung der gutsherrlichen Gewalt ist endlich in dem Verbote enthalten, Leibeigene ohne ihren eigenen Willen zur Arbeit auf Fabriken abzugeben. Ueberhaupt werden diejenigen Gutsherrschaften, die sich Ausbrüche unmenschlicher Härte und grausamer Behandlung gegen ihre Leibeigenen erlauben, oder dieselben mit unerträglichen Lasten überhäufen, unter die Vormundschaft des Staates gestellt; sie dürfen in eigner Person ihre Güter nicht mehr betreten und müssen die Verwaltung derselben ganz dem Ermessen der dazu vom Staate verordneten Behörden überlassen.

 

Durch diese und manche andere gesetzliche Bestimmungen, über deren Aufrechthaltung die Gouvernementsbeamten zu wachen haben, ist in Russland die Leibeigenschaft bedeutend gemildert worden. Indessen bleibt doch zu wünschen übrig, daß den Gerichten nicht untersagt wäre, von Leibeigenen in andern Fällen, als-bei dem Verbrechen des Hochverrathes und wenn bei der allgemeinen Revision Seelen verheimlicht werden, Klagen gegen ihre eigenen Gutsherren anzunehmen, damit die Willkühr der letzteren nicht allein in der strengen Aufsicht der Staatsbehörden eine Schranke zu fürchten hätte. Auch scheint es hart, daß sich noch immer nicht nur einzelne, leibeigene Familien, sondern auch ganze Dorfgemeinden von Seiten ihrer Gutsherren gefallen lassen müssen, in andere oft weitentlegene Besitzungen derselben

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*) Leibeigene, die bedeutende Handelsgeschäfte treiben und Hunderttausende besitzen, sind in den großen Städten Russlands nicht ganz selten. Mänche derselben würden nicht leicht dazu zu bringen sein in den Stand der Freien überzutreten, wodurch sie sich nur eine Reihe von Abgaben und bürgerlichen Lasten aufbürden würden, die sie jeht mit einer verhältnißmäßig oft sehr geringen jährlichen Steuer an ihre Gutsherren abkaufen, wie dieß z. B. mit vielen Leibeigenen des großen Landbesitzers Grafen Scheremetjeff der Fall ist.

 

 

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übergesiedelt zu werden. Endlich muß noch in diesem Sinne der Beschränkung des Eigenthumsrechtes der Leibeigenen gedacht werden, die auf keine Weise liegende Gründe erwerben können. Denn selbst in dem Falle, daß ihnen durch das Recht der Erbfolge unbewegliches Eigenthum zufällt, tritt sofort eine gerichtliche Veräußerung desselben ein und nur die auf diesem Wege gelöste Geldsumme wird sofort den leibeigenen Erben überantwortet *). -- Ueberhaupt bleibt die Leibeigenschaft auch in ihrer gegenwärtigen Gestalt ein der socialen Entwicklung des russischen Volkes entgegenstehendes, großes Hinderniß. Nur darf man daraus nicht die übereilte Folgerung ziehen, als wenn die russische Regierung demnächst keine höhere Verpflichtung habe, als die Leibeigenschaft in dem ganzen Bereiche ihrer Macht unverweilt aufzuheben. Denn wenn sie dergleichen an sich gutgemeinten und humanen Ansichten Folge geben wollte, würde doch wenig Heil für das russische Volk erzielt werden. Denn gesetzt auch, daß bei der Ausführung einer solchen Maaßregel mit Zustimmung aller Betheiligten von ganz anderen Gesichtspunkten ausgegangen würde, als in den Ostseeprovinzen, wo die freigelassenen Esthen und Liven aus dem Verhältnisse ihrer Hörigkeit her nicht den geringsten Ansprüch auf Grundeigenthum behalten haben, die große Masse der russischen Leibeigenen würde doch gar nicht im Stande sein, von ihrer Freiheit einen vernünftigen Gebrauch zu machen, so lange in dem großen Binnenlande keine bedeutend vermehrte Zahl volkreicher und blühender Städte die Verwerthung und den Vertrieb aller Arten von Bodenerzeugnissen erleichtert, und die behagliche Eristenz einer Menge kleiner, freier Grundbesitzer möglich macht; so lange die Landwirthschaft in Russland selbst noch in der Kindheit und nicht zum allgemeinern Anbau von Futterkräutern und Sämereien, zum Gartenbau und zur Obstbaumzucht und zur ausgedehnteren Pflege der Schaafzucht u. s. w. fortgeschritten ist; so lange endlich noch keine Volksschulen auf den Besitzungen sämmtlicher russischer Grundherrn errichtet worden sind, in welchen die Leibeigenen eine ihrem ländlichen Berufe angemessene,

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*) Ganz neuerlich ist auch den russischen Leibeigenen die Erwerbung unbeweglichen Eigenthumes unter gewissen Beschränkungen gestattet worden.

 

 

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sittlich-religiöse und intellektuelle Bildung erhalten. Nur nach dem Eintritt dieser Vorbedingungen, glaube ich, würden die russischen Leibeigenen, wenn sie einmal frei gemacht würden, von: dieser Errungenschaft einen ganz anderen Gebrauch machen, als die armen Esthen und Liven, die nach wie vor in ihren Rauchhütten leben, in dem Stande der Freiheit die lezten Zeichen ländlicher Wohlhabenheit verlieren und ihre bürgerliche Unabhängigkeit in sehr vielen Fällen nur zum Herumlungern auf dem Lande verwenden, zu dessen Verderben sie die Zwischenhändler machen.

 

Ueberhaupt wird, den Gesetzen europäischer Staatsbildung zufolge, in Russland wie anderwärts, die gänzliche Befreiung der ländlichen Bevölkerung nicht früher eintreten können, als bis sich dort ein zahlreicher und lebenskräftiger, dritter Stand, der des Bürgerthumes, vollständig ausgebildet hat, durch dessen Rückwirkung auf die ländliche Bevölkerung diese selbst allmälig zur weiteren Entwickelung ihrer socialen Zustände fortgezogen werden wird. Dieß steht um so mehr zu erwarten, da es schon gegenwärtig bei einem Theile der russischen Bauern nicht an gesunden Lebenskeimen fehlt, die auf eine staatsbürgerlich bedeutsamere Stellung derselben hinweisen. Dahin gehört die Kommunalverfassung derjenigen Landgemeinden, die entweder aus freien Grundeigenthümern oder aus sogenannten Kronsbauern bestehen. Beide Arten der ländlichen Bevölkerung besitzen hinsichtlich der Verwaltung ihrer Gemeindeangelegenheiten eine ziemlich ausgedehnte Unabhängigkeit von den Staatsbehörden. Nach den noch in diesem Jahrhundert vervollständigten gesetzlichen Verordnungen über die verfassungsmäßige Stellung der freien, ländlichen Bevölkerung in Russland steht den einzelnen Gemeinden das Recht zu, Versammlungen zu halten und in diesen die Berathung und Verhandlung ihrer gemeintheitlichen Bedürfnisse und Interessen zu handhaben. Insbesondere bleibt aber den freien Bauerngemeinden die Wahl ihrer Ortsbehörden, die Bewirthschaftung und Vertheilung des Gemeindelandes, die Berechnung der Steuern und Leistungen, die jedem Gliede der Gemeinde zufallen, und die Verurtheilung einzelner Individuen für geringere Vergehen und deren Bestrafung gänzlich anheimgegeben. Sie dürfen auch sittlich unverbesserliche Individuen aus ihrem Gemeindeverbande entfernen und dieselben zur Ansiedlung in Sibirien an die betreffenden Behörden überweisen.

 

 

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Das Gemeindeland besteht aus den zu jedem Dorfe oder Flecken gehörigen liegenden Gründen. Es genießt die Rechte des Kronseigenthumes und darf an einzelne Familien nur mit Zustimmung der ganzen Gemeinde vertheilt werden. Auch andere liegende Gründe dürfen freie Landgemeinden mit Erlaubniß des Kameralhofes sowohl von Privatpersonen wie von der Krone erwerben.

 

Gewiß bleibt es eine erfreuliche Erscheinung, die zugleich als Gewähr für die Fortschritte des russischen Staates auch in diesen niedern Sphären auftreten darf, daß die freie, ländliche Bevölkerung in Russland in fortwährender Zunahme begriffen ist. In der That wird dort die Freilassung leibeigener Menschen durch Gesetzgebung und Verwaltungsmaximen gleicher Weise begünstigt. Dahin gehört die Beschränkung der gutsherrlichen Gewalt, sobald Leibeigene ihre Freiheit auf rechtlichem Wege nachsuchen. Vor Entscheidung über ihr Gesuch durch die treffenden Behörden darf sie kein Gutsherr verkaufen, als Rekruten oder zur Ansiedlung in Sibirien abgeben. Ihre körperliche Züchtigung bleibt ihm ebenfalls fortan untersagt: Niemals kann aber ein freier, russischer Unterthan wieder in das Verhältniß der Leibeigenschaft hineingerathen, selbst wenn es sein eigner, freier Wille und Entschluß wäre? Nicht selten sind dagegen die Fälle, in welchen russische Grundherren aus eignem, freien Antriebe sowohl einzelnen Leibeignen wie ganzen Dorfgemeinden die Freiheit schenken. Dazu kommt noch, daß die zahlreichen Truppen aller Waffengattungen, welche der Mehrzahl nach ursprünglich dem Stande der Leibeigenen angehören, nach vollendeter Dienstzeit dem Stande der freien Leute zugeschrieben werden. Endlich ist hier auch noch der Ukase vom Jahre 1842 zu gedenken, durch welche leibeigene Bauern das Recht erhalten haben mit ihren Gutsherren Verträge wegen der ihnen zugetheilten Ländereien abzuschließen, die sie bedingungsweise als Eigenthum erwerben dürfen; so daß ihnen dadurch ein neuer Uebergangspunkt in den Stand der Freien geöffnet zu sein scheint.

 

Das -Wachsthum der städtischen Bevölkerung und ihre selbstständigere Stellung datirt sich in Russland hauptsächlich aus den Zeiten Katharina der Zweiten. Diese große Fürstin erkannte gar wohl, daß ohne das Bürgerthum, auf dessen Boden überall thätiger Gewerbfleiß, Verstand, Einsicht, gute Sitte, Aufklärung und Bildung, am freudigsten gediehen

 

 

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sind, dem Staate ein wesentliches Glied abgehe, dessen Vorhandensein gleichwohl zu seiner naturgemäßen, fortschreitenden Entwickelung unumgänglich nothwendig sei. Sie wußte es, daß einem so großen Reiche, wie dem ihrigen, die Ruhe des Kirchhofes in seinem Innern wenig zieme, daß es vielmehr des Geräusches des Marktes und des lärmenden Getriebes der Industrie bedürfe. Sie beurkundete diese ihre Denkweise in der wichtigen Ukase vom 21sten April 1785, wie durch einen eigenhändig von ihr redigirten Entwurf über die verfassungsmäßige Stellung der städtischen Bevölkerung in Russland.

 

Seit diesem Zeitpunkte sind in diesem nördlichen Reiche eine Reihe von Ukasen erschienen, welche die Rechte der mittleren Stände vollständig festsezen. Ihnen zufolge genießen die Bewohner russischer Städte, welche sich die Rechte wirklicher Bürger erwerben, nicht unbedeutende Befugnisse und Vorzüge, die theils persönlicher Art, theils genossenschaftlicher Natur sind. In der letzteren Hinsicht haben sie das Recht Versammlungen zu halten und in diesen über ihre gemeinheitlichen Angelegenheiten unabhängig von den Staatsbehörden Rath zu pflegen und Entschlüsse zu fassen. Außerdem wird in diesen Versammlungen die Wahl der städtischen Verwaltungsbeamten, die Berathung über die Mittheilungen der Gouvernementsbehörden und die Abfassung von Vorstellungen an die Regierung vorgenommen. Außer diesen Zusammenkünften der Bürger in den einzelnen Städten gibt es noch Versammlungen städtischer Deputirten, welche in jeder Stadt aus dem Haupte der bürgerlichen Gesellschaft und aus den in jedem Stadttheile gewählten Altermännern besteht. Ihre Bestimmung ist, in gewissen Zeiträumen mit der Deputirtenversammlung des Adels in jedem Gouvernement zusammengetreten, um sich gemeinsam mit dieser über die Belastungen des Landes zu berathen und die darauf bezüglichen Gutachten der Regierung vorzulegen. --Was die persönlichen Befugnisse eines russischen Bürgers betrifft, so hat derselbe das Recht an den Versammlungen seiner städtischen Gemeinde und an ihren Verhandlungen ungekränkten Antheil zu nehmen. Außerdem sind diejenigen Bürger, welche in eine der drei Gilden russischer Kaufleute eingetragen sind, von der Leistung des Militärdienstes und der Kopfsteuer gänzlich befreit. Ferner darf keine Obrigkeit oder Gutsherrschaft Abgaben und Dienstleistungen auf städtische Bewohner legen,

 

 

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die nicht in den allgemeinen Reichsgesetzen vorgesehen sind, ohne durch die eigenhändige Unterschrift des Kaisers dazu ermächtigt worden zu sein. Endlich können die Rechte eines russischen Bürgers niemals durch einen Akt der bloßen Willkühr, sondern nur in Folge eines richterlichen Sprüches oder böswilliger Vergantung verloren gehen.

 

Die Rechte eines russischen Bürgers genießen aber alle in Gilden eingetragene Kaufleute, die Ehrenbürger, Kleinhändler und sonst bürgerliche Gewerbe Treibende nebst den in Zechen eingeschriebenen Handwerkern.

 

Allerdings steht die Zahl derjenigen, welche in Russland nach landesüblichen Begriffen zu den mittleren Ständen gezählt werden, zu der Bevölkerung des flachen Landes in noch gar keinem befriedigenden Verhältnisse. In den östlichen Ländern der Krone Preußen, wo die städtische Bevölkerung am geringsten ist, verhält sie sich doch zu denjenigen des flachen Landes nach den Angaben Dietericis wie Eins zu Vier. Dieß Verhältniß ist, so sehr auch die städtische Bevölkerung im Steigen ist, für Russland noch lange nicht erreicht. Indessen wird die eifrige Pflege zur Beförderung städtischen Kunstfleißes, Handels und Gewerbes auch der fortschreitenden Entwickelung des städtischen Lebens in Russland immer mehr zu Gute kommen, zumal wenn die Impulse zu socialen Fortschritten jeder Art von der Nation selbst ausgehen, was gegenwärtig wirklich der Fall zu sein scheint. Zu wünschen wäre nur, daß der alte Glaube an die Bedeutung der Handelsbilanz für den Nationalreichthum von russischen Staatsmännern immer weniger genährt würde. Wenigstens würden dann tausend den Handel und Verkehr drückende Formalitäten fallen und manche Anlässe verschwinden, die gegenwärtig bei den an Russland angrenzenden teutschen Volksstämmen alte Antipathien wieder aufwecken.

 

Im allgemeinen sehen wir aber gegenwärtig in Russland die drei Grundelemente jedes organisch gegliederten und zu einem gewissen Grade der Reife gelangten Staatslebens in vollständiger, wenn gleich noch nicht gleichmäßig entwickelter Form vorhanden. Die unterste Stufe, welche in jedem kräftigen Volksstaate, dessen Existenz nicht auf prekäre Verhältnisse nach außen hin gegründet ist, die breite Basis seines natürlichen Bestandes bildet, besteht aus der allerdings nur erst zu einem Theile freien, ländlichen Bevölkerung

 

 

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mit ihrer Kommunalverfassung. An diese schließt sich dann in den Städten das Bürgerthum mit seinen korporativen Gerechtsamen und Befugnissen als eine zweite Stufe des staatsbürgerlichen Lebens in Russland an. Die dritte wird endlich durch den grundbesitzenden Adel in dem letzteren gebildet, welcher in jedem Gouvernement eine besondere Gesellschaft konstituirt, die ebenfalls das Recht zu Versammlungen und zur Berathung ihrer gemeinschaftlichen Interessen hat und die sich in wichtigen Fällen unmittelbar an den Kaiser wenden darf. Diese Adelsversammlungen, welche aus dem erblichen Adel jedes Gouvernements in der Regel immer nach drei Jahren zusammentreten und an deren Spitze der Landmarschall steht, welchem die Leitung der Verhandlungen obliegt, haben außer ihren eignen Angelegenheiten auch noch die Prüfung der dreijährigen Rechnung der Gouvernementsbehörde zu vollziehen. Alle ihre Beschlüsse und Entscheidungen erfolgen zwar in Gegenwart des Gouvernementsprofkurators, allein ohne die mindeste Theilnahme desselben oder irgend eines andern Staatsbeamten. Deßhalb dürfen Gutsbesitzer, die in Krondiensten stehen, wenn sie gleich sonst vollständig berechtigt zum Eintritt in die Adelsversammlung ihres Gouvernements sind, doch unter keinem Vorwande zu der letzteren zugelassen werden. Keine Adelsversammlung darf als solche wegen ihrer Verhandlungen vor Gericht gestellt werden. Doch sollen die Beschlüsse dieser Adelsversammlungen den allgemeinen Gesetzen des russischen Reiches nicht zuwider laufen. Ein Ausschuß dieser Adelsversammlungen wird von den Adelsdeputirten gebildet, die in jedem Gouvernement aus dem Adelsmarschall und je aus einem in jedem Kreise gewählten Gutsherren bestehen. Die amtliche Wirksamkeit desselben ist, wenn er nicht mit den Deputirten der Städte zu dem bereits angegebenen Zwecke zusammentritt, größtentheils nur eine formelle.

 

Was nun den innern Geist dieser drei Klassen der russischen Staatsgesellschaft betrifft, so herrscht bei der ländlichen Bevölkerung gesunde, derbe Natureinfalt mit roher Sitte und großer Unwissenheit gepaart. Ein, vollständig ausgesponnenes Netz von Landschulen, das alle Gemeinden des russischen Reiches deckte, daran fehlt es noch ganz! Für höhere Lehranstalten und Bürgerschulen ist dagegen von Seiten der Regierung unendlich viel geschehen. Dieser Gang der Dinge war eben eine Nothwendigkeit geworden, seitdem

 

 

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in Russland die Bildung einmal von oben her begonnen hatte. Uebrigens wird der noch sehr fühlbare Mangel an Volksschulen nur unter dem eifrigen Beistande der Weltgeistlichkeit mit Erfolg gehoben werden können, die jedoch selbst noch der Unterweisung und Bildung bedarf, da man gegenwärtig nur in der höheren Geistlichkeit Russlands Männer findet, die sich durch gründliche, selbst klassische Bildung auszeichnen und die nicht selten auch mit den tiefsinnigen Werken teutscher Denker vertraut sind. In der zweiten Klasse, in den mittleren Ständen, ringt die alte Einfachheit des Lebens mit verfeinerten, gesellschaftlichen Bedürfnissen, die frühere Unwissenheit mit einer Art von Verstandesaufklärung, die mehr praktischer Natur ist, auf den unmittelbaren Nutzen geht, aber durch ihre Beziehungen auf Gemeinwohl eine höhere Bedeutung empfängt. So hat die Kaufmannschaft verschiedener, russischer Städte rühmliche Beweise gemeinnütziger Gesinnung in Menge gegeben; besonders diejenige von Moskau. Von derjenigen Klasse der russischen Nation endlich, die den gesammten Adel des Reiches in sich faßt, darf sich zumal der hohe Adel nicht mit Unrecht einer sehr feinen Ausbildung des Verstandes und sehr mannigfaltiger Kenntnisse rühmen, die indessen mehr encyklopädischer Natur sind und nicht immer mit geläuterter Empfindung und reinem Geschmack Hand in Hand gehen. Egoism, dieser kalte, steinerne Gast, hat wie anderwärts so auch in Russland seine liebste Wohnstätte in den geselligen Zirkeln jener feinen, vornehmen Welt aufgeschlagen, in der als die höchste Kunst liebenswürdiger Geselligkeit gilt, seine innersten Gefühle und Gedanken nie laut werden zu lassen. Aber dieselbe vornehme Welt birgt auch nicht wenige wahrhaft geistig gebildete und durch Denkungsart, Gesinnung und alle Tugenden der Humanität ausgezeichnete Menschen, wie der Verfasser während seiner Anwesenheit in Petersburg solchen nahe zu kommen das Glück hatte, die ihm immer als hohe Musterbilder reinster Menschlichkeit gelten werden.

 

Ueberhaupt muß bemerkt werden, daß jene gesetzlichen Bestimmungen und Verordnungen über die staatsbürgerliche Bedeutung der russischen Stände noch keineswegs das praktische Leben vollständig durchdrungen haben. Da jedoch in Russland jeder bedeutende Fortschritt im Staate und Leben in der Regel von oben her, von der Regierung selbst, zu beginnen hat, sind die angegebenen Verhältnisse schon deßhalb

 

 

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von der höchsten Wichtigkeit, weil man aus ihnen lernen kann, wohin die Regierung und Gesetzgebung will und schon seit Jahren gewollt hat. Unseres Erachtens geht nemlich aus denselben ganz klar hervor, daß es gegenwärtig einer vollständigen und tiefgreifenden Civilisation des ganzen russischen Volkes gilt. Dieß wird um so mehr einleuchtend werden, wenn wir damit die großen Fortschritte verbinden, welche die Gesetzgebung und die Vervollkommnung der Rechtspflege in Russland gerade in den jüngsten Zeiten erfahren hat. Die gegenwärtige Regierung hat sich nemlich das große Verdienst erworben, an die Stelle der lange nicht mehr genügenden und durch unzählige spätere Ukasen ergänzten und umgestalteten Gefetzgebung des Zaren Alexei ein systematisch geordnetes und alle Zweige des Volks- und Staatslebens umfassendes Gesetzbuch zu bringen, das den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechend in dem ganzen Umfange des nationalen, russischen Reiches Gültigkeit hat. Wer kennt nicht die in dieser Hinsicht wahrhaft großartigen und mit den schönsten Erfolgen gekrönten Bemühungen des verstorbenen ehrwürdigen Speranski, eines Mannes von seltenen Tugenden und Kenntnissen? Gleichzeitig sind für das Königreich Polen und die Ostseeprovinzen besondere Gesetzbücher vorbereitet worden. Daran schließt sich die Gründung bedeutender Lehranstalten, in welchen ausschließlich juristische Studien getrieben werden, wie die der kaiserlichen Rechtsschule in Petersburg, welche dem für alles Gute unermüdlich thätigen Prinzen Peter von Oldenburg ihr Dasein verdankt. Ich glaube zwar nicht, daß diese Anstalt für Russland ein zweites Bologna werden könnte, wie ein teutscher Professor meinte, der seine Verdienste um sein neues, russisches Vaterland, in verzeihlicher Eitelkeit, über Gebühr anschlägt; eben weil ihre Tendenz praktischer Art ist und sein soll und gar nicht beabsichtigt wird eigentlich gelehrte, juristische Studien in ihr zu treiben. Ich glaube aber, daß diese Anstalt gerade um dieser Tendenz willen recht wohlthätig für die Verbesserung der Rechtspflege in Russland wirken wird. Die Universitäten, auf welchen überdieß die Praxis des Lebens viel weniger berüsichtigt wird, reichen in Russland allerdings nicht zur Bildung von Justizbeamten aus. Wenigstens fehlt es notorisch daselbst auch noch in den höheren Richterstellen an Männern von gründlicher juristischer Bildung. Stehen erst diese in hinreichender Anzahl der Regierung

 

 

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zu Gebote, so wird sich auch die Praxis der Rechtspflege von den ihr gegenwärtig noch anklebenden Mängeln sicherlich bald befreien. Jedenfalls ist das Princip der russischen Rechtspflege vortrefflich. Denn es ist einer der ersten Grundsätze des russischen Rechts: daß der Gleiche nur von seines Gleichen gerichtet werden darf. Daher werden russische Unterthanen bei Klagen unter sich und bei peinlichen Verbrechen von Gerichten verurtheilt, die in der ersten Instanz durchgängig von Männern ihres Standes besetzt sind. Auch gilt in der russischen Justiz der dreifache Instanzenzug.

 

Wird nun doch der russischen Rechtspflege so manches Schlimme nachgesagt, so müssen wir freilich eingestehen, wir treffen hier auf einen Krebsschaden, der weltbekannt ist, wir meinen die große Bestechlichkeit vieler russischer Beamten. Die Gründe zu dieser mißliebigen Erscheinung -- ich sehe sie hauptsächlich in Folgendem. Bei dem schnellen Uebergange des russischen Volkes aus ganz einfachen Lebenszuständen in das künstlich berechnete Staatswesen der modernen Welt ist eine große Zahl der durch diesen Umstand nöthig gewordenen Beamten in ihrer geistigen Bildung und ihrer sittlichen Gesinnung weit hinter den Anforderungen zurückgeblieben, die man schon, wegen der amtlichen Wirkungskreise, die sie vertreten, an sie stellen müßte. Mangel an Bildung wird also hier eine Quelle mannigfacher, bestehender Missbräuche! Eine andere, nicht minder ergiebige Quelle ist aber gewiß auch in dem Gegensatze dieses Mangels, in der Verbildung, zu finden, indem sich manche Beamte besonders in den Hauptstädten oft mit einem geringen Gehalte den übertriebenen Ansprüchen, welche in unserer Zeit an äußere Repräsentation und an Theilnahme an feinen , geselligen Lebensgenüssen gemacht werden, oft ganz sorglos überlassen und dadurch sehr bald gezwungen sehen, zu unredlichen Erwerbsmitteln zu greifen, weil ihre Besoldung zu dergleichen nicht ausreicht. In einem dritten Falle mag auch die Geringfügigkeit der Gehalte selbst die Veranlassung zum Aufsuchen unerlaubter Erwerbsquellen werden, was ebenfalls vorzüglich die größeren Städte angehen möchte. Denn die außerordentliche Wohlfeilheit aller Lebensbedürfnisse im Innern Russlands läßt wohl die dort angestellten Beamten, auch bei kleinem Gehalte, nicht leicht in den Fall kommen, daß sie mit ihrer Besoldung nicht ausreichen könnten, so lange sie wenigstens

 

 

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die einheimischen Produkte den theueren, ausländischen vorziehen. Daß aber unter solchen Umständen selbst bei der strengsten Kontrolle von oben gar viele Ungesetzlichkeiten nicht verhüthet werden können, welche sich russische Beamte erlauben, springt in die Augen. Gewiß werden jedoch die Verbesserungen, welche für amtliche Stellungen in vielen Zweigen des Staatsdienstes neuerdings eintreten, die Fortschritte der socialen Entwickelung überhaupt, die jetzt mit Allgemeinheit um sich greift, und endlich hauptsächlich die gegenwärtig vermittelte Heranbildung eines gediegenen Richterstandes dergleichen Uebelständen immer mehr steuern. Unendlich viel ist für Russland schon dadurch gewonnen, daß in den höheren Sphären der Staatsmacht an die Stelle der Willkühr und augenblicklichen Entschlusses immer mehr die fortdauernde Berücksichtigung des Gemeinwohles getreten ist. Man vergleiche nur die Zeiten Elisabeths mit dem neunzehnten Jahrhundert! Die stete Berücksichtigung des Gemeinwohles, der wahren Staats- und Volksinteressen, scheint aber das einzige, bedeutende, demokratische Element zu sein, welches in jeder unumschränkten Monarchie nicht allein zulässig ist, sondern zu deren kräftigem Bestande auch durchaus erforderlich wird.

 

Endlich wäre noch eines Vorwurfes zu gedenken, der den Russen aus der Mitte germanischer und romanischer Völker ziemlich allgemein gemacht wird und der darin besteht, daß dieselben zwar die Tugenden des unteren Gedankenlaufes, mit Platner und Fries zu reden, auf bewundernswürdige Weise zu üben verstehen, daß ihnen aber jene höheren Anlagen der menschlichen Natur, auf welchen jede Art geistiger Selbstthätigkeit, geniales Denken und Schaffen auf dem Gebiete der Wissenschaft, der Dichtung und jeglicher Kunst, und selbst der höchste, sittliche Lebensernst beruhen, in gleichem Maaße versagt bleiben. Man hat in dieser Hinsicht auf die außerordentlichen, mechanischen Talente des nationalen Russen, seine sonst ungewöhnliche Geschicklichkeit und Gewandtheit zur Nachahmung und Nachbildung in technischen und seine vielumfassende Sprachfähigkeit in geistigen Sphären hingewiesen. Man hat aber auch als Gegentheil davon auf den großen Mangel an regsamen Trieben für die geistigeren Bedürfnisse des Menschenlebens aufmerksam gemacht und in dieser Beziehung angeführt, daß der nationale Russe in der Regel nur ein äußeres Verständniß geistiger

 

 

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Erscheinungen und Zustände suche, daß ihm deßhalb die Mühe des Selbstdenkens und wissenschaftliche Gründlichkeit fremd bleibe und daß er in Sachen des Geschmackes in der That noch ein wahres Kind sei, das sich mit naiver Freude an den Besitz von Formen und Namen hängt, welchen Sache und Inhalt völlig unangemessen sind.

 

Die Einseitigkeit solcher Bemerkungen ist schon da, wo von dem Charakter der slavischen Poesien die Rede war bestimmt hervorgehoben worden. Man braucht aber, wie der Verfasser glaubt, nur einige Streiflichter auf die russische Literatur und ihre Geschichte fallen zu lassen, um von den geistigen Fähigkeiten der Russen eine erfreulichere Ansicht zu gewinnen, als die eben bezeichnete ist. Denn ungeachtet ihrer Jugendlichkeit begegnen wir doch in derselben so manchen trefflichen, wahrhaft poetischen Erzeugnissen, die neben den Poesien der gebildetsten Völker eine ehrenwerthe Stelle einnehmen. Man darf nur an die berühmten Namen eines Derschawin, Shukofski und Puschkin erinnern, die auch in Teutschland einen guten Kläng haben, und von welchen der Verf. die beiden letzteren persönlich gekannt und namentlich Shukowski als einen der edelsten Menschen verehren gelernt hat. Unübertroffen steht ferner durch Originalität der Erfindung, durch ächt nationale Denkweise und durch kräftigen, rein volksthümlichen Ausdruck, der in den französirenden, gebildeten Ständen Russlands noch immer eine Seltenheit ist, der greise Fabeldichter Krilof da. Mit unbefangener Freimüthigkeit erkennt derselbe die Gebrechen in den Zuständen seines Volkes an und sucht das klare Bewußtsein um dieselben zu wecken. Er läßt sich durch den Glanz hohler Formen und erkünstelter Lebensverhältnisse nicht blenden! Daher der gutmüthige Hang zur Satyre, der überhaupt dem russischen Nationalcharakter nicht fremd ist, in seinen Fabeln mit ganz eigenthümlichem Reiz hervorbricht. Es ist derselbe Hang, von welchem Puschkin angeregt in seinem Onegin die Bildungsverhältnisse der höheren Stände in Russland, den Gang ihrer Erziehung und Unterweisung und die allgemeinen Gebrechen derselben mit so bündiger Treue zeichnet, daß man einem Teutschen nur die wörtliche Uebertragung dieses Gedichtes in die Hände geben darf, um ihn vollständig zu belehren, wie es in der Jugendzeit des Dichters mit diesen Dingen in seinem Vaterlande aussah. Wie viele Andere wären noch zu nennen, die, wenn sie auch

 

 

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keine größeren Dichtungen schufen, doch wunderliebliche Lieder sangen, in welchen der harmlose Gleichmuth und der offene Sinn des russischen Volkes für die süße Gewohnheit des Daseins, so wie für die Herrlichkeit und Fülle des Naturlebens, mit einer gewissen Weichmüthigkeit der Stimmung auf die ansprechendste Weise hervortreten.

 

Zu dieser Dichtergattung gehört unter andern Puschkins früh verstorbener Jugendfreund, der Baron Delwig. Ueberhaupt möchte die Lyrik dasjenige Feld der Dichtung sein, welches die Russen bis jetzt mit dem größten Glück angebaut haben. Weniger darf dieß von dem Gebiete der Drammatik gelten, auf welchem nur die Namen eines Gribojedof, der außerdem durch sein tragisches Ende in Europa bekannt worden ist, und eines Gogol, der die Bestechlichkeit und sonstige Verderbniß der niedern Beamten in Russland höchst treffend dargestellt hat, als der Anerkennung würdig zu nennen wären.

 

Von epischen Dichtern wüßten wir keinen von Bedeutung anzuführen. Dagegen haben die dichterische Prosa, der Roman, die Novelle und diesen verwandte Gattungen in Russland bereits ausgezeichnete Vertreter gefunden, wie z. B. Bestuschef. Schade nur, daß die Ueberhandnahme jener eintaglebigen Schriftstellerei, die auch in Teutschland so nachtheilig auf die Fortbildung unserer Literatur wirkt, die nur flüchtige und flache Erzeugnisse des Augenblickes, welche ihr Dasein der Liebe zum Gelde, bequemer Genußsucht und kaufmännischen Interessen verdanken, zu Markte bringt, in Russland gegenwärtig immer mehr um sich greift und die besten Talente dazu führt, ihre Kräfte in Kleinigkeiten zu zersplittern und zu vergeuden. Denn wenn solches literarische Treiben schon in einem Volke, das die vollendetsten Muster seiner Geschmacksbildung und die gründlichsten Werke ächt wissenschaftlichen Geistes besitzt, alle gesunde Bildung zu untergraben und dessen ästhetisches Urtheil völlig zu verkehren vermag, was wird dann unter gleichen Einflüssen in einem Volke zu erwarten sein, das mit den großen Ideen und Gedankenbewegungen, welche die Entstehung der abendländischen Literaturen und deren Fortbildung begründeten, rest seit so kurzer Zeit in Berührung gekommen ist und das die Mehrzahl seiner klassischen Schriftsteller noch in der Zukunft zu suchen hat? Es wäre deßhalb im Interesse der russischen Literatur nur zu wünschen, daß die Art Schriftstellerei,

 

 

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welche die Herren Gretsch, Bulgarin, Polobri und so manche Andere mit dem Glück eines Monopolisten treiben, indem sie dabei reich werden, recht bald in allgemeine Mißachtung gerathen möchte; damit die literarische Bildung der Russen, die einen so viel versprechenden Anfang genommen hat, nicht in der Blüthe erstickt oder verdorben werde. Denn noch bleibt den letzteren besonders auf dem Felde der wissenschaftlichen Literatur Großes und Tüchtiges zu leisten übrig. Zwar darf man, was z. B. die Historie angeht, Karamsin mit den bedeutendsten Geschichtschreibern moderner Völker zusammenstellen. Denn mag es gleich wahr sein, daß Karamsins Geschichte ohne die Vorarbeiten Schlözers, Stritters, Buhles, Krugs und Lehrbergs schwerlich den Reichthum von Quellenstudien zeigen würde, die in ihr niedergelegt sind und daß die Sicherheit ihrer Benutzung ohne fremde Leitung auf keinen Fall erreicht worden wäre, wie sie, wenn schon nicht völlig befriedigend, doch wirklich erreicht worden ist; mag es ferner wahr sein, daß der Verfasser dieses russischen Nationalwerkes einerseits an Mangel einer umsichtigen Kritik, andererseits an Uebertreibungen im Guten und Bösen leidet, wie die Zeichnung Iwan des Grausamen lehren könnte: so bleibt doch so viel gewiß, daß der Geist des ganzen Werkes, die Anordnung der Materien, die geistreiche Behandlung und Darstellung derselben und selbst die freilich nicht immer gelungene lebendige Charakterschilderung nebst der bildsamen, fließenden, geschmackvollen Sprache ausschließliches Eigenthum Karamsins sind und für immer bleiben werden. Wer wollte es ihm zum Vorwurf machen, daß er des Livius Tendenzen vor Augen hatte? Mit diesem Geschichtschreiber haben wir aber auch Alles genannt, was in der historischen Literatur in Russland auf das Prädikat der Klassicität Anspruch machen kann. Wenigstens hat ihn keiner seiner jüngeren Nachfolger erreicht, weder der Vielschreiber Poleboi, der die Keckheit hatte, ohne alle gelehrte und gründliche Bildung nach den Grundsätzen Niebuhrs, die der letztere in seiner römischen Geschichte angewendet hat, die ältere russische Geschichte zu behandeln und der ein sehr bändereiches Werk zusammenschrieb, noch auch Usträlof, der zwar gründlicher ist und dessen Werk genauere Quellenstudien verräth, der aber doch immer nur ein trocknes und gedrängtes Kompendium der russischen Geschichte lieferte, das zwar schon hinsichtlich

 

 

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seines Standpunktes , der als ein panslavistischer bezeichnet werden dürfte, manche Eigenthümlichkeit hat, das aber auch nicht selten einen sehr fühlbaren Mangel an allgemeinen historischen Gesichtspunkten darbietet. Von den früheren Geschichtschreibern hält aber weder das Werk des Tatischtschef, der die älteren russischen Jahrbücher verglich und vereinigte und aus ihnen eine Auswahl traf, noch das des Fürsten Schtscherbatof, der ein bloßer Dilettant und ohne alle gelehrte Bildung war, vor der gesunden historischen Kritik nur einigermaßen Stand, was nicht minder mit Emins Geschichtswerk der Fall ist, welches die Akademie auf ihre Kosten zum Vortheil des Verfassers drucken ließ, der sich jedoch nicht entblödet hatte, nicht vorhandene Quellen zu erfinden. Der schneidende, spitzige, feindselige Ton der Kritik Boltins, welche die Schärfe ihres Schwertes zuerst gegen den Franzosen Leclerque und dann gegen Schtscherbatof richtete, machte eine Spekulation aus einer einseitigen Auffassung der russischen Geschichte. So verdankt es die letztere dem berühmten A. L. Schlözer, daß strenge, methodische und gelehrte Kritik in ihre Behandlung kam. Sind nun auch seitdem in Russland historische Forschungen über dessen ältere Geschichte und die ihnen stammverwandten Völker mit dem rühmlichsten Eifer gepflegt worden, so ist man dort doch noch nicht zur gründlichen Darstellung der allgemeinen Geschichte emporgekommen, wie man aus Schulgins Excerptenzusammenstellung über die Geschichte des Mittelalters leicht lernen kann. Dieser Umstand übt begreiflicher Weise nicht immer den vortheilhaftesten Einfluß auf die Darstellung der nationalen Geschichte aus, und historische Forschung und Kunst sind zwar gegenwärtig in Russland in bedeutender Entwicklung, aber lange noch nicht zu einem erwünschten Grade der Reife gediehen.

 

Wer indessen die geistige Jugend des russischen Volkes bedenkt, wird seine Forderungen weder im Felde der Geschichte, noch auf andern wissenschaftlichen Gebieten sehr hoch stellen wollen. Er wird vielmehr erstaunen, daß jene zahlreichen, großen und kostspieligen Anstalten für Unterricht, Erziehung und Bildung, die in Frankreich, England, Teutschland in dem Laufe eines Jahrtausends durch die Bedürfnisse, die Kräfte und die Anstrengungen der Nationen selbst entstanden sind, in Russland in der kurzen Zeit eines Jahrhundertes lediglich durch den energischen Willen der Regierung

 

 

 

 

 

in's Leben treten konnten; und sich sagen, daß man von dem Baume, der eben erst gepflanzt wurde, heute noch keine reifen Früchte verlangen dürfe. Er wird zugleich der außerordentlichen Thätigkeit, die das gegenwärtige russische Ministerium der Volksaufklärung im Interesse wahrer, wissenschaftlicher Bildung entfaltet, seinen Beifall nicht vorenthalten und auf die besten Erfolge hoffen. Die Ursachen aber von so manchen Mängeln und Gebrechen, welche noch gegenwärtig in den russischen Bildungszuständen anzutreffen sind, werden ihm theils aus dem Umstande erklärlich werden, daß die Regierung lange Zeit zur Pflege geistiger Interessen Alles allein thun mußte, theils auch daraus, daß man bei der Aufnahme europäischer Bildung etwas sehr rasch verfuhr. Denn an keiner andern Stelle wirkt jede Art von Hast so nachtheilig, als in den Angelegenheiten der Erziehung und Bildung. Der beste Wille von oben vermag mit den zweckmäßigsten Mitteln in diesen Dingen nichts, so lange ihm nicht von unten her; aus der Masse des Volkes, empfänglicher Sinn und Trieb entgegen kommen. Aber auch dann -- das Wissen thut es nicht allein, wenn es die höchsten Interessen der Bildung gilt! Wahrhaft geistvolle Worte hat in dieser Beziehung der gegenwärtige Herrscher Russlands gleich nach seiner Thronbesteigung an sein Volk gerichtet, dem er zurief: „Möchten doch die Familienväter ihre ganze Aufmerksamkeit auf die sittliche Bildung ihrer Kinder richten. Denn es ist wahrhaftig nicht den Fortschritten der Bildung, sondern der Eitelkeit, die eine Leere des Geistes hervorbringt und dem Mangel an gründlicher Unterweisung und Zucht zuzuschreiben, daß sich der jugendlichen Gemüther eine solche Frechheit des Denkens, eine solche Ueberspannung der Leidenschaften und so verworrene und verderbliche Halbkenntnisse bemächtigt haben, die nebst dem Hange zu extremen Theorien mit der Entsittlichung beginnen und mit dem Verderben endigen.“ Wie sehr wären-diese Worte auch in Teutschland zu beherzigen, wo die alte, strenge Familienzucht mit jedem Tage mehr in Verfall geräth und der ganze Ernst des Lebens sich sichtlicher in eine glatte, glänzende, flache Außenlebigkeit zu verkehren droht; wo demgemäß Methoden der Erziehung und Bildung in Umlauf kommen, die eigentlich keine sind, durch welche aber der Jugend bunte Kenntnisse und gesellschaftliches Benehmen beigebracht wird, so daß schon in zarter Kindheit die innerste

 

 

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Kraft der Seele durch Verweichlichung und Zersplitterung zu Grunde geht. Für Russland deuten aber diese Worte geradezu auf Uebelstände hin, die die geistige Gesundheit der gebildeteren Stände dort schwer beeinträchtigen. Es muß daher als ein wahres Glück betrachtet werden, daß die gegenwärtige russische Regierung die Anforderungen an Erziehung und Zucht mit den Anforderungen an Unterricht und Unterweisung immer mehr in's Gleichgewicht bringt; daß sie nicht ferner auf gedächtnißmäßiges Scheinwissen den Accent zu legen gestattet; und daß sie überhaupt auf gründlichen Ernst in allen geistigen Sphären des Nationallebens dringt. Denn wenn dieser sich auf die Dauer bewährt, darf man für die Bildungsgeschichte des russischen Volkes das Beste hoffen, und zwar umso mehr da sich, wie der Verfasser aus eigner Erfahrung bezeugen darf, nicht bloß in den höheren Ständen, sondern bis in die niedrigsten Volksklassen herab, ein ungewöhnlicher jugendfrischer Drang und Trieb nach Einsicht und Bildung gegenwärtig in Russland kund gibt.

 

Wenn diese Bemerkungen über einige wichtige an der russischen Civilisation vielfach gerügte Mängel auch nicht die gänzliche Abwesenheit der letzteren beweisen, so zeugen sie doch für die großen und bedeutenden Fortschritte, die im Staat, im Leben, in Bildung in dem nördlichen Kaiserreiche bereits wirklich erzielt worden sind. Dürfte man nun da nicht fragen: Sollte nicht ein jeder, der ein lebendiges, theilnehmendes Gefühl und unbefangenen Sinn zur Beurtheilung bedeutender Erscheinungen in der Geschichte mitbringt, der nicht mit seinem ganzen Sein und Leben engherzigem Volksgefühl verfallen ist, sollte nicht ein solcher seinen freudigsten Beifall aussprechen, wenn er einem Volke begegnet, das Jahrhunderte lang in einem schweren, bangen Traumleben gelegen hat, das aber nun mit einem Rucke seinen Riesenleib aufrichtet, seinen so lange an die Erde gehefteten Blick emporwendet, seine inneren Kräfte zu entfalten beginnt und in Folge dessen an die Pforten der civilisirten Völker klopft und Einlaß begehrt in ihr gemeinsames Versammlungshaus? Sollten wir nicht mit einem noch lebenden teutschen Schriftsteller hoffen dürfen: daß solche Massen und Kräfte, wie die des kolossalen, russischen Reiches, dem Strome der Bildung, des Völkerwohles, des Rechts und der Ordnung zugeführt auch auf die europäische

 

 

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Menschheit einen wohlthätigen Einfluß ausüben werden? Ich glaube doch! Wenigstens wird man sich, allem Gesagten zufolge, nicht für berechtigt halten dürfen, den Russen für ihre ganze, geistige Zukunft nur ein Nachtleben zu weisagen oder ihnen jede Befähigung zur aktiven Theilnahme an der Geschichte der Menschheit von vorn herein abzusprechen. Die Grundlosigkeit solcher Ansichten ist dargethan!

 

Indessen bleiben im Völkerleben der Geschichte politische und materielle Interessen die mächtigsten Triebfedern zu Liebe und Haß, zu Theilnahme und Abneigung jeder Art. Da nun wirklich der Gegendruck eines solchen Riesenstaates, wie Russland schon gegenwärtig ist, für die Nachbarvölker immer Gefahr drohend bleibt; so ist es sehr natürlich, daß durch den nahe liegenden Gedanken an seine mögliche Vergrößerung die Gefühle der letzteren gereizt werden und eine gewisse, feindselige Färbung erhalten. Wie viel mehr in einer Zeit, in welcher die Idee eines slavischen Universalstaates bestimmter als jemals in dem Bewußtsein der Völker aufgegangen und dadurch dem Leben und der Wirklichkeit näher getreten ist! Daher werden auch Betrachtungen, wie die obigen, die von dem Standpunkte geschichtlicher Wahrheit aus gewonnen wurden, wie man denn die Erscheinungen in Geschichte und Natur nur in ihrem Zusammenhange gründlich verstehen kann, keineswegs die Antipathien, welche von den westlichen Völkern mehr gegen die Russen als gegen andere slavische Völker gehegt werden, aufheben oder zerstören können. Aber sie werden dazu dienen, ein reines, unbefangenes Urtheil über russische Staats- und Bildungszustände und über den Charakter des Slaventhums überhaupt zu vermitteln. Und die Wahrheit ist man allen Dingen und Lebenserscheinungen gleicherweise schuldig!

 

Daher fragt sich noch zuletzt, ob den germanischen und romanischen Völkern durch die Idee eines slavischen Universalstaates, wenn nemlich dieselbe auch in der Wirklichkeit festere Wurzel schlüge, so Großes zu befürchten bevorstände?

 

Ich antworte: Wenn es gleich wahr ist, daß Russland durch alle Interessen, welche für politisches Volkswohl in Frage kommen, mit aller Macht nach dem Süden getrieben wird, wohin sich sichtlich mehr und mehr der Schwerpunkt seiner Macht senkt und wo seine Zukunft zu suchen ist; wenn gleich der Lauf seiner mächtigen Ströme, welchen die Völker in ihrer Entwickelung überall nachzugehen pflegen, wenn der

 

 

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Gang seiner Geschichte, der sich schon in den ältesten Zeiten nach dem schwarzen Meere wendete, dasselbe nach dem Süden als derjenigen Himmelsgegend hinrichtet, wo seine politische und merkantile Bedeutung am strengsten gewahrt werden muß; wenn ferner die stets mit großer Vorliebe von der russischen Nation festgehaltenen Handelswege nach Asien hinein einer einsichtsvollen Politik als Marksteine für ihre Laufbahn dienen können und dienen sollen; wenn endlich die russische Staatsmacht, durch politische Ereignisse begünstigt, einmal so vielfältigem Drange nachgeben und ihre Fahnen auf den Palästen des Padischah von Stambul aufpflanzen wollte, dessen Sturz übrigens keine Weisheit europäischer Staatskünstler verhindern wird: so liegt doch, wenn man unter solcher Voraussetzung einen unbefangenen Blick in die Zukunft Europas wirft, klar am Tage, daß im umgekehrten Verhältnisse der Ausdehnung seiner Ländermassen und der Vervielfältigung seiner Völkerschaften die innere Kraft des russischen Reiches sich abschwächen und in dem fortlaufenden Bestreben die weitläuftigen Besitzungen eines kolossalen Staates zusammenzuhalten sich aufzehren würde, ohne doch für immer dem schicksalsvollen Momente auszuweichen, wo ein theilweises oder gänzliches Auseinandergehen seiner Bestandtheile einträte, aus welchen sich dann die durch Wahlverwandtschaft für einander bestimmten Stoffe ausscheiden und zu neuer, naturgemäßen und volksthümlichen Staatenbildungen ansetzen würden. „Denn jeder gewaltsame Erwerb trägt so lange den Keim der Auflösung in sich, bis durch heilsame Naturkräfte oder durch große, äußere Erschütterungen die getrennten Theile wieder zusammenkommen und in eine neue, lebenskräftige Verbindung treten.“ Das werden die Russen eben so gut, wie jeder andere Mensch in Europa wissen. Ueberdieß haben sie noch in den jüngsten Zeiten in hinlängliche Erfahrung gebracht, daß das Hereinziehen eroberter Ländermassen in ihren Staatsverband, deren Bewohner den Gedanken ihrer nationalen Selbstständigkeit noch nicht aufgegeben haben, nur einen doppelten und dreifachen Aufwand von Staatskräften erfordere, für welchen so lange kein Ersatz zu hoffen ist, als noch deren innere, geistige und nationale Verschmelzung zu keinem gedeihlichen Ziele gebracht wird. Freilich arbeitet Russland gegenwärtig mit aller Kraft an dieser inneren Verschmelzung seiner Staatsbestandtheile, welche auch die conditio sine qua non seines dauernden Bestandes

 

 

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sein möchte. Es sucht zu diesem Zwecke das innigste Band, welches Menschen aneinander kettet, die Gemeinsamkeit seiner Sprache unter alle seine vielnamigen Völkerschaften zu verzweigen, deren Landessprachen dadurch von selbst in den Hintergrund treten. Es hält bereits diese Völkerschaften von dem Eismeere und den Küsten der Ostsee bis zu den Ufern des schwarzen Meeres und den Grenzen Asiens durch ein einziges, größes Unterrichts- und Bildungssystem zusammen, das durch eine energische Regierung in möglichst gleichförmiger Thätigkeit erhalten wird, und verschlingt dieselben täglich noch enger unter sich durch die gleichen Formen der Staatsverwaltung, die nach allen Erdgegenden dieses großen Reiches von den gleichen Triebfedern beherrscht und in Bewegung gesetzt werden. Es bestrebt sich endlich auch eine immer größere, kirchliche Einheit zu gewinnen, ohne doch den Ruhm seiner Toleranz aufzuopfern.

 

Was aber auch der Erfolg dieser auf ein einziges Ziel gerichteten Bestrebungen sein wird -- so viel bleibt gewiß, daß das, was die Staatsmänner nach dem Friedensschlusse von Kainardsche in sorgenvolle Bewegung setzte, gegenwärtig nicht mehr als ein unglückschwangeres Evangelium gelten darf, einen solchen Umschwung hat das politische System der europäischen Staaten zumal seit den letzten Kämpfen mit Frankreich erfahren. Wenn irgend in einem Zeitpunkte darf man gegenwärtig die europäischen Staaten den Gliedern eines lebendigen Leibes vergleichen, deren Regung und Bewegung dem Gesammtwillen unterworfen bleibt. Die letzten Vorgänge im Orient haben dieß bewiesen. Und wenn in politischen Dingen menschliche Gefühle und persönliche Denkweisen mehr vermöchten, als die Gewalt der Verhältnisse, von welchen Könige, Staatsmänner und Feldherren fortgezogen werden, während sie den Gang der Ereignisse mit eignen Händen zu leiten glauben, so dürfte man sich, wenigstens zur Beruhigung für die Gegenwart, getrost auf die Gesinnung der jetzigen Herrscher Europas berufen, hinsichtlich deren alle Welt weiß, wie durchaus friedlicher Natur sie ist.

 

Uebrigens sind auch die Russen keineswegs die Römer der modernen Welt, wie ein namhafter, russischer Schriftsteller gesagt hat, obgleich ihre Politik und ihre Kriegsdisciplin mit der römischen eine gewisse Verwandtschaft zeigen und praktischer Verstand das vorherrschende Ziel ihrer Bildung

 

 

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zu sein scheint. Ich wüßte aber außerdem keine einzige andere, frappante Aehnlichkeit aufzufinden; und es ist doch nicht zu glauben, daß jener russische Literat die Haltung seines Vaterlandes mit den Zuständen des Imperatorenreiches hat vergleichen wollen. Indessen sind die Teutschen auch nicht die Griechen unserer Zeit; obgleich das politische Zersprungensein Teutschlands in eine Menge größerer und kleinerer Staaten eine äußerliche Aehnlichkeit mit den öffentlichen Zuständen Griechenlands darbietet, in so fern in beiden einzelne Volksstämme zeitweise die Herrschaft und die Oberleitung angesprochen und behauptet haben. Die Griechen hatten aber keine so große und zusammenhängende Volksgeschichte, wie die Teutschen haben, welche durch viele Jahrhunderte die bedeutendste Macht der Erde trugen! Das Bewußtsein ihrer Einheit, schon in frühester Jugendzeit durchbrochen und zerrissen, wie der Boden, auf dem sie standen, selbst in den ärgsten Gefahren, mit so ungetheilter Vollkraft zu tage, wie bei den Teutschen, welche in den verzweifelten Lagen 5 M0 ader Macht ihrer Nationalität am herrlichsten offenbarten. Überhaupt ermangelten die ersten Staaten Griechenlands ganz jener festen, breiten Natur- und Bildungsbasis, auf welcher die größten, teutschen Mächte, Oesterreich und Preußen, emporgekommen sind, beide ihrem innersten Wesen nach ächt teutsche Staatsbildungen, beide zugleich die natürlichen Schutzwehren für ganz Teutschland. Wenigstens hat die Erfahrung zur Genüge bewiesen, daß, sobald die Kabinette von Wien und Berlin völlig einverstanden sind, sie auch die übrigen teutschen Staaten mit sich fortziehen. Mithin ruht auf dem Einverständniß dieser beiden Mächte die Sicherheit und Freiheit Teutschlands. Und gewiß hat das Schicksal Preußen nicht umsonst in denselben Tagen groß werden lassen, in welchen der nordische Riese aus seinem Traumleben erwachte und sich aufrüttelte? Frankreich und England sprechen es im Jahre 1814 aus: La Prusse sans doute a besoin d'ètre forte contre la Russie. Wenn nun gleich für den letzteren Zweck noch zu wünschen übrig bleibt, daß auch die zu Teutschland gehörenden Küstenländer der Ostsee noch ganz andere Vertheidigungsmittel erhalten möchten, als sie jetzt besitzen; wenn es selbst zu wünschen wäre, daß Teutschland auf den Wogen des baltischen Meeres über eine wohlbemannte Kriegsflotte zu gebieten hätte; so werden wir -- bei der gegenwärtigen

 

 

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Unausführbarkeit solcher patriotischen Wünsche -- uns begnügen müssen, das Bewußtsein unserer Stärke stets gegenwärtig zu haben, die in der Einigkeit aller teutschen Volksstämme und in dem festen Zusammenhalt aller teutschen Staaten besteht. Gewiß, wir werden in Teutschland nichts zu fürchten haben, wie sich auch die Zukunft gestalten möge, wenn wir nur erst jenes nationale Unkraut solito inter accolas odio aus dem heimischen Boden völlig verdrängt haben. Modo idem sentiamus et relimus omnes, in tuto res erit. Dieß möchte der Verfasser namentlich auch in Beziehung auf Frankreich gesagt haben. Schon der alte Geschichtschreiber Reimar Kock sagt: Sollt' uns der Franzose frei machen, dessen ganzes Volk eigen ist und wo keiner sagen kann, der Rock und der Löffel gehört mir, sondern dem Könige und mir zu. Auch unter völlig veränderten Umständen dürfen wir gegenwärtig noch fragen: Sollt' uns der Franzose frei machen, dessen ganzes Volk eigen ist, eigen seinem eingeborenen unersättlichen Durste nach eitelem Kriegsruhm, der kein friedliches Nebeneinander dulden möchte? Wenigstens hat er dafür, daß er uns frei gemacht hat von dem steifleinenen Perückenwesen des heiligen römischen Reiches und zwar durch dieselben Mittel, mit welchen jener jüdische König sein Volk züchtigte, durch Ruthen und Skorpionen, seinen Dank dahin! O Straßburg, du wunderschöne Stadt!

 

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Der Geist ist das Licht der Welt! Darum ist eine ursprüngliche, freie Liebe zum Lichte der Menschengeschlechter ewiges Erbtheil. Denn vom Geiste werden sie geboren. Allein niemals ist in allen Völkern über das Rund der Erde hin diese freie Liebe in gleicher Kraft und Klarheit offenbar geworden. Wo sie aber offenbar geworden ist, hat sie sich allmälig und schrittweise kund gegeben, wie sich die Knospe in ihrem Tagleben langsam und vorsichtig dem Sonnenlichte erschließt! Auch in dem Morgenlande, bei den Griechen und Römern, den romanischen und germanischen Völkern, sind Bildung des Geistes und Humanität mit all ihren heitern Kindern im Gefolge als die Ergebnisse einer sehr mannigfaltigen, günstigen Natur, welche erweckende und anregende Kräfte auf die zu ihr gehörenden Menschenwelt ausübte, und als Früchte eines Kulturganges durch viele Jahrhunderte

 

 

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hin nicht ohne gewaltsame, aber in ihren Wirkungen wohlthätige Erschütterungen gereift. Darum wird kein Billiger gegenwärtig schon das reine Sonnenlicht der Humanität an den Ufern der Newa und Wolga zu schauen begehren. Aber er wird sich freuen, dort lebendigen und vollkräftigen Bildungstrieben zu begegnen, die , wenn sie auch einmal mißgeleitet würden, doch dem Ganzen, der Geschichte des russischen Volkes, nothwendig zu Gute kommen müssen. Warum sollten wir nun nicht hoffen, daß ein Volk, welches, wie das russische, seinen Lebenslauf in aufsteigender Linie eben erst abzuarbeiten begonnen hat, auch einmal zur vollständigen, geistigen Reife gelangen, die ihm blutsverwandten Stämme mit fortziehen und an die Geschichte der Menschheit die Schuld völlig bezahlen werde, die ihm die Macht des Verhängnisses in einem drangsalvollen Jugendleben aufgebürdet hat?

 

 

 

 

Quelle:

Dr. Friedrich Leizmann: Antipathien zwischen teutschen und slavischen Volksstämmen mit besonderer Beziehung auf Russland. Lemgo und Detmold, Meyer'sche Hof-Buchhandlung 1845.

 

 

Das Buch wurde durch die Universitäts- und Landesbibliothek Münster eingescannt und ist unter folgendem Links zugänglich:

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