Heinrich L. Nickel: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

"WISSENSCHAFTLICHE ZEITSCHRIFT DER MARTIN-LUTHER-UNIVERSITÄT HALLE -WITTENBERG
Jahrgang III, 1953/54
Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 1
- Als Manuskript gedruckt -
(Aus dem Kunstgeschichtlichen Institut, Komm. Direktor: Prof. Dr. HEINZ MODE)

Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands *) .

Dr. HEINRICH L. NICKEL
Die mitteldeutsche Bauornamentik in spätromanischer Zeit ist weder als ein provinzieller Ableger außerdeutscher Landschaften und des Rheinlandes zu betrachten, noch ist sie in ihrer Entwicklung nur aus sich selbst zu erklären. Zweifellos liegen die Wurzeln des größten Teiles ihrer Motive außerhalb Niedersachsens. Die Motive werden aber stets in einer für Mitteldeutschland eigentümlichen Weise umgedeutet und weiterentwickelt. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts tritt nun diese Eigenheit der Ornamentik besonders klar in Erscheinung. In der gleichen Zeit erfährt sie auch ihre reichste und qualitätvollste Ausbildung und wird führend in Deutschland.
In der nachfolgenden Arbeit habe ich daher diesem Zeitabschnitt den breitesten Raum zugebilligt. Das Verlegen der Schwerpunktes auf die späteste Romanik war um so berechtigter, als die bisherige Forschung ihr Hauptinteresse der frühen Bauornamentik (Quedlinburg und Königslutter) zuwandte. Auf diesen älteren Forschungen konnte ich meine Untersuchungen aufbauen  1a)

I. ROMANISCHE BAUORNAMENTIK - VORAUSSETZUNGEN UND QUELLEN IHRER ENTSTEHUNG UND IHRE ENTWICKLUNG ZUR SPÄTPHASE IN MITTELDEUTSCHLAND
Die romanische Bauornamentik entsteht erst zu Beginn des 12. Jh. Sie entwickelt sich zu einer Zeit, als der romanische Baustil bereits in seine Spätphase eintritt. Die Motive dieser neuen Bauplastik sind jedoch nicht neue Erfindungen, sondern werden mittelmeerischen und orientalischen Kunstwerken entlehnt. An ihrer endgültigen Entwicklung waren viele Jahrhunderte beteiligt.
Hieraus ergibt sich die Vielgestaltigkeit und Differenziertheit der Ornamentik: sie vereint in sich entwicklungsgeschichtlich eine frühe und eine späte Stilstufe. Primitive und raffiniert berechnete Formen treten oft dicht nebeneinander auf. Bei Untersuchungen über romanische Bauornamentik muß sich die Arbeitsmethode diesen Gegebenheiten anpassen.
Erst in den letzten hundert Jahren vor dem Siegeszug der Gotik entwickelt die romanische Kunst eine ausgeprägte Bauornamentik. 1) Trotz dieser verhältnismäßig kurzen Entwicklungszeit bildet sie sich außergewöhnlich vielfältig und reich aus. Sehr verschieden sind die Quellen, aus denen sie ihre Motive entlehnt, sehr kompliziert und verzweigt die Beziehungen der einzelnen Kunstzentren untereinander; man denke nur an die Lombardei, an Südfrankreich, das Rheinland und Mitteldeutschland, ganz abgesehen von den Beeinflussungen durch orientalische oder irische ornamentale Kunstwerke, Buchmalereien oder Teppichstickereien. In Mitteldeutschland treffen sich nun verschiedenste Strömungen, übertragen durch wandernde Bauhandwerker, Bauschulen oder klösterliche Kongregationen. Allein schon aus diesen Überlegungen ist ersichtlich, daß es kaum möglich sein kann, eine einheitliche Kunstentwicklung in dieser Zeit in Mitteldeutschland darzustellen. Frühere gewissenhafte Arbeiten über romanische Bauornamentik (so z. B. die von Otto GAUL) 2) haben trotzdem versucht, in dieser Methode

*) Die vorliegende Arbeit, zu der mein hochverehrter Lehrer Herr Prof. Dr. W. WORRINGER die Anregung gab, entstand in den Jahren 1950 bis 1952. Mit regem Interesse verfolgten meine Untersuchungen und unterstützten mich mit wertvollen Hinweisen die Herrn Professoren Johannes JAHN und Heinz LADENDORF. Durch einen großzügigen, kurzfristigen Werkvertrag der Deutschen Bauakademie zu Berlin war es mir möglich, die Arbeiten 1952 rasch abzuschließen. Allen möchte ich an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen.
1a) GAUL, Otto: Die romanische Baukunst und Bauornamentik in Sachsen. Diss. Köln 1932; KLUCKHOHN, E.: Die Ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter. Marburger Jahrb. 11/12, 1938/39; WE1GERT, Hans: Das Kapitell in der deutschen Baukunst des Mittelalters. Zeitschr. f. Kunstgesch. V, 1936.
1) Die karolingischen und ottonischen Bauornamente sind in Deutschland entwicklungsgeschichtlich unselbständige Leistungen und auch künstlerisch von geringem Wert. Vgl. hierzu den Abschn.: „Vorromanische Bauornamentik“, und Eva LICHT: Ottonische und frühromanische Kapitelle in Deutschland, Marburger Diss. 1936.
2) GAUL, Otto: Die romanische Baukunst und Bauornamentik in Sachsen. Kölner Diss. 1932.
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zu arbeiten, d. h. eine stilistische Feingliederung der Epoche durchzuführen. Sogar noch für die letzten Jahrzehnte des 12. J h. wurden Stilstufen, die oft nur ein Jahrzehnt betragen, von den Verfassern herausgearbeitet. Trotz sorgfältigster Arbeit konnten diese Veröffentlichungen nicht voll genügen, da sich immer wieder zeigte, daß einzelne eingeordnete Ornamente um Jahrzehnte daneben datiert worden waren, z. B. die von Hamersleben und Kloster-Gröningen. In der folgenden Arbeit soll nun nicht, wie üblich, mit der Methode einer zeitlich fest begrenzten Stilstufen-Einteilung gearbeitet werden, sondern mit der fließenden Analyse einzelner Motive. Anders ausgedrückt: wir werden die wichtigsten ornamentalen Motive in Mitteldeutschland von ihrem Auftreten, wenn nötig auch von ihrer Herkunft ausgehend, bis zum Ende der Romanik hin verfolgen. Wir werden dabei sehen, daß bestimmte Ornamentgruppen sehr eng mit einzelnen Bautraditionen, z. B. Königslutterer Schule, Hirsauer Kongregation, verbunden sind. Wir werden die einzelnen Ornamentmotive sehr gut in Stilreihen unterbringen, und so auch chronologisch ordnen können. Mit Hilfe einzelner Bauwerke, an denen Motive verschiedener Stilreihen nebeneinander am selben Bauabschnitt auftreten, also erwiesenermaßen gleichzeitig sind, wird es möglich sein, die einzelnen Stilreihen miteinander zu koordinieren.
Diese Arbeitsmethode bietet m. E. die einzige Möglichkeit, um in einen so vielgliedrigen, späten Formenapparat, wie ihn die romanische Bauornamentik gerade in Mitteldeutschland darstellt, eine einleuchtende und praktisch verwertbare chronologische Ordnung zu bringen.
Für einen solchen Ornament-Formenkreis (Motivreihe) wurde die Entwicklungslinie über die späte Romanik hin bereits in vorbildlicher Weise verfolgt, und zwar für die Königslutterer Bauornamentik durch Erwin KLUCKHOHN 3)
Die Königslutterer Kapitell-Typen entstehen um die Mitte des 12. Jh., z. T. zurückgehend auf Vorformen in Verona und Ferrara. KLUCKHOHN zeigt sehr schön die Weiterentwicklung und Veränderung der einzelnen Formen in den nachfolgenden Jahrzehnten. Um 1200 jedoch tauchen plötzlich wieder an einzelnen Orten Kapitelle auf, die engste Beziehungen zu Königslutter aufweisen, obwohl sie beinahe ein halbes Jahrhundert zeitlich in der Entstehung getrennt liegen (z. B. die Kapitelle der Doppelkapelle zu Landsberg und des Nordeinganges der Benediktinerinnen-Klosterkirche zu Hecklingen). Man könnte hier beinahe von einer Königslutterer-Renaissance sprechen.
Schon dieses eine Beispiel zeigt deutlich, daß die Formenentwicklung an den Bauten Mitteldeutschlands in der späten Romanik keineswegs einheitlich verläuft. Es scheinen vielmehr jeweils aufeinander Epochen zu folgen, die zu abstrahierenden, geometrisierenden Umbildungen neigen oder die weichere, organischere Formen bevorzugen.
Nur in Deutschland konnte sich die Romanik bis zur letzten Konsequenz entwickeln. Sie wurde auch für die nachfolgende deutsche Architektur wichtiger als die romanische Baukunst in anderen Ländern, denn sie bildet in Deutschland eine Quelle „klassischen“ Formengutes, vergleichbar etwa den antiken Denkmälern für die französische Kunst. Man bedenke nur, welch große Bedeutung den romanischen Einzelformen (Ornamenten und Säulen) für die Entwicklung der nordischen Renaissance zukommt. Bereits in der Malerei des 15. Jh. werden Heiligen-Geschichten und biblische Szenen häufig in romanischen Kirchenräumen dargestellt oder zumindestens in Räumen, die mit romanischen Architektur-Elementen ausgestattet sind. Am deutlichsten wird uns diese bisher zu wenig beachtete romanisierende Tendenz in der frühen Tafelmalerei der Brüder van Eyck. Auch die Baukunst des 16. Jh. ist nicht denkbar ohne das Vorbild der romanischen Architektur. Die struktiven Teile der

3) KLUCKHOHN, Erwin: Die Ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter. Marburger Jahrb. 11/12 1938/39.

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Renaissance-Schlösser - Konsolen, Säulen - lassen häufig noch sehr genau ihre romanische Herkunft erkennen. Das geht zuweilen soweit, daß, wie z. B. am Schloß Althaus zu Leitzkau, romanische Säulenspolien beim Neubau einer Galerie mitverwendet wurden (Abb. 1, 2).

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An der einen der drei verwendeten Säulen scheint das Kapitell stark beschädigt gewesen zu sein, denn es wurde durch ein neues ersetzt. Der Renaissance-Steinmetz bildete dies Kapitell ganz im Sinne des alten nach (Abb. 3).

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Das späte 19. Jh. greift wiederum bereitwillig auf das Formgut der Romanik zurück. Postämter, Verwaltungsgebäude, und Bahnhöfe werden im „romanischen Stil“ errichtet. Wenn der Eifer der Stilerneuerer auch häufig weit über das Ziel hinausschoß, so ist an ihm aber doch zu erkennen, welch starken Eindruck die romanischen Baudenkmäler auf die Künstler dieser Zeit ausgeübt haben, auf Künstler, denen seit BURCKHARDTS Zeiten die italienische Renaissance als klassische Kunst überhaupt eingeprägt worden war.
Die Entwicklung der spätromanischen Architektur Deutschlands verläuft nicht parallel zu der anderer europäischer Länder. Während in Frankreich die stürmisch aufblühende Frühgotik der romanischen Baukunst ein schnelles Ende bereitet, kann sich in Deutschland dieser Baustil kontinuierlich bis zur letzten Reife entwickeln. Die technischen Voraussetzungen des Bauens werden von den Baumeistern im 12. Jh. bereits so gut beherrscht, daß sie an die Verwirklichung komplizierter Raum- und Körpervorstellungen herangehen können. Ein hierfür bezeichnender Gebäudetypus ist die Doppelkapelle, eine Burgkapelle, in der zwei übereinander liegende Räume miteinander durch eine Öffnung im Boden verbunden sind. Dabei ist der eine Kapellenraum zum anderen in einen bewußten Gegensatz gestellt: die Proportionen der struktiven Glieder und des Raumes sind unten gedrückter, die Fensteröffnungen kleiner, so daß auch in optischer Hinsicht ein Absetzen der dunklen Unterkapelle von der hellen Oberkapelle erreicht wird. Selbst der ornamentale Schmuck der Einzelglieder ist unten einfacher und herber denn oben. Bei all ihrer raffiniert reichen Innenausstattung haben die Doppelkapellen zumeist ein sehr karges, turmartiges Äußeres. Offenbar wird hier bewußt mit der Gegensatzwirkung des vielfältigen Innenraumes und des strengen Außenbaues gerechnet.
Auch die architektonischen Detailformen werden in Mitteldeutschland (wie charakteristischerweise beinahe in dem gleichen Gebiet auch wieder in der späten Gotik) bis zu technischen Spitzfindigkeiten und manchmal sogar darüber hinaus bis zur Sinnentleerung weiter entwickelt. In der Neuwerkskirche zu Goslar werden an der Hauptapsis Konsolenfiguren in gebogene Säulchen umgedeutet (Abb. 4).

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In der gleichen Kirche erscheinen die Dienste, ungeachtet ihrer Funktion als tragende Bauglieder, henkelartig ausgebuchtet und mit eingehenkten Steinringen versehen (Abb. 5).

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Sogar die eben aufkommenden Gewölberippen werden in einem Falle bereits rein dekorativ verwendet. Der südliche Querhausarm der Klosterkirche zu Süpplingenburg ist mit einem Kreuzrippengewölbe überdeckt. In der Nähe der Scheitelstelle der Gewölberippen setzen nun, ohne jeden technischen Zweck, im rechten Winkel Rippenstümpfe an: ein bis dahin nicht beachtetes unerhörtes Symptom für die spätstilige Reife der Romanik in Mitteldeutschland! (Abb. 6) 4).

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4) In diesem Zusammenhang sind auch die bekannten spätromanischen Knotensäulen zu sehen, d. s. Säulen, deren Schaft auf halber Höhe zu einem Knoten gewunden scheint. Knotensäulen sind in ganz Deutschland verbreitet. In Mitteldeutschland finden wir sie an der Pfalz zu Gelnhausen, am Dom zu Halberstadt und am romanischen Portal der Neumarktskirche zu Merseburg.
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Im modernen Sprachgebrauch neigt man dazu, unter Bauornamentik nur die Zierglieder und Schmuckformen eines Gebäudes zu verstehen, die das Aussehen des Bauwerks zwar bereichern können, nicht aber wesentlich zur Architektur dazugehören und so ihren Charakter mitbestimmen. Wir betrachten die Ornamentik, insbesondere an modernen Bauten, als mehr oder weniger vermeidliches Beiwerk. Uns ist es kaum noch begreiflich, daß z. B. die Völkerwanderungszeit und das frühe Mittelalter in der Ornamentik ihr künstlerisches Hauptausdrucksmittel sahen und fanden.
Auch in der Romanik wird der Ornamentik - und auch der Bauornamentik - eine außergewöhnliche Bedeutung beigemessen, wie vielleicht niemals vorher und nie wieder nachher in der abendländischen Kunst. Im 12. Jh. wird sie in Deutschland noch gleich hoch bewertet wie die eben entstandene figurale Großplastik. Sehr deutlich wird diese Tatsache an dem Heiligen Grab zu Gernrode. Hier werden die zart und zurückhaltend gebildeten Figuren beinahe von der sicher und bestimmt sich darstellenden Ornamentik übertönt. Die Großplastik dieser Zeit hat noch gegenüber der Mauerwand, in der sie angebracht ist, keine Selbständigkeit gewonnen, ist noch mit ihr verhaftet und so als Bauplastik noch nicht artverschieden gegenüber der Bauornamentik. Erst mit der Entstehung der frühgotischen monumentalen Säulenplastik verselbständigt sich die figurale Plastik als eigene Kunstgattung und setzt sich deutlich von der ornamentalen Bauplastik ab. In vieler Hinsicht wird der Wirkungsbereich, der in späteren Jahren der Großplastik zukommt, im deutschen 12. Jh. noch von der Bauornamentik, insbesondere der Kapitellornamentik, ausgefüllt.
Besondere Reizstellen für die Anbringung des ornamentalen Schmucks bilden die Gelenkstellen der Gebäude: im Innern der Kirchen Kapitelle, Kämpfer, Ansatzzonen des Obergadens und der Apsidenüberwölbungen sowie zuweilen Fensterumrahmungen; am Außenbau die Mauerstreifen zwischen Rundbogenfries und Dach und die Trennlinien zwischen den einzelnen Geschossen der Türme. Die Ornamentik der Kapitelle nimmt in der Vielfalt ihrer Motive und der oft betonten Sorgfalt ihrer Ausführung eine hervorgehobene Stellung in der romanischen Bauplastik ein. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, daß die Säulen als Träger des Kirchengebäudes symbolisch die Apostel darstellen können, auf denen der christliche Glaube (Kirche) aufgebaut ist. Die Kapitelle der Langhaussäulen dienen noch zuweilen als Reliquienbehälter. An den Kapitellen der Stiftskirche zu Frose z. B. sieht man sicher für diesen Zweck bestimmte, nachträglich verdübelte Einschlaglöcher.
Ihrer hervorgehobenen Stellung im Kirchengebäude entsprechend werden wir hinter den Darstellungen auf Kapitellen häufig einen symbolischen Sinngehalt vermuten müssen, gleichnishafte Ausdeutung von Heilswahrheiten.
Eine Eigenheit der spätromanischen Kapitellornamentik verdient besondere Beachtung. An Friesen und Kapitellen vermögen die romanischen Steinmetzen ihrem Einfallsreichtum kaum Einhalt zu gebieten. Die Säulen eines Bauwerks, die ja von Natur aus untereinander gleichwertige Bauelemente sind, werden meistens sehr unterschiedlich verziert. In vielen Räumen des 12. Jh. gleicht nicht ein Säulen-Kapitell dem anderen. Zuweilen findet man, daß in einzelnen Bauwerken je zwei Kapitelle einander ähnlich sehen. Als Beispiele seien hier die Kirchen zu Quedlinburg, Kloster-Gröningen (sehr deutlich) 5), Hamersleben und Hecklingen genannt. Die kongruenten Kapitelle sind jedoch dann nicht (räumlich) aufeinander bezogen und stehen niemals in der Nord- und Südarkade des Langhauses einander gegenüber. Wahrscheinlich achteten die romanischen Baumeister darauf, daß höchstens zwei Kapitelle von den Steinmetzen nach der gleichen Vorlage gehauen wurden.
Diese Neigung der romanischen Kunst zum Reichtum und zur Vielfalt der verwendeten Formen führt häufig zu beinahe raffiniert anmutenden Kompositionen. So sind in der Krypta der Klosterkirche zu Riechenberg jeweils Säulen einander gegenübergestellt, deren Kapitelle mit dem gleichen Motiv verziert sind (Abb. 142-147).

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Unterschiedlich ist jedoch die Anbringung des Schmuckes auf den Kapitellflächen. Zeigt z. B. die Stirnseite eines Kapitells der Nordarkade eine Gesichtsmaske, die von Ranken umgeben ist, so wird die gleiche Maske an dem gegenüberliegenden Kapitell der Südarkade an der Ecke des Kapitellwürfels untergebracht. Durch eine Drehung des Ornamentes um den Würfelkern von 45° erreicht hier der Künstler eine Verwandlung der en-face Maske in eine Eckmaske.
Noch eine andere Merkwürdigkeit romanischer Baukunst ist wert, bedacht zu werden.
Alle Kapitelle einer einheitlich entstandenen Kirche oder eines Klostergebäudes bilden trotz der Verschiedenheit ihrer Motive stets unverkennbar eine Einheit. Es ist, als ob die einzelnen Motive nur die Variationen eines

5) In Kloster-Gröningen sind die Kapitelle im Langhaus wie folgt angeordnet:
Die Kirche weist Stützenwechsel im Rhythmus a - b - b –a auf. Die Nummern bezeichnen die Stellung der Säulen von Osten gerechnet- in der S.- oder N.-arkade.
Adlerkapitell:                    S 1 und S 2
Eckmaskenkapitell:                S 3        N 2
Kapitell mit heraldisch angeordneten Schafen:    S 4        N 4
Sternblattkapitell:                N 3       (N 1)
Die Säule N 1 ist durch einen Pfeiler ersetzt.

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eben für diese Kirche charakteristischen Grundakkordes darstellen würden. Die Einzelbauwerke bilden also eine Einheit, die, in sich geschlossen, sich stark von allen Bauwerken der gleichen Zeit absetzt. So ist es schon dem Weniggeübten nach kurzer Zeit möglich, sehr genau die Ornamentik einzelner romanischer Bauten auseinander zu halten. Kein Bauwerk gleicht in den Details einem anderen. Man gerät in arge Schwierigkeiten, wenn man eine Bauhütte nicht nur nach ornamentalen Einzelmotiven, sondern nach dem Gesamtcharakter der von ihr errichteten Bauten über ein Gebiet wie Mitteldeutschland verfolgen will. Es ist doch unmöglich, daß an Bauwerken, die in sehr naher Zeitfolge im gleichen Gebiet entstanden sind, wie etwa im Nordharz die Klöster zu Ilsenburg, Hamersleben und der Umbau der Michaelskirche in Hildesheim, jeweils verschiedene Bauhandwerkergruppen tätig waren. Die Unterschiedlichkeit der einzelnen Bauten scheint also ein Wesenszug der Romanik in unserem Gebiet zu sein und ist von praktischer Seite her kaum zu erklären. Man bedenke nur, wie grundsätzlich anders die Bauschulengepflogenheiten später in der Gotik sind!

Mitteldeutschland im 12. Jahrhundert
Kunst- und kulturhistorische Ereignisse sind natürlich nur zu verstehen, wenn man sie im Zusammenhang sieht mit den gleichzeitigen politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Wie vorher schon einmal in der Zeit der sächsischen Könige gewinnt Mitteldeutschland und insbesondere das Harzland im 12. Jh. wieder große Bedeutung. Lothar von Supplinburg bestimmt das Stift Königslutter zu seiner Begräbniskirche. Der Machtbereich seiner Grafen und Herzöge erweitert sich zu gleicher Zeit weit nach dem Osten: so kamen die Grafen von Schauenburg nach Holstein, wo sie 1143 Lübeck gründeten, Konrad von Wettin wurde Markgraf von Meißen und der Lausitz seit (1136), der Askanier Albrecht der Bär, Graf von Ballenstedt, erhielt als Markgraf die Nordmark (jetzige Altmark - seit 1134), 1150 übernahm er dann auch Brandenburg. Die Städte nördlich und östlich des Harzes wuchsen schnell und vermehrten ihren Reichtum durch einen ausgedehnten Ost-West-Handel. Geistliche und Mönche der vielen neu gegründeten Klöster verbreiteten das Christentum unter der zurückgebliebenen slavischen Bevölkerung. Das Gebiet westlich der Elbe war nun nicht mehr umkämpftes Grenzland. So konnten im Schutze der Städte, Klöster oder Burgen viele Dörfer entstehen. Beinahe die Hälfte aller Dörfer im ehemaligen Sachsen-Anhalt besitzt noch jetzt eine romanische Kirche, die bis heute den räumlichen Bedürfnissen der Gemeinde genügt.
Die Kreuzzüge ermöglichten im 12. Jh. erstmals im Mittelalter einen unmittelbaren Austausch an Handelswaren und Kulturgütern zwischen dem Orient und dem Abendland. Es bahnte sich ein reger Handelsverkehr an, der vornehmlich durch die oberitalienischen Seestädte gefördert wurde. In Venedig, Genua und Pisa begannen zahlreiche Handelswege, die über die Alpen nach Norden führten, und auf denen die begehrten orientalischen Güter befördert wurden. Eine der wichtigsten Handelsstraßen führte von Venedig über Verona, den Brenner, Innsbruck, Augsburg, Regensburg, Nürnberg nach Thüringen und den Slavenländern. Auf diesem Wege mögen auch die Steinmetzen mit ihrem Vorlagen-Material von Italien nach Mitteldeutschland gelangt sein.
Erst durch die Kreuzzüge im 12. Jh. erhielt das Rittertum als gesonderter Stand seinen internationalen Charakter.
Allgemein verbindliche Sitten und Gebräuche werden hauptsächlich aus der Provence übernommen. Das Rittertum baut seine Burgen nicht mehr inmitten der Ansiedlungen seiner Untergebenen, sondern auf schwer zugänglichen Plätzen, steilen Felsen oder als Wasserburgen. Turniere und Kampfspiele werden beliebt, dagegen ist körperliche Arbeit verpönt.
Zur gleichen Zeit, im 12. Jh., als durch eine gemeinsame Aufgabe - die Kreuzzüge - die europäischen Staaten enger miteinander verbunden werden, können wir am ehesten im Mittelalter in der Baukunst Deutschlands landschaftliche Unterschiede erkennen. Neben Süddeutschland, dem Rheinland, Elsaß-Lothringen und Westfalen bildet auch Mitteldeutschland (Niedersachsen) einen immer deutlicher sich herausschälenden geschlossenen Kulturkreis. Den Beweis für die Behauptung kann die Königslutterer Bauschule erbringen. Die Ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter hat in der zweiten Hälfte des 12. Jh. auf die mitteldeutsche Baukunst eine außergewöhnlich starke Wirkung ausgeübt. Sehr klar lassen sich die Grenzen dieses Wirkungsbereiches abstecken. Sie decken sich vollkommen mit dem Gebiet, das wir auch in der nachfolgenden Arbeit als Mitteldeutschland bezeichnen. Begrenzt wird es nach Westen hin durch die Ausläufer des Harzes, etwa in der Linie Göttingen - Braunschweig, im Süden durch Thüringen (einschließlich). Nach Norden und Osten hin sind die Grenzen fließend, werden jedoch etwa durch die Orte Jerichow und Wechselburg bezeichnet.

Vorromanische Bauornamentik
Um die Voraussetzungen beurteilen zu können, auf die sich die spätromanische Bauornamentik im 12. Jh. stützt, ist es notwendig, die Grundzüge der Ornamententwicklung (hauptsächlich der Kapitellentwicklung) karolingischer und ottonischer Bauten zu betrachten.

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In karolingischer Zeit werden die ersten Kirchen auf deutschem Gebiet im Steinbau errichtet. Mit der Technik der Steinsetzung übernehmen zugleich die nordischen Bauhandwerker die Elemente der römischen Baukunst. So wird auch die in Italien am meisten verbreitete Säulenordnung, die korinthische, vom Norden übernommen. Zumeist werden römische Kapitelle entweder genauestens kopiert oder es werden Spolien aus Italien eingeführt und in einheimischen Bauten wieder verwendet. Das bekannteste Beispiel hierfür ist das Aachener Münster Karls d. Großen. Karl hat die Säulen und die Kapitelle hierfür selbst aus Ravenna mitgebracht. Auch die Wandkapitelle, die durch die Gesteinsart, aus der sie hergestellt sind, ihren deutschen Ursprung beweisen, halten sich sehr eng an die antiken Vorbilder, sind kaum von ihnen zu unterscheiden. Karl d. Große übernimmt also ganz bewußt das Formengut der antiken Kunst, so wie er ja auch in der Staatsform eine Nachfolge des römischen Imperiums anstrebt.
Wir müssen uns hier mit der eigenartigen Tatsache abfinden, daß am Anfang der selbständigen nordischen Kirchenbaukunst das Formengut eines raffinierten Spätstils aufgenommen wird. Selbstverständlich ist es den Künstlern dieser Zeit nicht möglich, diese Formen selbständig zu verarbeiten, sondern sie müssen sich mit einer eklektischen Nachahmung begnügen. Es besteht nun eine offensichtliche Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Primitivität der eben entstehenden Baukunst und dem nicht mehr entwicklungsfähigen spätantiken Formengut. Schon sehr bald geht der Norden jedoch eigene Wege. Die antikisierenden Formen, insbesondere das korinthische Kapitell, bilden trotzdem die Grundlagen für die ganze nachfolgende Entwicklung. Auch die karolingischen Kapitelle des Westwerks der Abteikirche zu Corvey gehören noch dem korinthischen Typus an. 6) Eigenartigerweise finden wir hier neben fertig ausgeführten Kapitellen auch solche, die bis heute noch in ihrer Bossenform erhalten sind. Man ist sich in der Forschung noch nicht einig darüber, ob diese Kapitelle nur zufällig unfertig geblieben sind oder aber absichtlich nur bossiert belassen wurden. Diese Frage läßt sich natürlich heute kaum noch entscheiden. Eins jedoch können wir feststellen: die Bossen-Kapitelle stehen an gleich wichtiger Stelle neben den fertig ausgeführten korinthischen Kapitellen. Offenbar haben also diese strengeren Formen, die schon an das Zungenblatt-Kapitell denken lassen, die Erbauer des Westwerks nicht gestört. Die Bossenform eines Kapitells vermochte also den Betrachter genau so zu befriedigen (vielleicht sogar mehr) wie das fertig ausgeführte Kapitell. Von hier aus können wir eine fortschreitende Archaisierung des korinthischen Kapitells verfolgen. Die Kapitelle der Justinuskirche zu Höchst (826-847 ) zeigen bereits das korinthische Kapitell in ganz strenger vereinfachter Form. In drei Reihen sind Zungenblätter übereinander angebracht, die mit ihren Spitzen überlappen. An das einstige Akanthusblatt erinnert nur noch die Mittelrippe. Noch einfacher sind die Kegelstumpf-Kapitelle der St.-Georg-Kirche in Oberzell auf der Reichenau. Hier werden nur noch die Seiten mit Palmetten geschmückt.
Ähnliche Formen finden wir auch an den Emporenarkaden der Stiftskirche zu Gernrode (Abb. 7).

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Kapitell und Kämpfer sind hier in eins verschmolzen. Sehr eigenartig sind auch die alten Kapitelle der Heinrichs-Kirche in Quedlinburg (jetzt Krypta). Zwei Wulstringe sind übereinander gefügt, getrennt durch eine Kehle. Dies sonderbare Aussehen hat zu ihrer Bezeichnung als Pilzkapitelle geführt.
Aus diesen vielfältigen Kapitellformen der ottonischen Zeit, die alle von naturnaher Ornamentik weg zur stereometrischen Einfachheit streben, tritt um die Jahrtausendwende eine Kapitellbildung hervor, die in ganz kurzer Zeit sämtliche anderen verdrängen sollte : das Würfelkapitell (Abb. 8).

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Dieser plötzliche Sieg einer einzelnen, an sich so einfachen Form ist nur damit zu erklären, daß das Würfelkapitell in vorbildlicher Weise den Forderungen der romanischen Kunst entgegenkommt. Es allein vermag mit mathematischer Genauigkeit das Rund des Säulenschaftes in das Quadrat des Kämpfers überzuführen. Im Würfelkapitell hat das Mittelalter sein archaisches Kapitell geschaffen. Wie der Raum, in dem es steht, die romanische Basilika, ist es vollendeter Ausdruck eines Seinstiles. Die Last der Mauer wird in ihm aufgefangen und in den Schaft übergeführt. Sauber liegen die Seiten des Kapitells am Raume. Keine Durchdringungen treten auf.
Der Würfel und das Quadrat sind die Grundelemente romanischer Baukunst. Das Würfelkapitell vermag in seiner Form das ganze 11. Jh. hindurch zu beharren und allein in Deutschland zu herrschen. Auch das ist ein Kennzeichen der

6) Abbildungen zu diesem und den folgenden Beispielen bei: H. WEIGERT, Das Kapitell in der deutschen Baukunst des Mittelalters. Zeitschr. f. Kunstgesch. V, 1936.

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Archaik, daß sie eine allgemein verbindliche Form sucht und nicht individualistische Unterschiedlichkeit anstrebt. Im späten 11. Jh. beginnt die Umwandlung des Würfelkapitells. Der entwickelteren Baukunst genügt die Einfachheit seiner Aussage nicht mehr. Zierformen und Ornamente werden zunächst jedoch nur sehr schüchtern an die Außenflächen des Kapitellwürfels angefügt. In Mitteldeutschland zeigt zuerst die Stiftskirche zu Quedlinburg (1071 bis 1129) eine reiche Weiterentwicklung des Würfelkapitells. Verantwortlich zu machen sind hierfür bereits Anregungen aus der Lombardei. Das zeigen deutlich die Kapitelle der Unterkirche. Vollkommen neue Kapitelltypen treten aber erst mit den Kapitellen des Kreuzganges in Königslutter in die mitteldeutsche Baukunst ein. Diese beiden Bauwerke, Quedlinburg und Königslutter, bilden die Voraussetzung für die ganze nachfolgende Bauornamentik Mitteldeutschlands bis zum Beginn der Gotik. Gemäß ihrer Wichtigkeit für unsere Arbeit werden wir sie einer besonderen Betrachtung unterziehen. Der grundsätzliche Unterschied zwischen den Kapitellen des 11. und 12. Jh.besteht wohl darin, daß das hochromanische 11. Jh. zur Einheitlichkeit der Formen strebte (Würfelkapitell), während das 12. Jh. im Gegensatz hierzu zur Vielfalt neigte. Einer der wichtigsten Gründe für diesen Wandel in der Baugesinnung war wohl das Übergehen des Baubetriebes in die Hände von Bauhütten. Im 11. Jh. oblag die Ausführung der kirchlichen und klösterlichen Bauten noch fast ausschließlich den Klerikern. Es ist daher m. E. leicht einzusehen, daß die Ottonik den Hauptwert auf die Planung der Architektur legte und nicht auf ihre handwerkliche Ausstattung mit Schmuckformen. Die Architektur ist wohl die abstrakteste und intellektuellste der Kunstgattungen überhaupt. Reine Architektur, geometrisch konstruierbare, wurde offensichtlich von den gebildeten Mönchen bevorzugt. Als nun im 12. Jh. das Laienelement (Berufshandwerker) immer führender in der kirchlichen Baukunst wurde, nahm auch die ornamentale Ausstattung der Bauten ständig zu. Die wandernden Bauhandwerker verbreiteten nun die einmal eingeführten Schmuckmotive über weite Gebiete.

Quedlinburg
Die Ornamentik der Stiftskirche zu Quedlinburg weist eine außergewöhnliche Anzahl verschiedener Motive auf: Tier- und Pflanzenornamente werden gleichwertig nebeneinander verwendet und ineinander verwoben.
Die Kapitelle der Unterkirche sind gegenüber der Ornamentik der übrigen Teile des Bauwerks um vieles bewegter und lebendiger. Bossen-Grundform ist, bis auf eine Ausnahme, nicht das Würfelkapitell. Trotz der Vielfalt der Motive (in der Unterkirche) lassen sich einige Gruppen gut zusammenfassen.
Korinthisierende Kapitelle treten in verschiedenen Ausführungen auf : einmal als reine Bossen-Kapitelle mit Löffelblättern, die in

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drei Reihen übereinander angeordnet sind (Abbildung 9, sehr ähnlich den Rückbildungen des Korinthischen Kapitells in ottonischer Zeit, z. B. Höchst!).

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Zum anderen weist ein Bossen-Kapitell sehr fein detaillierte Helices auf (Abbildung 10),

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wogegen ein Wandkapitell der Nordseite in seiner vollständig durchgegliederten Ausführung beinahe italienisch-antikisch anmutet (Abb. 11).

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Eine zweite Gruppe bilden die Volutenkapitelle, bei denen die kraftvollen Eckvoluten in Verbindung mit Palmettenranken oder Trauben gebracht sind (Abb. 12, 13).

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Die dritte Gruppe läßt sich nicht mehr so eindeutig zusammenfassen. Es gehören hierzu Kapitelle, die mit Ranken verziert sind, welche an den Enden in dreiblättrige Palmetten auslaufen, teils vegetabilisch frei verschlungen (Abb. 15),

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teils kreuzförmig auf den Schildflächen eines Würfelkapitells angebracht (Abbildung 14).

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Nur zwei Kapitelle tragen figürlichen Schmuck. Die Ecken des Wandkapitells an der Südwand sind mit Adlern besetzt (Abb. 16).

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Der Kämpfer ist in zwei Zonen aufgeteilt und mit Flechtbändern bzw. Weinranken geschmückt. Die lockere Ausbildung der Adler an diesem Kapitell ist für die Zeit um 1100 in Deutschland sehr verwunderlich. Tatsächlich weist auch dieses Kapitell eine enge Ähnlichkeit zu einem Adlerkapitell in der Kirche St. Ambrogio in Mailand auf.
Das zweite Kapitell (gleichfalls mit doppelt aufgeteiltem Kämpfer) ist mit Eckmasken versehen, aus deren Mäulern Schlangen sich herauswinden, die wiederum die Masken in die Ohren beißen (Abb. 17).

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Ein letztes Kapitell (Abb. 172) scheint alle besprochenen Formengruppen in sich zu vereinigen: aus dem Schaftring wächst ein Kranz von Löffelblättern hervor.

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Diesem entspringen große Eckvoluten, die miteinander durch Flechtranken verbunden sind. Besondere Beachtung verdient die Ornamentik des Kämpfers dieses Kapitells. Das obere der beiden unterteilten Felder des Kämpfers ist in Quadrate aufgeteilt, die mit Blattsternen angefüllt sind: ein wichtiges Motiv, das wir in den Klosterkirchen zu Kloster-Gröningen und Hamersleben wieder antreffen werden.
Allen Kapitellen ist eine besondere Technik der Steinbehandlung eigen: die Ornamente sind nicht, wie es üblich ist, mit geraden Schlägen in den Steinkern eingehauen, sondern kerbschnittartig vertieft, also in einer Art behandelt, wie man es an Holzblöcken erwarten würde. Schon ZELLER schließt hieraus, daß wohl für die Arbeiten an den ornamentierten Baugliedern einheimische Handwerker, die an die Bearbeitung von Holzwerkstücken gewöhnt waren, mit eingesetzt worden sind.  7)
Die Ornamentik der Oberkirche ist gegenüber der soeben betrachteten bedeutend strenger in ihrem formalen Aufbau. Als Kernform der Kapitelle ist durchweg der Kapitellwürfel beibehalten worden. Als Motive treten neben

7) A. ZELLER: Kirchenbauten Heinrichs I. und der Ottonen in Quedlinburg . . . .Berlin 1916.

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33 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

stilisierten Akanthusblattern Wellenranken und Flechtbander auf (Abb. 18, 19, 20).

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Auch figürlicher Schmuck wird in verschiedenster Weise verwendet. Eckmasken, verschiedene Tiere und phantastische Fabelwesen erscheinen an den Kapitellen und hauptsächlich an den Friesen, die ein wahres Sammelsurium dieser Phantasiegestalten beherbergen (Abb. 134).

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Vereinzelt erscheinen auch schon Menschendarstellungen. Für die Ausstattung der Kapitellecken sind jedoch besonders Adler beliebt (Abb. 22).

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Die Herkunft der Motive konnte in den meisten Fällen bis dahin noch nicht überzeugend nachgewiesen werden. Lediglich das Adlerkapitell der Krypta läßt sich, wie schon oben erwähnt wurde, von einem Kapitell in der Kirche S. Ambrogio in Mailand herleiten. Auch die Ornamentik der Nebenapsiden-Rahmungen im Inneren der Stiftskirche wird in Zusammenhang mit der Lombardei gebracht, und zwar mit der Kirche S. Abbondio in der Nähe von Como. ZELLER, der dieser Frage in seinem Buch über die Kirchenbauten Heinrichs I. und der Ottonen in Quedlinburg. . . nachging und auch entsprechende Fotos zusammenstellte, kam zu dem Schluß, daß wohl ein Zusammenhang bestehe, nicht jedoch beide Werke von den gleichen Steinmetzen ausgeführt worden wären  8).
Er nimmt an, daß die Motivübertragung entweder durch einen reisenden Kleriker oder von einem Baumeister, der selbst nicht „an der Ausführung der skulpierten Teile der Kirche mitgewirkt hatte, stattgefunden habe. Bedenklich stimmt jedoch (was ZELLER nicht besonders bemerkt), daß das Kreisornament eines Maskenkapitells im Langhaus vollkommen dem Ornament einer Fensterrahmung (Südseite) in Como entspricht (Abb. 18)  9).

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Eine so genaue Ubereinstimmung ist bei einem nur mittelbaren Zusammenhang beider Bauten nicht zu erklären. Dieses lombardische (oder besser langobardische) Motiv des Flechtkreises wurde an dem Kapitell des Langhauses in sehr sicherer Bildung dem neuen Verwendungszweck entsprechend dargestellt. Die Ornamentik der Oberkirche zeigt durchweg eine sehr selbständige Art der Motivverwendung, in dem alle Formen einheitlich stilisiert werden. Die allzu glatte Oberfläche der Kapitelle rührt von neuzeitlichen Überarbeitungen her.
Es ist in diesem Zusammenhang interessant zu untersuchen, ob die Kapitelle der Oberkirche oder der Unterkirche früher entstanden sind. Die Unterkirche wurde ja bekanntlich in der Bauzeit 1070-1129 auch einem Umbau unterzogen, so daß von der Baugeschichte her die chronologische Reihenfolge der Entstehung nicht festliegt. MEIER nimmt an, daß die Krypta bei den Neubauten „selbstverständlich“ zuerst umgestaltet wurde   10). ZELLER meint, daß offensichtlich in der Unterkirche und der Oberkirche verschiedene Bauhandwerker tätig waren, da die Ornamentik der Oberkirche von viel geringerer Qualität sei  7). WEIGERT schließt auf Grund der Überlegung, daß die Ornamentik der Unterkirche nicht mehr die Starrheit der Formen des Oberbaues aufweist, sich also angeblich weiter entwickelt hat, daß diese „zu Ende der Bauperiode 1070-1129 entstanden sei“  11).
An den Kapitellen der Quedlinburger Stiftskirche läßt sich sehr wohl eine Entwicklung nachweisen, doch verläuft sie genau in umgekehrter Richtung, wie es WEIGERT meinte  12). Sehr gut läßt sich die Stilentwicklung an den Adlerkapitellen nachprüfen, die sowohl in der Unterkirche als auch in der Oberkirche auftreten. Die Adler des Wandkapitells in der Unterkirche weisen entsprechend ihrer entwicklungsgeschichtlichen Herkunft naturnahe Formen auf (Abbildung 16).

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Die Federn am Körper sind einzeln gut durchgebildet. Das Gefieder der Flügel folgt dem natürlichen Wuchs. Die Adlerkapitelle der Oberkirche stehen in deutlicher Abhängigkeit (Abb. 22).

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Hier sind jedoch die Körper in einzelne Ornamentflächen aufgelöst. So bildet der Kopf eine Eckmaske mit Schnabel und kreisrund eingetieften Augen. Die Körper sind rautenförmig aufgeteilt, wahrend die Flügel aus pflastersteinartig angeordneten Knöpfen zu bestehen scheinen.
Zwischen dem Kapitell der Unterkirche und denen der Langhausarkaden vermittelt ein Kapitell an der Westwand der Oberkirche (Abb. 21).

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Die Stilisierung ist hier noch nicht ganz soweit vorangetrieben. Die Umbildung der gelockerten lebendigen Ornamentformen der Unterkirche zu den fest in sich geschlossenen steinhaften Bildungen der Oberkirche entspricht dem Prozeß der Verdeutschung.
Die niedersächsische Kunst des 12. Jh. bejaht noch den Stein als solchen, sieht in ihm in erster Linie den kristallinen Baustoff. Ein freies Ornament durfte ihn zwar überspinnen, nicht aber auflösen und illusionistisch umdeuten, wie es verschiedentlich in der Unterkirche bereits geschieht. Wie fremd die reiche Ornamentik der Quedlinburger Unterkirche der Zeit eigentlich war, zeigt sich daran, daß sie von keinem nachfolgenden Bauwerk übernommen wurde. Sie bleibt fremdes Importgut.
Ein anderes Problem knüpft sich an diese Feststellungen. Auch an vielen anderen Klosteranlagen des 12. Jh. können wir erkennen, daß die Ornamentik des Langhauses, also des repräsentativsten Raumes der Klosteranlage, strenger in der Ausführung gehalten ist, als die der Nebenraume: Kreuzgang, Kapitelsaal und

8) a. a. O. S. 40 u. Tafel 17.
9) a. a. O. Tafel 17, Abb. 3.
10) MEIER: Quedlinburg (Deutsche Bauten) S. 13.
11) H. WEIGERT: Das Kapitell. . . S. 23.
12) Hierauf weist schon Beenken hin: BEENKEN, H.: Der Skulpturenschmuck des Heiligen Grabes in der Stiftskirche zu Gernrode, Jhb. der preuß. Kunstsammlungen, Bd. 44, Berlin 1923.

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34 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

Refektorium. Nur einige der vielen Beispiele seien genannt: der Kreuzgang zu Königslutter im Gegensatz zu der einfachen Pfeilerkirche, Refektorium und Kapitelsaal des Klosters Ilsenburg mit ihren reich geschmückten Säulen im Gegensatz zu den Würfelkapitellen der Langhausarkaden in der Kirche. Verzierte Säulenschäfte sind in romanischer Zeit verhältnismäßig häufig, bei den Säulen der Langhausarkaden im Innern der Kirchen treten sie in Deutschland jedoch niemals auf. Was mögen die Beweggründe für diese eigenartige Baugewohnheit sein? Sollte das Kircheninnere nicht durch allzu lebendige Ornamente entweiht werden, oder ließ man den Steinmetzen in den Nebenräumen mehr Spielraum für ihre eigenen Entwürfe und Ideen als im Kircheninneren?


Kloster-Gröningen
Nur eines der uns erhaltenen romanischen Bauwerke des Harzgebietes weist engste Beziehungen zu Quedlinburg auf: die Benediktinerklosterkirche zu Kloster-Gröningen. WEIGERT sieht in der Ornamentik dieser Kirche (wohl in Anlehnung an die Untersuchungen von GAUL) die unmittelbare Vorstufe der Quedlinburger Kapitellornamentik. Es ist daher für uns wichtig, dieses Bauwerk im Zusammenhang mit der Stiftskirche von Quedlinburg zu betrachten.
Schon aus rein prinzipiellen Erwägungen erscheint es mir unmöglich, daß die kraftvolle und qualitätvolle Kapitellornamentik des Quedlinburger Langhauses auf diese sehr provinziellen Bildungen zurückzuführen sei. Primitivität ist nicht ohne weiteres ein Zeichen früher Entstehung; und hier handelt es sich ohne Frage um sehr primitive, ja zurückgebildete Ornamente. In Quedlinburg sind die einzelnen figuralen Motive immer noch logisch den animalischen oder vegetabilen Körperteilen entsprechend gegliedert. In Kloster-Gröningen dagegen werden die Motive z. T. vollkommen unverstanden umgebildet. Das eine Maskenkapitell in Kloster-Gröningen (Abb. 23),

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das vergleichbar ist dem Maskenkapitell der Quedlinburger Unterkirche (Abb. 17),

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zeigt zwischen den Eckmasken eigenartige Mischwesen, die wohl aus einer Schlange und einem Drachen zusammengesetzt wurden. Die oberen Körperpartien der beiden Schlangen sind in Punkte aufgelöst und gehen ineinander über. Niemals könnte sich daraus ein so sicher gebildetes Kapitell wie das Maskenkapitell in der Quedlinburger Oberkirche entwickelt haben (Abb. 20).

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In der Ornamentik der Kirche zu Kloster-Gröningen haben wir somit eine Primitivisierung der Quedlinburger Formenwelt zu sehen. Besonders deutlich wird das, wenn wir betrachten, zu welch einfachen, verwaschenen Motiven in den Turmarkaden der Gröninger Kirche das Volutenkapitell der Quedlinburger Krypta umgebildet wurde. Den achteckigen Säulenschaft hat der Steinmetz entsprechend Quedlinburg noch beibehalten (Abb. 28, 29).

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Drei Ornamentmotive spielen in Kloster-Gröningen eine besondere Rolle, die nicht auf den ersten Blick ihre Herkunft aus Quedlinburg

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35 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

verraten. Da ist zunächst das oft ganze Kapitellflächen bedeckende Sternblatt (Abb.24),

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daneben die an Kämpfern auftretende Palmettereihe (Abb. 24) (die Palmetten sind jeweils mit ihren Stengeln miteinander verbunden) und das für Kloster-Gröningen besonders charakteristische dreispurige Knotenband, das als Fries über den Arkaden auftritt, aber auch Kämpfer schmückt (Abb. 23, 26).

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Das Sternblatt finden wir bereits an einem Kapitell der Quedlinburger Unterkirche sowie an den Chorpfeilern der Ulrichskirche in Sangerhausen und der Quedlinburger Oberkirche. Es stammt entwicklungsgeschichtlich vom Rosettenornament her, das sich häufig an spätantiken und mittelalterlichen Kleingeräten findet. Die Tatsache, daß Sternblattbänder haufig als Verzierungen an den Gewändern geistlicher Würdenträger vorkommen, z. B. an Mitra und Stola der Bischöfe auf den Bronzegrabplatten in Magdeburg, legt die Vermutung nahe, daß das Motiv durch Stoffmuster in die Schmiedekunst und die monumentale Ornamentik übernommen wurde. Auch im Quedlinburger Domschatz ist ein Reliqienschrein Otto I. erhalten (10. Jh.), an dem unter Apostelfiguren eine Zierleiste angebracht ist, die aus ganz ähnlichen Blattrosetten besteht  13). Dieses Motiv dürfte in der Volkskunst dieser Zeit stark verbreitet gewesen sein. Wir können wohl ohne weiteres annehmen, daß so provinzielle und kleine Kirchenbauten wie Kloster-Gröningen viel engere Beziehungen zur Volkskunst der Zeit aufweisen, als die großen repräsentativen Kirchenbauten.
Den Ornamentstreifen, der aus den mit Stengeln zusammengebundenen Palmetten gebildet wird, finden wir in sehr ähnlicher Ausbildung im Fries an der nördlichen Seitenschiffsaußenwand der Quedlinburger Kirche wieder (Abb. 134).

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Auch die Drachen mit ihren pflastersteinartig gemusterten Körpern dürften von diesem Fries entnommen sein.
Das dritte Motiv, die in zwei Reihen übereinander gelegten Knotenbänder, findet sich nicht in Quedlinburg vorgebildet. Es dürfte gleichfalls den Ziergewohnheiten der Holzschnitzkunst dieser Zeit entstammen. Interessanterweise findet sich genau das gleiche Motiv an einem langobardischen Schwert aus Nocera Umbra (Abb. 30).

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Dieses Motiv weist also in der germanischen Kunst eine Tradition auf, die bis in die Völkerwanderungszeit zurückgeht. In der Völkerwanderungszeit wurde gleichfalls von der germanischen Kunst, zurückgehend auf skythische Vorbilder, die Kerbschnittornamentik entwickelt, die ja gerade zu der Bauornamentik der Quedlinburger Stufe eine eigenartige Wesensverwandtschaft aufweist (Abb. 31).

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Die Kapitellornamentik der Stiftskirche zu Königslutter und ihre Auswirkung auf die nachfolgende Baukunst Mitteldeutschlands
In den letzten Jahrzehnten wurde uns im zunehmenden Maße deutlich, hauptsächlich auf Grund der ausführlichen Untersuchungen von Erwin KLUCKHOHN, wie wichtig die Ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter, genauer gesagt: die des Kreuzganges und des Außenchores der Kirche, für die Bauplastik der Nachfolgezeit ist.
Im Chor der Kirche und im Kreuzgang können wir drei Hauptkapitelltypen unterscheiden:
1. das korinthisierende Kapitell (Abb. 32, 33),

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tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-33-Koenigslutter-Stiftskirche-Chor-H-Nickel-1953.jpg


2. das Palmettenfächerkapitell. (Abb. 35),

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3. das Palmettenwürfelkapitell (Abb. 34).

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Die ersten beiden Kapitelltypen können klar von italienischen Vorformen abgeleitet werden, während der dritte Typ auf einer Umbildung bereits in Deutschland eingeführter Ornamentformen beruht. KLUCKHOHN weist nach, daß die beiden italienisierenden Kapitellformen unmittelbar von der Kapitellornamentik der Dome zu Ferrara und Verona abhängig sind, die ihrerseits wieder auf Vorformen in Modena zurückgehen.
Die Kapitelle in Königslutter dürften bald nach der Mitte des 12. Jh. entstanden sein. Das entscheidend Neue gegenüber den bis dahin in Niedersachsen gebräuchlichen Kapitelltypen ist die Umdeutung des Kapitellblocks in eine vegetabile Form. Der Kapitellblock wird hier nicht mehr als Grundform gebraucht, auf die ein Ornament aufgelegt wird (wie wir es beispielsweise von Quedlinburg her kennen), sondern verschwindet vollkommen unter den sehr lebendig (aber noch nicht naturalistisch) gebildeten Blättern. Hauptsächlich beim Palmettenfächerkapitell schließen sich breite Blätter mit ihren Säumen zusammen, um den eingeschlossenen Steinkern vollkommen zu überdecken. Bohrlöcher an den Verbindungsstellen sollen die Illusion erwecken, es handle sich hierbei um eine Hohlform.
Die Königslutterer Bauornamentik beginnt erst in der Zeit um 1170 auf die umliegenden Bauten einzuwirken. Zunächst finden wir die Königslutterer Kapitelltypen an einigen benachbarten Orten in ziemlich genauer Übereinstimmung wieder. Diese Kapitelle wurden wahrscheinlich noch von Bauhandwerkern ausgeführt, die an der Stiftskirche zu Königslutter mitgearbeitet hatten. Eng verwandt mit Königslutter ist ein Kapitell der Burg Dankwarderode und einige des Ägidien-Klosters in Braunschweig, wo alle drei Königslutterer Kapitelltypen wieder aufgenommen werden: das Palmettenwürfelkapitell, das Palmettenfächerkapitell und das korinthisierende Kapitell.

13) Abb. bei J. P. MEIER, Quedlinburg, a. a. O.

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36 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

Sehr nahe an die Kreuzgangkapitelle zu Königslutter sind auch die beiden Kapitelle des Kapitelsaales in Michaelstein bei Blankenburg angelehnt (Abb. 36).

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Die entsprechenden Kapitelle gleichen sich bis in Einzelheiten. Ein wichtiger Unterschied fällt jedoch bei genauerer Betrachtung auf. In Königslutter sind beim Palmettenfächerkapitell an den Säumen der Blätter und an ihren Einbuchtungen tiefe Bohrlöcher angebracht, die den Eindruck erwecken sollen, die Blätter wären nicht fest mit dem Kapitellblock verschmolzen, sondern frei um ihn herummodelliert. Diese Eigenart der Königslutter Kapitelle geht auf ihre Vorbilder in Verona zurück. Hinter dieser Ausbildung des Palmettenblattes verbirgt sich noch ein letzter Nachklang antiker Vorstellung des lebendigen, vegetabilen Akanthusblattes. In Michaelstein und bei allen anderen Kapitellen, die in der Nachwirkung von Königslutter entstanden sind, findet sich diese Eigenart des Palmettenfächerkapitells nicht wieder. Die einzelnen Palmettenblätter schließen sich vielmehr eng aneinander, so daß sie den Kapitellkern vollkommen umschließen. Sie sind also nicht „Verzierung“, sondern stellen in ihrer Gesamtheit selbst den Kapitellblock dar. Dies ist ein wichtiger Hinweis für die wesensverschiedene Auffassung von der Funktion eines Baugliedes bei Niedersachsen und Italienern im 12. Jh. So, wie wir es bereits in Quedlinburg sahen, wird auch hier in der Nachfolge Königslutters eine reiche importierte Formenwelt, indem sie eingedeutscht wird, vereinfacht und stilisiert. Die Grundform der Kapitelle des mittleren 12. Jh. ist immer noch, wie zu Beginn dieses Jahrhunderts, das Würfelkapitell. Der Stein wird auch in der verarbeiteten Form als Kapitell immer noch als Element betrachtet (eben als Stein), und man vermag es nicht (und versucht es auch nicht), ihn zu vegetabilem Leben zu erwecken. Erst das 13. Jh., die aufblühende Gotik, ist hierzu reif.
Die Tendenz der Verblockung können wir sehr deutlich in der weiteren Nachfolge der Königslutterer Bauornamentik feststellen. Besonders wichtig ist hier der Umbau der Michaelskirche in Hildesheim, der unter Bischof Adelog ausgeführt wurde (zwischen 1173 und 1186), und bei dem alle Langhauskapitelle der Bernwardskirche durch neue ersetzt wurden (Abb. 37, 38).

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tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-38-Michaelstein-Langhaus-von-St-Michael-H-Nickel-1953.jpg

Die Kapitelle sind wahrscheinlich nicht direkt von Königslutter abhängig, sondern von Braunschweig. Durchwegs wird hier die Tendenz zur Vereinfachung und Verfestigung spürbar. Bei dem korinthisierenden Kapitell werden die Außenseiten der Kapitellbossen sehr streng eingehalten. Die Palmettenfächerkapitelle erscheinen wie aus mächtigen runden Blöcken zusammengesetzt, in die die Palmettenblätter nur sehr flach eingetieft sind.

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37 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

Auf einer fortgeschrittenen Stufe der Vereinfachung (von Hildesheim abhängig) stehen die Kapitelle der Klosterkirche zu Wunstorf. Die korinthisierenden Kapitelle erscheinen hier nur noch wie ausgewählte Schmuckstücke im Gesamtbauwerk. Dominierend sind Würfelkapitelle, die entweder mit einfachen geometrischen Mustern besetzt sind oder aber flache Palmetten tragen. Die Kapitelle sind z. T. durch Zungenblätter gestützt, die an den Zwickeln aus dem Schaftring herauswachsen (Abb. 39).

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Die letzten Auswirkungen der Königslutterer Formenwelt beobachten wir an den Kapitellen der Stiftskirche zu Frose (Abb. 40).

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Das korinthisierende Kapitell ist hier zu einem Würfelblattkapitell zurückgebildet worden, das äußerlich sehr bewegt erscheint (die Oberfläche des Kapitellkerns ist aufgekratzt, zerwühlt). Diese unruhige Oberfläche will aber nur die Erstarrung der Gesamtform verbergen. Hier hatte sich also die Königslutterer Kapitellornamentik in eine Sackgasse verlaufen.
In den letzten zwei Jahrzehnten des 12. Jh. greifen Bauhandwerker bei der Herstellung von Kapitellen auch zuweilen auf den ursprünglichen Formenapparat von Königslutter zurück. Es entstehen jetzt wieder Kapitelle, die eine sehr enge Bindung zu Königslutter aufzuweisen scheinen, so, als würde zwischen diesen Bauten und Königslutter eine Querverbindung bestehen, unabhängig von der Entwicklungslinie Hildesheim-Wunstorf-Frose. Hier wären die Kapitelle des Obergeschosses der Doppelkapelle zu Landsberg zu nennen (Abb. 41, 42),

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ferner ein Kapitell, das im Lapidarium der Klosterkirche auf dem Petersberg bei Halle aufbewahrt wird (Abb. 43)

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und das Kapitell eines Bündelpfeilers des zerstörten Klosters Holzzelle (jetzt im Garten des ehemaligen Gutshauses Sittichenbach, Abb. 44).

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In diesen Kapitellen haben wir die ersten Anzeichen einer Stilströmung zu sehen, die zur Verlebendigung hinzielt. Die gleichen Bestrebungen führten dazu, daß in kurzer Zeit das Kelchblockkapitell alle anderen Kapitelltypen in Mitteldeutschland verdrängen konnte.

Die Hirsauer Bauschule
In einer Arbeit über Bauornamentik erscheint es paradox, für die Erklärung einzelner Erscheinungen und Motive die Hirsauer Bauschule mit hinzuzuziehen  14). Charakteristisch für die Bauten der Hirsauer Kongregation ist es doch,

14) Wir verwenden in unserer Arbeit bewußt den Begriff „Hirsauer Bauschule“, obwohl er seit der Einführung durch DEHIO wiederholt abgelehnt wurde. In der neuesten Arbeit über die Hirsauer Bauschule von Wolfbernhard HOFFMANN, München 1950, geht der Verfasser genau auf die Frage ein, ob der Hirsauer Kongregation eine stilbildende Wirkung zukommt oder nicht. HOFFMANN kann nachweisen, daß die meisten der für Hirsau charakteristischen Baumerkmale bereits vor dem Kirchenbau Peter und Paul (Hirsau) in Schwaben vorhanden waren. In bautraditionsarmen Gegenden dagegen bilden die Reformklöster sehr bald verbindliche Baugewohnheiten aus (mit Motiven, die den Mutterklöstern entstammen) und halten sich auch strenger an sie als in anderen Gebieten Deutschlands. Als das bezeiclınendste Beispiel hierfür nennt HOFFMANN Niedersachsen.

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38 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

daß sie reichen Bauschmuck ablehnen, daß sie einfache glatte (obwohl solid gemauerte) Mauerflächen bevorzugen, die höchstens durch Schachbrettfriese unterteilt sind, daß sie ihre Bauten mit schlichten, flachen Holzdecken überdachen und daß sie als Säulenköpfe einfache Würfelkapitelle verwenden. Trotzdem finden wir gerade bei Hirsauer Bauten oder solchen, die durch ihre Bauweise einen Zusammenhang mit Hirsau erkennen lassen, höchst qualitätvolle und schöne Bauornamentik. Die hervorragendsten Beispiele hierfür sind Hamersleben und St. Godehard in Hildesheim.
Wir haben an den Beispielen von Quedlinburg und Königslutter gesehen, wie einheimische Steinmetzen sehr schnell importiertes Formengut vereinfachten und ihrem Empfinden anglichen. Es hat zumeist einiger Umwege bedurft, bis aus Kompromißlösungen sich neue, selbständig durchgebildete Kapitelle ergaben. Die Steinmetzen, die an Hirsauer Bauten tätig waren, hatten es nun einfacher. Ihnen war als Grundform des Kapitells, den Baugewohnheiten der Hirsauer entsprechend, stets das Würfelkapitell gegeben, in das erst zumeist nach dem Versetzen der Bossen die Ornamente eingetieft wurden. Das Formengerüst des Kapitellwürfels blieb dabei stets erhalten. Diese Verfahrensweise kam den einheimischen Handwerkern sehr entgegen, da sie dabei, ganz wie sie es von der Ausschmückung von Schwertgriffen und Fibeln gewöhnt waren, verfahren konnten.
Die Kapitelle eines Hirsauer Bauwerks können geschmückt sein, sie brauchen es aber nicht. So stehen an den meisten Hirsauer Bauten ornamentierte Kapitelle einfachen Würfelkapitellen gegenüber, ohne daß sich hieraus eine Dissonanz ergeben würde.
Hirsauer Mönche sind auch die ersten, die durch ihre Beziehung zum Mutterkloster und weiter zu Cluny französisches Formengut nach Mitteldeutschland verpflanzen. St. Godehard in Hildesheim weist schon allein durch den in Deutschland ungebräuchlichen Chorumgang seine Verbindung zu Frankreich nach. Auch die Kapitelle sind teilweise von Burgund abhängig, besonders die Kapitelle mit szenischen Darstellungen und mit Mönchen an den Ecken. Die Krypta zu Riechenberg weist dagegen mit ihren reich verzierten Kapitellen auf eine Abhängigkeit von südfranzösischer Bauornamentik hin.
Wir werden in der nachfolgenden Arbeit nicht nur eine stilistische Entwicklung an den ornamentierten Kapitellen der Hirsauer Bauten feststellen können, sondern werden sehen, daß sich auch das einfache Würfelkapitell im Laufe der Zeit veränderte, und zwar sowohl in seinen Proportionen wie in der Ausbildung und Aufteilung seiner Schilde.

II. MOTIVREIHEN
Palmettenfries und Palmettenkapitell
Herleitung
Die Palmette ist wohl das beliebteste Schmuckmotiv des 12. Jh. in Deutschland. Doch auch in den benachbarten Ländern, Italien und Frankreich, findet sie sehr häufig in der Bauplastik Verwendung, in Frankreich vereinzelt schon im 10. Jh.
Am palmettengeschmückten Kapitell ergeben die zueinander geneigten steigenden und fallenden Wedel eine sehr harmonische Wirkung, einen Ausgleich der Kraftströmungen, wie er für die klassische Zeit der romanischen Ornamentik bezeichnend ist. Eine solche Komposition (als Kapitell) stellt gegenüber der Antike eine vollkommen eigene Leistung dar (weder die griechische, noch die römische Antike kannte das Palmettenkapitell); andererseits ist bei dem Palmettenwürfelkapitell das Ornament nicht mehr, wie noch die Flechtbänder (Magdeburg - Liebfrauenkirche), dem Kapitellwürfel als fremde Schmuckform von außen aufgelegt, sondern verschmilzt mit ihm.
Das Palmettenkapitell ist eine eigene romanische Leistung; die Palmette selbst jedoch gehört zu den ältesten Schmuckmotiven überhaupt. In allen antiken Mittelmeerkulturen ist sie gebräuchlich, zumeist in Reihungen (Friesen) an Gefäßen oder Bauwerken. An der Sima des griechischen Tempels erscheint die Palmette in Verbindung mit der Lotosblüte. Es entsteht hier also die Reihung Palmette - Lotosblüte - Palmette. Einzelne Palmetten können auch durch bogenförmige Ranken miteinander in Verbindung gebracht werden bzw. durch wellenförmige. Daneben tritt die Palmette auch als Rosette vereinzelt auf  15). Alle drei Verwendungsarten leben wieder in der Romanik auf.
Die mit Ranken verbundenen Palmetten des Ornamentstreifens über dem Rundbogenfries der Außenmauer und an der Rahmung der südlichen Nebenapsis der Stiftskirche zu Quedlinburg scheinen in vereinfachter Form das Palmetten-Lotos-Ornament der Sima eines griechischen Tempels wiederzugeben (Abb. 133, 134).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-133-Quedlinburg-suedliche-Nebenapsis-der-Servatiuskirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-134-Quedlinburg-Fries-am-noerdlichen-Seitenschiff-der-Servatiuskirche-H-Nickel-1953.jpg

(Die zusammengebundenen Stengel der Palmetten bedeuten die Lotosblüten.) Erstaunlich, wie eng sich die Bindung der Romanik zum antiken Mittelmeerkulturkreis auch auf dem Gebiete der Ornamentik erweist - trotz des tausendjährigen Zeitabstandes!
Selbstverständlich besteht hier kein unmittelbarer Zusammenhang. Die Motivübertragung wird wohl hauptsächlich durch Kleinplastik (Elfenbeinschnitzereien und Schmuckstücke) erfolgt sein. An erster Stelle kommen Diptychen in Betracht, die ja im Mittelalter sehr begehrt waren. Sie wurden in großen Mengen aus den

15) Vgl. Martin SCHEDE: Antikes Traufleisten-Ornament. Straßburg 1909.

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39 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

Ländern, die die Kreuzfahrer berührten, mitgebracht und werden noch heute in vielen Domschätzen aufbewahrt. Die Darstellungen auf den Diptychen sind mit Vorliebe durch Palmetten-Ornamentbänder gerahmt.
Eine Motivübertragung in der Bauplastik durch Miniaturmalerei ist für das frühe Mittelalter nicht nachweisbar. Es wird wahrscheinlich den Steinmetzen unmöglich gewesen sein, gemalte (flächige) Vorbilder in das Räumliche umzudenken. WEIGERT erwähnt, daß ein gewisser Domnus E. in Italien Elfenbeinmodelle von Kapitellen anfertigen ließ, um sie in Deutschland in Stein nachbilden zu können (karolingische Zeit)  16).
Für Palmettenfriese standen den romanischen Steinmetzen in Form von antiken Elfenbeinschnitzereien genügend Vorbilder zur Verfügung. Palmettenkapitelle jedoch konnten nicht aus älteren Vorlagen übernommen werden, sondern bedurften einer eigenen Entwicklung.
In Quedlinburg werden die Palmetten an den Kryptakapitellen durchweg mit Flechtbändern in Verbindung gebracht (Abb. 45),

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-45-Quedlinburg-St-Servatius-Unterkirche-H-Nickel-1953.jpg

eine Motivverbindung, wie sie die Antike nicht kennt. Dieser Verschmelzungsprozeß des durch die Völkerwanderung in ganz Europa verbreiteten Flechtbandmusters mit der antiken Palmette scheint zuerst in Frankreich geglückt zu sein. DESCHAMPS bildet in der „Romanischen Plastik Frankreichs“ eine mit Flechtwerk geschmückte Steinplatte ab. Die Enden der Flechtbänder laufen in Palmetten aus (karolingisch, Vienne, Musée Saint-Pierre) (Abb. 46).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-46-Vienne-Musee-Saint-Pierre-H-Nickel-1953.jpg


In romanischer Zeit begegnet uns auch in Oberitalien die Verbindung von Palmette und Flechtband häufig (Abb. 47).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-47-Mailand-Kanzel-in-St-Ambrogio-H-Nickel-1953.jpg

Von hier aus dürfte die Übertragung nach Mitteldeutschland stattgefunden haben  17).

Entwicklungslinien
In unmittelbarer Nachfolge Quedlinburgs entsteht in Mitteldeutschland nur die kleine Kirche zu Kloster-Gröningen. Die Quedlinburger Ornamentik ist für die späteren Kirchenbauten sonst nicht von großer Bedeutung, wahrscheinlich, weil ihre Ausdrucksmittel für die Zeit zu entwickelt waren.
In den älteren Ostteilen der Klosterkirche zu Hamersleben sind die Kämpfer der Vierungspfeiler mit einem fortlaufenden Palmettenkranz besetzt (Abb. 50)  18).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-50-Hamersleben-Vierungspfeiler-in-der-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

Die Blätter wachsen

16) Anders im 12. Jahrh.: die zumeist flächige Anbringung der Bauornamentik (in Deutschland) in Friesen und den Schilden des Kapitellwürfels ermöglicht es unschwer, gemalte Motive, selbst Webmuster, als Vorlagen zu verwenden.
17) Zum Beispiel an der Kanzel von St. Ambrogio in Mailand.
18) Es war nicht möglich, im Rahmen dieser Arbeit die überaus reichen und vielfältigen Kapitellornamente der Hamerslebener Stiftskirche gebührend zu würdigen. Ein besonderer Aufsatz über die Bauornamentik Hamerslebens wird in der nächsten Nummer der gesellschafts- und sprachwissenschaftlichen Reihe unserer Wissenschaftlichen Zeitschrift erscheinen. Man entschuldige, wenn ich schon jetzt auf das eine oder andere Hamerslebener Motiv hinweise. Am Schluß dieses Aufsatzes wird auch ein Ortsregister der Gesamtarbeit erscheinen.

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40 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

ohne Stengel aus der unteren Blattleiste hervor: eine Umbildung des antiken Akanthusblattfrieses. Diese Entstehungsthese wird bestätigt durch die Palmettenkapitelle von St. Godehard in Hildesheim (Abb. 48).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-48-Hildesheim-St-Godehard-H-Nickel-1953.jpg

Hier liegt sicher eine Umdeutung des korinthischen Kapitells vor: aus den Akanthusblättern sind Palmetten geworden, (deren nach unten verengte Blätter in die benachbarte Palmette überschwingen, so daß je zwei Palmetten miteinander verbunden werden. Ein Band flicht sich durch die Palmetten und bindet sie untereinander zusammen. Die Helices werden in kraftvolle mehrgliedrige Spiralen umgedeutet (ein Schmuckmotiv, das in der mittleren nordischen Bronzezeit und der keltischen Kunst als „Antenne“ bekannt ist). In Hildesheim verdankt es seine Entstehung der sinnentleerten Erinnerung an einen Flechtbandknoten. Anschaulich wird diese Umbildung an einem anderen Kapitell der Godehardskirche (Abb. 49).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-49-Hildesheim-St-Godehard-H-Nickel-1953.jpg

Die Komposition und Ausführung dieses Kapitells zeigt eine außergewöhnlich qualitätvolle und kraftvolle Leistung der romanischen Bauplastik.
In enger Abhängigkeit von den Hildesheimer Kapitellen stehen die Palmettenkapitelle in Wunstorf (Abb. 51).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-51-Wunstorf-Nonnenklosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

Die Palmetten sind hier etwas großflächiger und damit steifer geworden; die Spiralhelices erscheinen schlichter gebildet. KLUCKHOHN weist darauf hin, daß die korinthisierenden Kapitelle in Wunstorf von St. Michael in Hildesheim herzuleiten seien. Es liegt hier also der interessante Fall vor, daß in einer Kirche Kapitelle vereinigt werden, die an einem anderen Ort von zwei verschiedenen Bauten entlehnt wurden. Wahrscheinlich waren in Wunstorf Handwerker tätig, die an beiden Hildesheimer Kirchen mitgearbeitet hatten.
Eine Vereinfachung des banddurchwundenen Doppelpalmettenkapitells sehen wir an einem Kapitell aus dem abgebrochenen Goslarer Dom, das jetzt in der Domvorhalle aufbewahrt wird (Abb. 52).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-52-Goslar-Domvorhalle-H-Nickel-1953.jpg

Jede Kapitellseite wird jeweils nur von einer Doppelpalmette eingenommen; schlanke Palmettenwedel ersetzen die Spiralhelices.
Dem selben Kreis zugehörig ist ein Kapitell am Portal der Benediktiner-Klosterkirche zu Bursfelde (Krs. Münden): auch hier stiellose Palmetten, je zwei ineinander übergehend, zusammengefaßt mit einem Band (Abb. 53).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-53-Bursfelde-Benediktiner-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg


Eine Rückbildung des besprochenen Typus, jedoch wieder stärker an das korinthische Kapitell erinnernd, haben wir in Drübeck vor uns. Die „Helices-Spiralen“ wurden hier als besonderes Ornament an den Kämpfer verpflanzt (Abb. 54).  19)

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-54-Druebeck-Nonnenkloster-H-Nickel-1953.jpg



Das Palmettenwürfelkapitell
Im Refektorium des Klosters Ilsenburg tragen Säulen mit ornamentierten Schäften vielfältige (jedoch nicht sehr qualitätvolle) Palmettenwürfelkapitelle. Sehr flache stiellose Palmetten bedecken oft in mehreren Reihen übereinander die ganze Oberfläche des Würfelkapitells (Abb. 57 ).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-57-Ilsenburg-Refektorium-des-Klosters-H-Nickel-1953.jpg

Einzelne Palmetten sind den aufsteigenden Blättern entgegen gerichtet, sie fallen von oben herab (Abb. 56).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-56-Ilsenburg-Refektorium-des-Klosters-H-Nickel-1953.jpg

Dies ist eine entscheidende Neuerung gegenüber dem korinthisierenden Kapitell. Oft werden Palmettenwedel durch Diamantbänder zusammengehalten. An einem Kämpfer begegnet uns auch wieder die Palmettenreihe, wie wir sie schon in Hamersleben sahen: stiellos, die verengten Blätter nach unten hin bogenförmig in die benachbarte Palmette überschwingend (Abb. 57).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-57-Ilsenburg-Refektorium-des-Klosters-H-Nickel-1953.jpg

Zwischen den einzelnen Palmetten sind knopfartige Erhöhungen angebracht. Dieses an sich belanglose Motiv kehrt in Mitteldeutschland bei sehr vielen Bauwerken wieder.
Stilgleich hierzu, wenn auch qualitätvoller, sind die Wandkapitelle der Krypta zu Riechenberg (Abb. 59, 60).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-59-Riechenberg-Krypta-der-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-60-Riechenberg-Krypta-der-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

An den Kämpfern der figurengeschmückten Freisäulen, die den Wandsäulen in der Ausstattung überlegen sind, fanden gleichfalls Palmettenornamente Verwendung (Abb. 142-147).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-142-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-N1-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-143-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-S1-H-Nickel-1953.jpg

 

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tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-145-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-S2-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-146-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-N3-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-147-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-S3-H-Nickel-1953.jpg

In feinen, mehrschichtigen Reliefs werden banddurchflochtene Palmetten dargestellt, daneben Palmetten, die paarweise aus schmalen Bündeln aufsteigen und nach außen hin überkippen. Diese außergewöhnlich qualitätvollen Kapitelle wurden

19) Eva LICHT: (Ottonische und frühromanische Kapitelle in Deutschland - Marburger Diss. 1936, S. 41) sieht das stark beschädigte Kapitell für ottonisch an, sein Kämpfer jedoch wäre später hinzugefügt worden.

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41 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

wahrscheinlich, wie bei der Behandlung der Figurenkapitelle weiter unten näher zu untersuchen sein wird, von zugewanderten Bauhandwerkern ausgeführt.
Ihre schönste Ausbildung erfahren die Palmettenwürfelkapitelle in der mittleren Ostkrypta des Naumburger Domes (Abb. 61-62).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-61-Naumburg-Mittelteil-der-Domkrypta-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-62-Naumburg-Mittelteil-der-Domkrypta-H-Nickel-1953.jpg

Das Relief des Ornamentes ist hier tiefer geworden, die Bewegung des einzelnen Palmettenzweiges lebendiger. Durch Diamantbänder sind zwei oder drei Palmetten zu einer Gruppe zusammengefaßt. Aufsteigenden Wedeln antworten an den Ecken jeweils fallende. Auch die Eckkugeln oder Knöpfe, die schon in Ilsenburg das Kapitellornament belebten, sind hier zu finden.
An den bis dahin besprochenen Palmettenornamenten konnten wir immer feststellen, daß zwei Palmettenwedel jeweils zu einer Einheit zusammengefaßt waren in der Art, daß ihre nach unten verengten und zusammengeschnürten Blätter in einen zweiten Wedel übergingen. Dieses Motiv wird auch noch in Naumburg beibehalten. Die schon stielartig verengten Palmettenblätter schwingen hinter dem Diamantband in eine aufsteigende Palmette über. Verselbständigt sich nun die Palmette mit ihren verengten Blattenden und verzichtet darauf, in eine zweite überzugehen, so entsteht hieraus eine Stielpalmette. Wir können in Naumburg wünschenswert deutlich die Entstehung dieser neuen Ornamentvariante verfolgen.
In der Doppelkapelle zu Landsberg bei Halle finden als Kapitellschmuck diese „Stielpalmetten“ bereits ausgiebig Verwendung. Die Grundform der Kapitelle ist hier gedrückter als in Naumburg.
Eines der schönsten und charakteristischesten Palmettenkapitelle ist das der Halbsäule am Treppenvorsatz des Obergeschosses (Abb. 66).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-66-Landsberg-Doppelkapelle-H-Nickel-1953.jpg

Hier steigen aus dem mit einem Fischgrätenmuster überzogenen Wulstring in der Mitte des Kapitells zwei gedrehte Stämmchen auf, die über einem Diamantband nach den Seiten hin in Halbpalmetten ausschwingen, als würde die aufliegende Platte ihr Wachstum eindämmen. An den Seiten des Kapitells winden sich je vier schmale Palmettenranken nach oben, denen an den Ecken von oben her eine herabfallende Ranke antwortet: sinnfälliger Ausdruck der aufsteigenden Säulenkräfte und des Herabdrückens der Gewölbelast.
Bei den Figurenkapitellen sind die menschlichen Gestalten und Adler eng mit den Palmetten verbunden (Abb. 63).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-63-Landsberg-Doppelkapelle-H-Nickel-1953.jpg


Ein sehr eigenartiges Kapitell im ersten Joch des Untergeschosses ist für den neuen Charakter dieser fortgeschrittenen Ornamentik sehr bezeichnend (Abb. 64, 65).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-64-Landsberg-Doppelkapelle-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-65-Landsberg-Doppelkapelle-H-Nickel-1953.jpg

An der Kapitellseite, die dem Mittelschiff zugekehrt ist, steigt von der Mittellinie deutlich nach links verschoben ein doppelter Seilstab auf, aus dem sich oben nach beiden Seiten hin Halbpalmetten entwickeln. Es sieht aus, als wären zwei Bäumchen
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mit den Stämmen aneinander gebunden. Das Abweichen der „Stämme“ von der Mittelgeraden wird für eine bewegte Ausbildung der Palmettenwedel ausgenützt. Bei flüchtigem Hinsehen könnte man annehmen, die Asymmetrie rühre von ungenauer Arbeit oder mangelnden Fähigkeiten des Steinmetzen her. Wir werden jedoch eines anderen belehrt, wenn wir die entgegengesetzte Seite des Kapitells betrachten; denn hier kehren in fast genauer Übereinstimmung die gleichen Asymmetrien wieder. Die ungleiche Besetzung der Seitenflächen ist also gewollt, in ihrer Wirkung berechnend angewendet! Das Ornament ist noch eng an die Bossenform gebunden, doch können wir in seiner Bewegtheit bereits die ersten Anzeichen zu einem dynamischen Spannungsverhältnis zwischen Ornament und Kapitellgrund feststellen.
Eng verwandt hierzu, vielleicht von den gleichen Steinmetzen ausgeführt, sind die Kämpfer in den Ostteilen der Benediktinerinnen-Klosterkirche zu Hecklingen (Krs. Bernburg). Die Stielpalmette hat sich hier schon zur richtigen Ranke entwickelt (was die asymmetrische Ausbildung begünstigt). Auch der figürliche Schmuck der Kämpfer steht den Figurenkapitellen in Landsberg sehr nahe (Abb. 170).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-170-Hecklingen-Nonnenklosterkirche-H-Nickel-1953.jpg


Die Kapitelle im Kapitelsaal des Klosters Ilsenburg sind zwar wieder mit verbundenen Palmetten geschmückt (in Anlehnung an die Ornamentik des Refektoriums), doch zeigt die Ausbildung der Palmettenwedel - ihre Spitzen kippen über, und die sie verbindenden Äste sind wie straffe Stiele gebildet und lassen nur selten ihre Herkunft von einem gebündelten Palmettenblatt erkennen, daß hier bereits die Entwicklung der Stielpalmette vorangegangen sein muß (Abb. 67-69).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-67-Ilsenburg-Kloster-Kapitelsaal-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-68-Ilsenburg-Kloster-Kapitelsaal-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-69-Ilsenburg-Kloster-Caldarium-H-Nickel-1953.jpg

Zwischen den einzelnen Palmetten erscheint hier - und das ist neu - der glatte Kapitellgrund. Die einfach profilierten Kämpfer tragen - im Gegensatz zu denen im Refektorium - keinen Ornamentschmuck.
Auch bei den Kapitellen in der Marienkapelle der Liebfrauenkirche zu Halberstadt bleiben zwischen den schön geschwungenen Palmetten Teile des Kapitellgrundes sichtbar (Abb. 70).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-70-Halberstadt-Marienkapelle-der-Liebfrauenkirche-H-Nickel-1953.jpg

Hier sind gleichfalls, wie in Naumburg und Ilsenburg, an der Mitte und den Ecken des Kapitellschildes Kügelchen untergebracht.
Bei den Kapitellen im Kreuzgang der Stiftskirche zu Gernrode ist das Palmettenornament in der gleichen Art über den Kapitellgrund gelegt (Teile des Kapitellkerns bleiben frei - Abb. 71).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-71-Gernrode-Obergeschoss-des-Kreuzganges-in-der-Stiftskirche-H-Nickel-1953.jpg

Die sehr schlanken Palmettenranken und die Diamantbänder werden zum Teil in mehreren Schichten übereinandergelegt. Die Steinmetzen vermögen hier schon komplizierteren Raumvorstellungen Ausdruck zu geben.
Lockerer und freier, obwohl noch in enger Anlehnung an das quaderartige Würfelkapitell, sind die Palmetten im Südflügel des Kreuzganges am Magdeburger Dom behandelt (Abb. 72).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-72-Magdeburg-Domkreuzgang-H-Nickel-1953.jpg

In verschiedensten Variationen werden die Palmetten ineinander verschlungen und übereinander geschichtet. Neben reinen

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43 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

Palmettenkapitellen erscheinen auch solche mit Rankenverzierung und mit fleischigen Akanthusblättern. Die Akanthuskapitelle gehören der Königslutterer Tradition an; sie weisen z. T. unterhöhlte Ecken auf, das Ornament hat sich also bereits vom Kapitellblock gelöst. Auch in Magdeburg sind an den Palmettenkapitellen häufig kleine Kügelchen eingestreut.
Etwa stilgleich hierzu sind die Kreuzgangkapitelle der Kirche auf dem Marienberg in Helmstedt (Abb. 73).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-73-Helmstedt-Kreuzgang-der-Marienberger-Kirche-H-Nickel-1953.jpg

Die etwas zu steifen Palmetten wachsen aus dem Schaftring heraus, begleitet werden sie von Diamantbändern, die hier in mißverstandener Weise zur Auflockerung der Seiten der Palmettenwedel benützt werden. In den Fensteröffnungen des gleichen Kreuzganges, die mit Kleeblattbögen überwölbt sind, stehen neben den Palmettenkapitellen auch schon Knospenkapitelle: ein Zeichen dafür, daß die Entstehung bereits ins 13. Jh. fällt.

Das Palmettenornament in Verbindung mit dem Diamantband
An Bauwerken, die mit ihrer Entstehungszeit zwischen dem Kreuzgang zu Königslutter und der Jahrhundertwende liegen, wird das Palmettenornament sehr häufig durch ein Diamantband bereichert, d. i. ein Band, auf dem zwischen Bandstegen pyramidenförmige Knöpfe gereiht sind. Eine Verbindung der beiden Ornamentelemente - Palmette und Diamantband - kehrt in sehr ähnlicher Ausbildung häufig wieder: das Diamantband bildet einen Halbkreis und umschreibt eine aus mehreren Wedeln bestehende Palmette. Einige Wedel wachsen meist hinter dem Diamantbogen hindurch und fallen mit ihren Spitzen nach vorn über. Dieses Ornament kann als Einzelmotiv oder auch in Reihungen auftreten. Wir wollen es Diamantbogen-Ornament nennen.
Das Diamantbogen-Ornament scheint, wie viele andere Ornamentmotive Mitteldeutschlands auch, seinen Ursprung an den Kapitellen des Kreuzganges zu Königslutter zu haben. Am Kämpfer eines Palmettenkapitells wird dieses Motiv an jeder Seite zweimal verwendet. Die sehr lebendigen Palmettenwedel greifen hier jeweils einmal vor und einmal hinter dem Diamantbogen über dessen Grenze hinaus (Abb. 74).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-74-Koenigslutter-Kreuzgang-der-Stiftskirche-H-Nickel-1953.jpg


Im Kapitelsaal des Klosters zu Michaelstein wird die Diamantbogen-Palmette für die Ausschmückung eines Kapitells benützt (Abb. 75).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-75-Michaelstein-Kapitelsaal-des-Klosters-H-Nickel-1953.jpg

Die Palmette ist hier nicht mehr ganz so lebendig und bewegt dargestellt, wie wir dies im Kreuzgang zu Königslutter vorfanden. Der Kämpfer dieses Kapitells zeigt ein noch derberes Diamantbogen-Ornament. Bis in Einzelheiten damit übereinstimmend ist das Ornament eines Kämpfers in der Michaelskirche in Hildesheim: ein Beweis mehr für die engen Beziehungen der von Königslutter abhängigen Bauten untereinander.
Eine weitere Vereinfachung gegenüber dem Michaelsteiner Kapitell stellt ein Kapitell in der Krypta der Stiftskirche zu Ballenstedt dar (Abb. 76).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-76-Ballenstedt-Krypta-der-Stiftskirche-H-Nickel-1953.jpg

Der Diamantbogen ist mit seinen unteren Enden nach innen eingeschlagen und verwandelt sich nach der Zusammenfassung durch ein Band in zwei einfache Palmetten.
Sehr streng und flach ist das Diamantbogen-Ornament an einem Kämpfer in der Benedektiner-Klosterkirche Wimmelburg bei Eisleben dargestellt. Die Palmettenwedel sind vollkommen symmetrisch aufgebaut und lassen die Lebendigkeit, wie wir sie in Königslutter und auch in Michaelstein noch sahen, vermissen (Abb. 77).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-77-Wimmelburg-Chor-der-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

Beinahe noch herber erscheint dieses Ornament an einem Kämpferfragment vom Dom zu Hildesheim (Abb. 78).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-78-Hildesheim-Kaempfer-aus-dem-alten-Dom-H-Nickel-1953.jpg

Das Diamantband wurde hier nicht vollständig ausgeführt und besteht nur aus drei nebeneinander herlaufenden Stegen. In der Stiftskirche zu Gandersheim befinden sich an den Kämpfern der Wandvorlagen, die für die Einwölbung der Vierung hochgezogen wurden, Diamantornamente, bei denen die Palmetten wieder etwas lockerer ausgeführt erscheinen (Abb. 79).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-79-Gandersheim-Kaempfer-des-Vierungsbogens-in-der-Stiftskirche-H-Nickel-1953.jpg

Am Vierungsbogenkämpfer der Neuwerkskirche zu Goslar wird der Diamantbogen nur als Verbindungsglied zwischen einzelnen selbständigen Palmetten verwendet, die kräftig über ihn hinauswachsen (Abb. 80).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-80-Goslar-Kaempfer-des-Vierungsbogens-der-Neuwerkskirche-H-Nickel-1953.jpg

Am Eingangsbogen der Domvorhalle zu Goslar werden die Kämpfer gleichfalls mit einem Palmettenfries geschmückt (Abb. 81).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-81-Goslar-Domvorhalle-H-Nickel-1953.jpg

Die Herkunft dieses Ornaments vom Diamantbogen ist unverkennbar. Der Diamantbogen selbst erscheint jedoch zwischen den Palmetten nur noch als kaum erkennbares Rudiment. Die
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Erbauungszeit der Domvorhalle fällt schon ins 13. Jh.
Vereinzelt kann das Diamantband auch als selbständiges Motiv auftreten und die Palmette zurückdrängen. Dies ist der Fall an den Konsolen der Wandvorlagen in der Benediktiner-Klosterkirche zu Drübeck (Abb. 82, 83).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-82-Druebeck-Nonnenklosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-83-Druebeck-Nonnenklosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

Diese Konsolen sind nicht nur mit Diamantbändern gerahmt, sondern werden in Teilen durch sie übersponnen: wohl eine Erinnerung an die früheren Gewohnheiten, Strukturglieder eines Bauwerks mit Flechtbändern zu schmücken. An einer dieser Konsolen schwingen die Enden der Diamantbänder in kleine Palmetten aus, die sich weit zurückbiegen. Dadurch erfahren die an sich aus kristallinischen Elementen zusammengesetzten Diamantbänder eine Umdeutung zum Organischen hin; sie werden wie Ranken für die Palmette verwendet.
An der Ostseite des Kapitells N 2 in Hamersleben ist die Schildfläche auch durch ein Diamantband-Ornament ausgefüllt. Drei Bogen werden hier ineinander geflochten und stoßen mit ihren Enden in den Schildecken und der Mitte der unteren Bogenbegrenzung zusammen. Hinter dem Diamantband wächst ein Baum auf, der sich in feinteilige Palmetten verzweigt, die sich rankenartig um die Diamantbänder winden  18).
Kurze Zeit, nachdem man in Drübeck die Wandvorlagen in der Klosterkirche angebracht hatte, um das alte Kirchenschiff einwölben zu können, wollte man wohl auch den Strukturteilen der Kirche ein modernes Aussehen geben. Zu diesem Zweck überstuckierte man die alten Sandsteinkapitelle in den Arkaden des Langhauses. Die Stucküberzüge wurden anläßlich einer Restaurierung der Kirche im 19. Jh. wieder entfernt, doch sind einige Reste noch erhalten, die im südlichen Querschiff aufbewahrt werden. Sie sind mit einem sehr natürlichen und lockeren Palmettenranken-Ornament bedeckt. Der lebendigen Ausbildung der Palmette kam hier wohl der weiche Werkstoff (Stuck) entgegen (Abb. 84).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-84-Druebeck-Nonnenklosterkirche-H-Nickel-1953.jpg


Palmetten, die schon in ihrer sehr weichen Ausbildung an Naturformen denken lassen, befinden sich an einem Eckkapitell, das im Lapidarium der Klosterkirche auf dem Petersberg bei Halle untergebracht ist. Hier hat sich auch bereits die Grundform des Kapitellblocks gewandelt : es ist ein Kelchblockkapitell (Abb. 85).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-85-Petersberg-bei-Halle-H-Nickel-1953.jpg


Zu den schönsten und qualitätvollsten Bauornamenten der spätesten Romanik gehören die Kapitelle der Prämonstratenser-Klosterkirche in Jerichow. Man kann an den Säulen der Krypta gut verfolgen, wie der gewandte und phantasiereiche Steinmetz im Streben nach Verlebendigung und Vielfalt das diamantbandbereicherte Palmettenkapitell in ein „muschelverziertes“ Kapitell umbildete (Abb. 86-88).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-86-Jerichow-Krypta-der-Praemonstratenser-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-87-Jerichow-Krypta-der-Praemonstratenser-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-88-Jerichow-Krypta-der-Praemonstratenser-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg


Hier wird das Ornament bereits für die Blockform des Kapitells bestimmend. Auch in der Konradsburger Krypta resultiert die Umrißform der Kapitelle aus der Gestalt der Ornamente. Kelchartige und würfelartige Formen wechseln miteinander ab. Der Kapitellgrund zwischen den Ranken, Spiralen und Blättern ist tief ausgehoben (Abb. 89).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-89-Konradsburg-Krypta-der-Kl-Kirche-H-Nickel-1953.jpg


Das Ranken-Ornament ist nicht unmittelbar aus dem älteren Palmetten-Ornament der Bauplastik hervorgegangen. Den Bauhandwerkern konnten Ranken-Ornamente der Kleinplastik, hauptsächlich an Elfenbeingeräten, sehr vielfältige

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45 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

Vorlagen bieten. Hier waren die Motive, die erst jetzt, um die Zeit um 1200, in der Bauplastik Verbreitung fanden, schon beinahe ein Jahrhundert lang vorgebildet. Man braucht nur einmal flüchtig in den Abbildungsmappen „Romanische Elfenbeinskulpturen“ von Goldschmidt zu blättern, um sich von der Häufigkeit der Ranken-Ornamente zu überzeugen.
An den Kapitellen des Chorumganges im Magdeburger Dom und der Doppelkapelle zu Freyburg hat man bei den vollkommen frei das Kapitell überspielenden Ranken den Eindruck, als hätte der Steinmetz es den Kleinplastikern gleichtun wollen: der Stein ist behandelt, als wäre es genau so elastisch und unterhöhlbar wie Elfenbein (Abb. 90-91).

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Die Ranken-Ornamente der Tympana (z. B. wie das am Portal der Nordwand am Ostchor des Naumburger Domes) haben ihre fast wörtlichen Vorbilder in den rankenverzierten Schilden von Elfenbeinkämmen  20).
Die letzten Ausklänge des Palmetten-Kapitells finden wir bei einem der spätesten romanischen Kirchenbauten, der Klosterkirche zu Wechselburg (Abb. 92).

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Am Nordportal ist hier neben einem korinthischen und einem Knospenkapitell ein Kapitell angebracht, das mit schlanken Palmetten verziert ist, die sich an den oberen Ecken knollenförmig zusammenballen und so in der Umrißform ein Kelchblock-Kapitell ergeben. In der Türleibung des gleichen Portals ist ein steifer Palmettenrankenstreifen eingetieft, der in sehr ähnlicher Ausbildung am Nordportal der Doppelkapelle zu Landsberg wiederkehrt (Abb. 93, 94).

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Das Nordportal in Landsberg ist zumindest in seinem plastischen Schmuck nicht zu der Erbauungszeit der Kapelle entstanden. Eine Daterungsmöglichkeit ergibt sich durch das figurengeschmückte Tympanon: - etwa zwischen 1220 und 1230 -

Zeitliche Einordnung
Wir haben im Vorangehenden versucht, die romanischen Palmettenkapitelle und -ornamente Mitteldeutschlands relativ chronologisch

20) Vgl. z. B. den ornamentierten Elfenbeinkamm Brüssel, Musée des Arts Decoratifs, bei Goldschmidt, Elfenbeinskulpturen I/XL. .

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zu ordnen. Wir sind uns natürlich bewußt, daß einer formalen Entwicklung nicht immer unbedingt eine zeitliche Abfolge entsprechen muß. Bei provinziellen Bauten wird wahrscheinlich oft noch in fortgeschritteneren Zeiten ein schon veralteter Formenapparat Verwendung gefunden haben, einfach weil man mit den entwickelten Bauten der Zeit nicht unmittelbar in Berührung kam. Außerdem spielt bei stilkritischer Untersuchung ja auch das Problem der Generationen eine nicht zu unterschätzende Rolle: es ist nur natürlich, daß ältere Handwerker die formalen Mittel, die sie in ihrer Jugend- oder Gesellenzeit erlernt hatten, auch weiterhin beibehielten. Berücksichtigen wir alle diese Erwägungen, so wird uns deutlich, daß man auch schon in romanischer Zeit aus einem ornamentalen Einzelmotiv, einem Kämpfer oder einem vereinzelten Kapitell, nur schlecht die Entstehungszeit ermitteln kann. Erst die Berücksichtigung verschiedener Symptome eines Bauwerks, der Architektur und Strukturteile und bei Betrachtung der Ornamentik aller auftretenden Motive gestattet uns eine einigermaßen verläßliche Einordnung.
Die Bauwerke des 12. Jh. sind zumeist nicht Neugründungen, sondern Erweiterungen, Um- oder Neubauten schon bestehender Klosteranlagen. Daher ist es bei etwa erhaltenen Urkunden meist sehr schwer, diese mit bestimmten Bauabschnitten in Einklang zu bringen. Unter den oben besprochenen Bauten befinden sich nur wenige urkundlich sicher datierte.
Das Refektorium des Klosters Ilsenburg wurde unter Abt Sigebodo erbaut, der 1161 starb. Wir besitzen hier also zumindest einen terminus ante quem.
Die Kapitelle in der Michaelskirche zu Hildesheim entstammen dem Umbau, der unter Bischof Adelog ausgeführt wurde (zwischen 1171 und 1186).
Die Burg Landsberg und ihre Kapelle wurde nach dem Zeugnis der Altzeller Annalen von Dietrich III. erbaut. Dietrich wird zuerst in Urkunden 1174 als „Marchino de Landsberc“ bezeichnet. 1186 stirbt Dietrich. Die Kapelle ist folglich in diesem Zeitraum erbaut worden  21).
Die Chorumgangskapitelle im Magdeburger Dom gehören dem ersten Bauabschnitt an, der von 1209 bis ca. 1219 dauerte.
Diese wenigen gesicherten Daten ergeben zumindesten ein Gerüst für unsere oben aufgestellten stilkritischen Reihen.

Würfelkapitell und geometrisches Muster
Überraschenderweise nimmt im 12. Jh. neben der sich reich entfaltenden Blatt- und Figuren-Ornamentik das geometrische Muster eine beachtliche Stellung ein. Dies ist erstaunlich, weil zu gleicher Zeit Kapitelle entstehen, die mit einem wahren horror vacui lückenlos von vegetabilen Mustern bedeckt sind, neben eben diesen anderen, die nur durch einfache, aber in ihren Proportionen genau ausgewogene Linienmuster oder Zirkelschläge aufgeteilt werden.
Den mit geometrischen Mustern verzierten Kapitellen wird gewöhnlich gegenüber den Figurenkapitellen weniger Beachtung gewidmet, obwohl sie gerade in Mitteldeutschland sehr häufig und schon früh auftreten (bereits um 1100). Die Figuren- und Pflanzenornamente gehen fast ausnahmslos von fremden Anregungen aus: so in Quedlinburg, Riechenberg und Königslutter. Die geometrischen Muster dagegen scheinen sich in Mitteldeutschland selbständig entwickelt zu haben. Es kommt ihnen daher bei der Untersuchung und Beurteilung des landschaftlichen Eigenwertes in der niedersächsischen Ornamentik eine besondere Bedeutung zu.

21) Waldemar GIESE: Die Mark Landsberg bis zu ihrem Übergang an die Askanier im Jahre 1291. Thür.-sächs. Zeitschr. für Gesch. u. Kunst Bd. VII, 1918.

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Würfelkapitell
Die archaische Form des Würfelkapitells, wie wir sie aus der St. Michaelskirche in Hildesheim (geweiht 1030) kennen, wird aus einem Steinwürfel gebildet, dessen unterer Teil von einer Halbkugel durchschnitten wird (Abb. 8).

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Die Restflächen des Würfelblockes bilden die Schilde. Auf eine Reliefierung der Oberfläche des Steinkernes wird verzichtet. Dieser Formen-Kanon bleibt für die meisten Bauten des 11. Jh. verbindlich.
Im 12. Jh. wird dann in zunehmendem Maße das Würfelkapitell nicht mehr als endgültige Lösung betrachtet, sondern als Bosse, auf die ornamentaler Schmuck aufgetragen werden kann. In weniger wichtigen Gebäudeteilen, wie in Krypten, an den Schallöffnungen der Türme und den Klausurbauten wird das Würfelkapitell in alter Form häufig noch das ganze 12. Jh. über weiter verwendet. Doch auch in den Langhausarkaden - zumeist an Hirsauer Bauten - kommen Würfelkapitelle weiterhin vor. Als Bereicherung werden Schildrahmung und Ecknasen angebracht. Diese Variante des Würfelkapitells ist eine Eigentümlichkeit Hirsauer Kirchen und wird auch durch sie in Mitteldeutschland gebräuchlich. Die Meinung älterer Forscher, Kapitelle dieser Art wären eine Schöpfung der Hirsauer Mutter-Klosterkirche Peter und Paul, wurde von Wolfbernhard HOFFMANN widerlegt  22). Er weist darauf hin, daß bereits im ersten Münster von Schaffhausen, einer Kirche, die früher als Hirsau, Peter und Paul entstanden ist, Würfelkapitelle mit Ecknasen Verwendung fanden. Erst später folgt in zeitlicher Reihenfolge Hirsau, Peter und Paul, Alpirsbach und Kleinkomburg.
Auch bei den nur mit Schildrahmung belebten Würfelkapitellen läßt sich eine stilistische Entwicklung in großen Zügen verfolgen.
Das frühe 12. Jh. neigt bei Würfelkapitellen zu gelagerten, zuweilen sogar gedrückten Proportionen (als Beispiel seien die Langhaus- und Krypta-Kapitelle in Gandersheim sowie die Quedlinburger Oberkirchen-Kapitelle genannt, (Abb. 96, 171).

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Nach der Jahrhundertmitte werden die Proportionen ausgeglichener. Der Aufriß des Kapitells nähert sich - man denke sich die Zwickel ausgefüllt - einem Quadrat. (Beispiele hierfür bieten das Langhaus in Paulinzella und die Chorumgangssäulen von St. Godehard in Hildesheim, Abb. 98.)

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Um diese Zeit beginnt man auch die Backen des Würfelkapitells (d. i. die zwischen den Schilden gelegenen Eckteile) in zunehmendem Maße nach unten zu ziehen, so daß das Kapitell ein immer mehr kastenförmiges Aussehen erhält. (Beispiele, entwicklungsmäßig gereiht : Hildesheim St. Godehard, Hamersleben, Hecklingen, Abb. 105).

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Eine andere Besonderheit tritt beim Würfelkapitell in der zweiten Hälfte des 12. Jh. häufig auf: die gerahmte Schildfläche des Kapitells wird nicht wie die übrigen Kapitellteile geglättet, sondern absichtlich rauh belassen. Kapitelle dieser Art begegnen uns in Klostermansfeld, Frose und im Kreuzgang des Domes zu Hildesheim. In Paulinzella wurde die Schildfläche der Kapitelle gleichfalls gerauht; die darauf aufgelegten kleinen Doppelschilde wurden jedoch geglättet, so daß sie sich schön von ihrem Untergrund abheben. Der Anlaß für diese Eigentümlichkeit dürfte ursprünglich darin bestanden haben, für die Kapitellbemalung eine bessere Haftfläche zu schaffen. Bei den oben angeführten Beispielen rechnete man jedoch wahrscheinlich hauptsächlich mit einer besseren Absetzung der Schildflächen von den anderen Kapitellteilen, also mit einem optischen Effekt.

Geometrisches Muster
Die geometrischen Muster in Mitteldeutschland können fast ausnahmslos in ihrem Formenbestand auf zwei Quellen zurückgeführt werden:
1. auf das Würfelkapitell und die Aufteilung seiner Schildflächen,
2. auf das Flechtbandornament.
Würfelkapitelle mit geometrischen Schildaufteilungen begegnen uns bereits in sehr vielfältiger Ausbildung bei den Kapitellen der Stiftskirche zu Gandersheim, die dem Umbau der Kirche unter Äbtissin Adelheid II. (1063-1094) entstammen. Da die Ornamentik der Oberkirche im 19. Jh. eine durchgreifende Restaurierung erfuhr, müssen wir uns bei unseren Untersuchungen auf die unberührt gebliebenen Kapitelle der Krypta beschränken.

22) HOFFMANN: „Hirsau und die Hirsauer Bauschule“ S. 112.

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Die einfachste Ornamentierung bilden halbkreisförmig erhabene Schildrahmungen, die durch eine Mittelsenkrechte unterteilt sind (Abb. 95).

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Von den Kapitellecken laufen gleichfalls erhabene Grate zum Schaftring. Andere Kapitelle der Krypta sind durch mehrere vom Mittelpunkt des Schildhalbkreises ausgehende Radien bereichert, die abwechselnd bis zum Schaftring durchstoßen oder sich als Spiralen einrollen (Abb. 96).

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Es sieht aus, als waren die Kapitelle von einem Geflecht von Schnüren überzogen. Vielleicht geht diese eigenartige Ornamentierung auch auf ähnliche Vorstellungen des Steinmetzen zurück.
Das stark verkümmerte jonische Kapitell im Westbau der Gandersheimer Oberkirche macht diese Annahme noch wahrscheinlicher (Abb. 97).

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Die Voluten sind als spiralige Bandverflechtungen gedeutet.
Eine Bereicherung des Würfelkapitells kann auch dadurch erfolgen, daß mehrere Schilde als kleiner werdende Scheiben übereinander gefügt sind. Zwei der wieder verwendeten Kapitelle in der Hadmerslebener Unterkirche weisen diese Ornamentierungsart auf (Abb. 99).

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Eine Schildunterteilung durch Halbkreise wird erst durch Hirsauer Bauten in Mitteldeutschland eingebürgert. Im Langhaus der Klosterkirche zu Paulinzella werden Würfelkapitelle in außergewöhnlich schönen Proportionen verwendet, deren Schilde durch zwei kleinere aufgeteilt sind (Abb. 98).

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Die Schilde haben hier die Form flacher Scheiben  23).
In gleicher Weise, jedoch reicher, werden die beiden nordwestlichen Würfelkapitelle in Hamersleben verziert: die großen Schildflächen bestehen aus drei übereinander gelegten abgestuften Scheiben, auch die Schildaufteilungen (zwei Halbkreise an der Oberkante des Schildes) werden verdoppelt.
Bei den Kapitellen des Unterbaues der Nonnen-Westempore in der Klosterkirche zu Lippoldsberg (bei Göttingen) erhält in einigen Fällen gleichfalls der Kapitellschild seine Gliederung durch zwei kleinere Schilde (Abb. 101).

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Die Schilde werden hier nicht aus Scheiben gebildet, sondern durch erhabene Rahmen gekennzeichnet. Interessanter und wichtiger sind jedoch andere Motive, die an den Kapitellen des Unterbaues vorkommen: so die Lilie und ein streng stilisiertes Palmettenblatt (Abb. 102).

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Die Palmette mit einem sie umgebenden Band, das in den Schildecken in Voluten einläuft, ist auch sonst in Mitteldeutschland gebräuchlich und wird uns weiter unten noch zu beschäftigen haben. Die Lilie dagegen als Einzelmotiv auf Kapitellflächen steht im mitteldeutschen Raum einzig da. Erstaunlich an den Lippoldsberger Kapitellen ist es, in welch großzügiger Weise hier die einzelnen Flächen des Kapitells gegeneinander gesetzt werden: der breite obere Rand zu der etwas vertieften Schildfläche, davon sich abhebend die als flaches Band gebildete Schildrahmung. Alle Teile sind in nur sehr flachem Relief abgesetzt.
In Mitteldeutschland vermag ich nichts Vergleichbares diesem Raum gegenüberzustellen. In der Lombardei jedoch, in einer alten langobardischen Kirche zu Sesto al Reghena, sind die Säulenkapitelle der Krypta in sehr ähnlicher Weise ausgebildet; auch hier Würfelkapitelle, deren eingetiefte Schilde nur durch

23) In Übereinstimmung mit DEHIO (Handbuch) bin ich der Ansicht, daß das Langhaus von Paulinzella um 1160 errichtet wurde. Das Weihedatum 1124 bezieht sich wohl nur auf die Chorpartien. Vgl. hierzu G. STEIGER: „Sigebotonis Vita Paulinae“ und die Baugeschichte des Klosters Paulinzelle, Wiss. Zeitschr. d. Univers. Jena, Jg. 1952/53.

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das in der Mitte freistehende Lilienmotiv bereichert sind (Abb. 100).

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Wollten wir die Lippoldsberger Kapitelle von Reghena ableiten, so würde sich auch erklären, weswegen in Lippoldsberg noch ein breiter Streifen über den Schildflächen an den Kapitellen freigelassen wurde. Die Kapitelle in Reghena besitzen keine besonderen Kämpfer, daher sind ihre Deckplatten breiter ausgebildet.
Bei allen verführerischen Übereinstimmungen müssen wir doch mit allzu weitreichenden Schlußfolgerungen vorsichtig sein, da Sesto al Reghena 1912 gründlich renoviert und in den Sandsteinteilen überarbeitet wurde, so daß die Kirche an urkundlichem Wert natürlich stark eingebüßt hat. Sollten die Kapitelle in Reghena tatsachlich noch in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten sein (was sich nur am Original nachprüfen ließe), so würde dadurch eine weitere Beziehung zwischen Oberitalien und Niedersachsen im späten 12. Jh. erwiesen sein, und zwar in einer Motivik, die geradezu gegensätzlich zu Quedlinburg und Königslutter steht.
Die eigenartigen runden und rautenförmigen Eintiefungen in dem Deckbalken des Südeinganges zur Kirche in Lippoldsberg waren wohl ursprünglich mit Malereien oder Stuckdekorationen ausgefüllt.
Kapitelle mit halbkreisförmigen Schildaufteilungen und Eckstegen finden wir auch in der Küche (oder Caldarium) des Klosters Ilsenburg (Abb. 107).

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Dieser Raum ist gleichzeitig mit dem Kapitelsaal entstanden. Die Schildaufteilung ist hier jedoch nicht durch besondere Halbkreisscheiben oder durch erhöhte Rahmungen ausgeführt, sondern in ihren Umrissen eingetieft: eine negative Umkehrung des alten Motives.
In gleicher Weise sind die Würfelkapitelle in Hecklingen aufgeteilt (Abb. 104).

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Die Würfelkapitelle im Obergeschoß des erhaltenen Klosterbaues auf der Huysburg (bei Halberstadt) zeigen uns ein weiteres Fortschreiten in dieser Richtung (Abb. 105).

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Hier ist nicht nur die Schildrahmung in den Block eingetieft, sondern auch die Eckstege haben sich in Rillen verwandelt, die zum Schaftring herablaufen.
Im Refektorium des Klosters Michaelstein (bei Blankenburg/Harz) wechseln gleichschlanke Säulen und Pfeiler miteinander ab (Abb. 106 und 108-110).

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Zwei Pfeilerkapitelle sind als Schildwürfelkapitelle ausgebildet. Die Zwickel werden durch Palmettenranken eingenommen. An dem mittleren Säulenkapitell hat sich jedoch die Kapitellgrundform bereits zum Kelchblockkapitell gewandelt (Abb. 109).

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Dadurch kann natürlich ein großer Seitenschild nicht mehr untergebracht werden. Die Unterteilungsschilde, hier auf drei erhöht, werden durch am Schaftring zusammenlaufende Stege miteinander verbunden.

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Die Ecken nehmen breite Blätter ein, die aus dem Schaftring herauswachsen. Besonders wichtig an den Michaelsteiner Kapitellen sind die erhaltenen Farbreste. Kräftige Farben herrschen vor, so schwarz, grün und rot. Die Schildflächen werden durch die Malerei noch weiter schuppenmäßig in kleinere Schilde aufgeteilt.
Die Stege, die von den kleinen Schilden in Michaelstein (Abb. 109)

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zum Schaftring herabliefen, werden im Kreuzgang des Domes zu Hildesheim röhrenförmig abgerundet, so daß sie einander berühren. Durch diesen Prozeß entsteht das Pfeifenkapitell, die letzte Abart des romanischen, durch Schilde aufgeteilten Würfelkapitells. Pfeifenkapitelle finden wir in der mitteldeutschen Spätromanik sehr häufig, außer in Hildesheim auch noch in den Kreuzgängen der Marienkirche zu Helmstedt und des Domes zu Magdeburg und in der Neuwerkskirche in Goslar (Abb. 111).

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Zu den mit geometrischen Mustern verzierten Kapitellen müssen wir auch noch eine Art hinzurechnen, bei denen die Schildrahmungen in den oberen Schildecken in Voluten einschlagen und zwischen sich eine stilisierte Palmette enthalten. Ein Vertreter dieses Kapitelltyps ist das Kapitell, das aus der abgebrochenen Stiftskirche von Ballenstedt erhalten geblieben ist und jetzt in der sog. Albrechts-Krypta aufbewahrt wird (Abb. 112).

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Ähnliche Kapitelle befinden sich auch in der Stiftskirche zu Frose und dem Kreuzgang der Liebfrauenkirche zu Magdeburg (Abb. 113).

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Geometrische Muster, die vom Flechtband herzuleiten sind
An einem Eckmaskenkapitell im Langhaus der Quedlinburger Stiftskirche befindet sich auf der Mitte des Schildes ein symmetrisches Flechtbandmotiv (Abb. 18).

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Dieses Motiv ist, wie wir bei der Besprechung der Quedlinburger Ornamentik zeigten, von einem Fries-Flechtbandornament abzuleiten, das die Quedlinburger Steinmetzen aus Como übernommen hatten. Auch die kreuzförmige Unterteilung einiger Kapitellschilde in der Unterkirche zu Quedlinburg geht, wie die Ausbildung der Stege beweist, auf ein Flechtbandmotiv zurück (z. B. Abb. 14).

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Ein Muster von ineinander gesteckten Ringen ist am Kämpfer und der dazugehörigen Konsole am westlichen Schwibbogen der ehem. Klosterkirche in Bursfelde untergebracht (Abb. 114).

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An der Konsole wird ein Ring von diagonal verlaufenden Doppelbändern durchsteckt. Die Motive sind nur durch eine Wiederaufnahme alter Flechtbandmuster zu erklären. (Bursfelde dürfte kurz vor 1200 entstanden sein.)
Auch die Diamantbandmuster, wie wir sie im letzten Viertel des 12. Jh. sehr häufig antreffen (so in Hamersleben, Drübeck und als Diamantbogen-Ornament in Goslar Neuwerkskirche, Wimmelburg und an den Vierungspfeilervorlagen in Gandersheim), gehen auf Flechtbandmotive zurück. Es ist dies ein Beweis für das zähe Nachleben dieser frühesten Steinornamentik nachottonischer Zeit in Mitteldeutschland.
Wie wir gesehen haben, kann die geometrische (oder, nicht ganz so streng ausgedrückt: die anorganische) Ornamentik in Mitteldeutschland gegenüber der vegetabilen Ornamentik die Priorität beanspruchen. Die anorganische Ornamentik entwickelte sich aus einem einheimischen Formenschatz. Die vegetabilen Ornamente in Mitteldeutschland büßten dagegen nach ihrer Übernahme aus anderen Teilen Deutschlands oder des Auslandes stets zunehmend an Lebendigkeit ein.
Vielleicht haben wir in diesem Sachverhalt die Ursache zu sehen, daß in Mitteldeutschland die Hirsauer Bauschule eine so große Bedeutung gewinnen konnte. Die Forderungen der Hirsauer nach einfachen, strengen Baudetails kamen den eigenen Gewohnheiten der einheimischen Steinmetzen sehr entgegen. So finden wir auch die glücklichsten ornamentalen Lösungen an Kapitellen Mitteldeutschlands nur dort, wo es gelang, einheimische Gewohnheiten und Auffassungen mit der fremden Motivik zu verbinden und zu verschmelzen. Ein hervorragendes Beispiel hierfür sind die Kapitelle der Klosterkirche zu Hamersleben.

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Das korinthisierende Kapitell
Das Korinthische Kapitell wurde schon in der Spätantike als Grundtyp für mannigfache Umwandlungen gebraucht. In Byzanz und im koptischen Bereich entwickelte es sich zum Falten- und Korbkapitell.
Auch für das Mittelalter bildete das Korinthische Kapitell die Grundlage, aus der erst nach und nach eigene Schöpfungen erwuchsen. Zunächst begnügte man sich, die antiken Vorbilder eklektisch nachzuahmen oder man verwendete sogar einfachheitshalber importierte italienische Spolien. Diese Verfahrensweise ist charakteristisch für die karolingische Zeit und kann mit Beispielen am Dom zu Trier und an der Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen belegt werden  24). Die Ottonik, deren Kunstwollen die lebendige Bewegtheit des Akanthusblattes nicht entsprach, wandelte das Korinthische Kapitell zum Zungenblattkapitell um. Die feine Fiederung der einzelnen Blätter fällt vollkommen weg und nur die als Steg ausgebildete Mittelrippe erinnert noch an das alte Akanthusblatt. Bezeichnend für diese Entwicklungsstufe sind die Kapitelle der Justinuskirche zu Höchst und des Westwerks in Corvey. Eine solche Vereinfachung des Korinthischen Kapitells tritt in der Kunstentwicklung keineswegs zum ersten Mal im deutschen Mittelalter auf. Schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert begegnet uns das Zungenblatt an den Arkaden des Colosseums in Rom, gleichfalls an den Thermen des Agrippa. Auch in Spanien kommen bereits in merowingischer Zeit Zungenblattkapitelle vor  25).
Auch die ottonische Kunst Mitteldeutschlands verwendet gern Zungenblattkapitelle. Außer am alten Hildesheimer Dom begegnen sie uns in der Stiftskirche zu Gernrode (Abb. 115).

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Diese Abkürzungsform des Korinthischen Kapitells wird beinahe unverändert an romanischen Bauten Mitteldeutschlands weiter gebraucht. In der Gandersheimer Krypta erfahren die Zungenblätter eine ähnlich verschwommene, unbestimmte Ausbildung, wie wir dies von Gernrode her kennen (Abb. 116).

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Die Zungenblatt-Kämpfer und -Kapitelle im Langhaus der gleichen Kirche sind gestraffter und weisen eine schärfere Umrißzeichnung auf (Abb. 117).

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Möglicherweise wurde dieser Charakter den Kapitellen aber erst durch die Restauration im 19. Jh. aufgeprägt.
In der Klosterkirche zu Clus (Krs. Gandersheim), einem Bauwerk, das in Abhängigkeit von Gandersheim entstanden ist, sind Zungenblattkapitelle in qualitätvoller Ausführung erhalten (Abb. 119).

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Wie in der Gandersheimer Krypta staffeln sich zwei Blattreihen übereinander und

24) Vgl. Hans WEIGERT: Kapitellentwicklung. S. 2, 3.
25) Vgl. Hans WEIGERT, a. a. O. S. 12.

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tragen über sich eine geradseitige Deckplatte. Weder die Helices, noch der Abacus sind dem ursprünglichen Korinthischen Kapitell entsprechend geformt.
In Quedlinburg finden wir korinthisierende Kapitelle wieder in reicherer Ausbildung vor (Abb. 9-11).

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Schon das Zungenblattkapitell der Krypta trägt über den beiden Blattreihen einen Abacus. Dieses Kapitell ist nicht in der Entwicklungslinie Gernrode - Gandersheim unterzubringen, sondern geht offensichtlich auf ein Zungenblattkapitell zurück, das ähnlich wie die Kapitelle des Westwerks zu Corvey ausgebildet gewesen sein muß. Auch das Akanthusblatt-Wandkapitell in der Krypta ist nicht, wie es zunächst scheinen möchte, unmittelbar aus einem Korinthischen Kapitell hervorgegangen, sondern stellt die Bereicherung eines Zungenblattkapitells dar: in die steifen Zungenblätter wurde nur, ohne die Blattgrenzen zu berühren, eine feine Strichzeichnung eingekerbt (Abb. 11).

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Das in zwei Zonen aufgebaute Zungenblattkapitell der Oberkirche steht dagegen der niedersächsischen Tradition näher (Abb. 19).

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In der oberen Zone sind nur zwischen die einzelnen Zungenblätter schlanke Palmettenwedel eingefügt.
Unter den stark überarbeiteten Langhauskapitellen der Kirche auf der Huysburg befinden sich auch korinthisierende Kapitelle (Abb. 117).

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Gegenüber Quedlinburg zeigen diese eine größere Bewegtheit, jedoch auch einen kleinteiligeren Aufbau in den Einzelformen.
Um die Mitte des 12. Jh. wird das korinthisierende Kapitell in Mitteldeutschland fast vollständig durch das Palmettenkapitell verdrängt. Nur sehr selten ist es dann noch in verkümmerter Form anzutreffen. Eine solche Ausnahme bilden einige Kapitelle in den Klosterbauten zu Ilsenburg. Das entsprechende Kapitell im Refektorium dieses Klosters zeigt sehr breite, fächerförmig ausgebildete Blätter. Helices sind hier nicht vorhanden, die Deckplatte ist quadratisch (Abb. 120).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-120-Ilsenburg-Refrektorium-des-Klosters-H-Nickel-1953.jpg


Die Königslutterer Steinmetzen bringen eine neue Form des korinthisierenden Kapitells nach Mitteldeutschland, eine Kapitellform mit fleischigen und bewegten Blättern (Abb. 121).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-121-Koenigslutter-Kreuzgang-H-Nickel-1953.jpg

Auch hier sind die Blätter in zwei Reihen übereinander angeordnet, doch rollen sich die Eckblätter in der oberen Zone zueinander spiralförmig zusammen, so daß sie eigenartig an Helices erinnern.
In etwas vereinfachter Form werden diese Kapitelle am Domportal in Goslar (Abb. 122),

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-122-Goslar-Portal-des-Domes-H-Nickel-1953.jpg

im Obergeschoß der Doppelkapelle zu Landsberg (Abb. 41),

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-41-Landsberg-Doppelkapelle-H-Nickel-1953.jpg

in der Marienkapelle der Liebfrauenkirche zu Halberstadt (Abb. 123)

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und im alten Magdeburger Dom (das betreffende Kapitell ist im Nordflügel des Kreuzganges eingemauert)
übernommen. In der monumentalen Ausführung als Kapitell der Langhausarkaden neigt das Löffelblattkapitell leicht zu Wucherungen  26).

26) Zur Unterscheidung von normalen korinthisierenden Kapitellen nennen wir die wuchernden Kapitelle Königslutterer Prägung „Löffelblattkapitelle“, da bei ihnen die fleischigen Blätter häufig löffelartig gewölbt erscheinen.

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53 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

An einer Säule der Michaelskirche zu Hildesheim wird die Kapitelloberfläche durch kleine, bewegte Blätter geradezu aufgewühlt (Abb. 38).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-38-Michaelstein-Langhaus-von-St-Michael-H-Nickel-1953.jpg

Auch in Frose (N 1) wirkt das korinthisierende Kapitell durch die Vervielfachung der Akanthusblätter sehr unruhig (Abb. 125).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-125-Frose-Langhaus-H-Nickel-1953.jpg


Unabhängig von der Königslutterer Ausbildung des korinthisierenden Kapitells sind die Kapitelle in den Schallöffnungen der Westtürme der Stiftskirche zu Frose entstanden (Abb. 126).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-126-Frose-Turmarkaden-der-Stiftskirche-H-Nickel-1953.jpg

Diesen Kapitellen liegen wohl Formen zugrunde, wie wir sie an einem Kapitell im Kreuzgang der Magdeburger Liebfrauenkirche und der Galerie im Schloß Althaus zu Leitzkau vorgebildet finden (Abb. 124, 1, 2).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-124-Magdeburg-Kreuzgang-der-Liebfrauenkirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-1-Leitzkau-Arkadengang-am-Schloss-Althaus-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-2-Leitzkau-Arkadengang-am-Schloss-Althaus-H-Nickel-1953.jpg

Palmetten und Akanthusblätter verschmelzen an diesen Kapitellen zu einem Zwittergebilde. Obwohl das Relief des Ornamentes sehr flach gehalten ist, weist die Grundform der Kapitelle - ein Kelchblock - darauf hin, daß wir die Entstehung schon in das beginnende 13. Jh. zu setzen haben. Das Magdeburger Kapitell ist als Vorform für die beiden Leitzkauer anzusehen. Auf dieser Entwicklungslinie, jedoch schon unter Heranziehung französischen Formengutes, sind die Kapitelle am Nordportal der Wechselburger Schloßkirche entstanden (Abb. 127).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-127-Wechselburg-Nordportal-der-Klosterkirche-H-Nickel-1953.jpg



Figürliche Ornamentik
Gemessen an der Vielzahl würfelhafter und pflanzenornamentierter Kapitelle nehmen die Figurenkapitelle in der romanischen Baukunst Deutschlands einen kleinen Raum ein. Trotzdem sind sie hervorragend wichtig, weil sie neben ihrer formalen Vielgestaltigkeit uns in ikonographischer Hinsicht manche Aufschlüsse gestatten.
Auch die figurale Bauplastik erscheint im niedersächsischen Bereich zuerst im Formenkreis Quedlinburg: in der St. Ulrichskirche zu Sangerhausen, in Quedlinburg selbst, am Heiligen Grab der Stiftskirche zu Gernrode und (von Quedlinburg abhängig) in Kloster-Gröningen.
Die früheste Stufe stellt hier die Kämpferornamentik der Chorpfeiler in der Ulrichskirche zu Sangerhausen dar. (Der Baubeginn dieser Kirche ist laut einer erhaltenen Tympanon-Inschrift spätestens auf 1116 festzusetzen, s. hierzu auch Inventar Krs. Sangerhausen.) An den Kämpfern der Chorpfeiler erscheinen zwischen Flechtbändern, Weinranken und Blattsternmustern Löwen und Vögel (Abb. 128-131).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-128-Sangerhausen-Kaempfer-der-Chorpfeiler-in-der-Ulrichskirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-129-Sangerhausen-Kaempfer-der-Chorpfeiler-in-der-Ulrichskirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-130-Sangerhausen-Kaempfer-der-Chorpfeiler-in-der-Ulrichskirche-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-131-Sangerhausen-Kaempfer-der-Chorpfeiler-in-der-Ulrichskirche-H-Nickel-1953.jpg

Man merkt den Darstellungen noch sehr deutlich an, daß sie von lebendigen und bewegten Vorbildern

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54 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

herrühren. Besonders das Weinlaub ist sehr locker „naturalistisch“ behandelt. Für eine genetische Herkunft von Friesornamentik (und nicht von Kapitellornamentik) spricht, daß an keiner Stelle die Figurengruppen vollkommen symmetrisch aufgebaut wurden. So erscheinen an der Nordseite des südlichen Mittelpfeilers im Chor zwei Löwen heraldisch angeordnet, die zwischen sich einen menschlichen Kopf bedrohen (Abb. 130).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-130-Sangerhausen-Kaempfer-der-Chorpfeiler-in-der-Ulrichskirche-H-Nickel-1953.jpg

Der Schweif des einen Löwen ist über dem Rücken zurückgelegt, während der des anderen in üblicher Weise unter dem Hinterlauf hindurchgeführt wird. Auch die gegenständigen Vögel an der Westseite des gleichen Pfeilers unterscheiden sich voneinander durch ihre Kopfhaltung.
Die Lockerheit und Asymmetrie der Ornamente macht Sangerhausen vergleichbar mit dem Außenschmuck des Heiligen Grabes zu Gernrode (Abb. 132).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-132-Gernrode-Westwand-des-Heiligen-Grabes-H-Nickel-1953.jpg

Auch das Rankenmotiv der Außenrahmung an der Westseite des Heiligen Grabes hat seine Vorläufer im Löwenkämpfer der Ulrichskirche. Hier wie dort entspringen den von vorn gesehenen Gesichtsmasken Weinranken aus dem Munde. Der außergewöhnliche Reichtum an verschiedenen Tierdarstellungen ist in Gernrode zweifelsohne auf ein genau durchdachtes ikonographisches Programm zurückzuführen, wie weiter unten noch näher auszuführen sein wird. Zwischen den kreisförmigen Wellenranken gewahren wir neben Löwen und Adlern einen Hirsch, einen Greifen und verschiedenartige Vögel. In enger Verbindung mit dem symbolischen Tierfries (Westwand) erscheinen auch zwei Menschendarstellungen: Johannes der Täufer in Fellbekleidung und mit einem Kreuz, sowie gegenüberstehend Johannes der Evangelist, gekennzeichnet durch ein Buch. In primitiver Weise sind ihre Körper in Seitenansicht dargestellt, während die Köpfe en-face gedreht sind. Ähnlich verfuhr man übrigens auch bei den Tierdarstellungen, wo die Köpfe entweder gleichgerichtet mit den Körpern in Profilansicht stehen oder aber um 90° gedreht genau nach vorn blicken.
In Quedlinburg erreicht die Ornamentik nicht mehr die Leichtigkeit dieser Formen; vergleichbar sind höchstens noch die Friesrahmungen der südlichen Nebenapsis (Abb. 133).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-133-Quedlinburg-suedliche-Nebenapsis-der-Servatiuskirche-H-Nickel-1953.jpg

Auch hier finden wir wieder phantastische Vögel in Verbindung mit Weinlaubranken. Die Langhauskapitelle in Quedlinburg sowie die Simsfriese am Außenbau sind sicherlich später entstanden, als die eben besprochene Apsidenrahmung und die Kapitelle der Unterkirche (Abb. 134).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-134-Quedlinburg-Fries-am-noerdlichen-Seitenschiff-der-Servatiuskirche-H-Nickel-1953.jpg

Beides gehört zwar der gleichen Bauzeit (1070-1129) an, doch dürfte trotzdem ein zeitlicher Abstand von einem oder zwei Jahrzehnten bestehen. Sicherlich ist die spätere kraftvoll stilisierte Ornamentik von anderen Bauhandwerkern (Deutschen?) ausgeführt worden  27).
Sehr kompliziert und letztlich noch ungelöst ist die Frage der Herkunft dieser Ornamentik. Nächste Parallelen befinden sich nicht in Deutschland, sondern in Oberitalien. Beziehungen zu dem Rankenmotiv am Heiligen Grab fand WACKENRODER in einem Relief, das im Museum zu Como aufbewahrt wird (Anfang 12. Jh.) und an einer Elfenbeinplatte zu Ravenna  28). Für Quedlinburg finden sich die nächsten Parallelen bei St. Ambrogio in Mailand

27) H. BEENKEN: Das Heilige Grab zu Gernrode.
28) WACKENRODER: Das Heilige Grab zu Gernrode. Diss. Halle 1907.

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55 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

(Adlerkapitelle) und St. Abbondio in Como. Der Bau von St. Ambrogio in Mailand wurde jedoch nach FRANKEL, STIEL, GALL und HAMANN erst nach 1128 begonnen. Für den Chor von St. Abbondio in Como kann nach BEENKEN das Weihedatum von 1095 nicht gelten, „da die Kirche sich zu Mailand verhält wie die Quedlinburger Oberkirche zur Unterkirche“  27). Como dürfte also noch später als Mailand erbaut worden sein. Eine direkte Abhängigkeit der deutschen und italienischen Bauten voneinander ist also nicht nachzuweisen. Eine genaue Klärung dieser für die mitteldeutsche Romanik so wichtigen Frage steht noch aus. Es dürfte dies eine der brennendsten Aufgaben der Fachforschung in nächster Zeit sein.
Ist eine direkte Ableitung der Ornamentik des Quedlinburger Kreises bis dahin noch nicht möglich, so können wir doch die Herkunft ihrer Motive gut übersehen. Weinranken sind in Oberitalien schon in langobardischer Zeit recht verbreitet (z. B. zu finden an einer Reliefplatte im Königlichen Museum zu Trient - 2. H. 8. Jh. -, die aus Banale stammt) (Abb. 135).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-135-Trient-Koenigl-Museum-Reliefplatte-aus-Banale-H-Nickel-1953.jpg

Daneben werden auch häufig Tiere in kreisförmige Ranken eingeschlossen. Eine Reliefplatte mit in dieser Art untergebrachten Evangelisten-Symbolen - gleichfalls noch aus langobardischer Zeit - ist vom Callixtus-Baptisterium in Cividale erhalten (Abb. 136).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-136-Baptisterium-des-Domes-von-Cividale-H-Nickel-1953.jpg


Phantastische Vögel und Menschen, umflochten von aufgelösten Weinblattranken, befinden sich am Portalgewande der langobardischen Kirche S. Michele zu Pavia  29). Ursprung dieser Motivwelt ist selbstverständlich nicht Oberitalien, sondern der Orient. Sehr ausführlich hat die Wanderung der Tiermotive BERNHEIMER untersucht, auf den ich hier verweisen möchte  30).
Nur ein Beispiel sei erwähnt, das gerade zu dem Ornamentfries am Heiligen Grab in Gernrode große Ähnlichkeit aufweist.
An den reichgeschmückten Wänden des Palastbezirkes Mschatta  31) (wiederaufgebaut in der islamischen Abteilung der Staatlichen Berliner Museen) erscheinen in einem Geflecht von Weinranken Löwen, Sphingen und verschiedenartige Vögel (Abb. 137, 138).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-137-Berlin-Staatliche-Museen-Fassade-des-Schlosses-Mschatta-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-138-Berlin-Staatliche-Museen-Fassade-des-Schlosses-Mschatta-H-Nickel-1953.jpg

Auch kreisförmige Ranken treten in Verbindung mit diesen Darstellungen auf. Das Relief ist, obwohl der Hintergrund tief ausgehöhlt wurde, sehr flach, die Darstellungen auf eine rein zweidimensionale Wirkung berechnet. Alles dies erscheint unseren romanischen Beispielen vergleichbar  32).
Eine Sonderstellung unter den Figurenkapitellen nehmen die Kapitelle des Langhauses von St. Godehard in Hildesheim ein.
Neben Kapitellen mit betenden Mönchen an den Ecken, die zwischen sich Lebensbäume einschließen, an denen heraldisch angeordnete Tiere fressen, nehmen Kapitelle mit szenischen Darstellungen den Vorrang ein (Abb. 139).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-139-Hildesheim-St-Godehard-H-Nickel-1953.jpg

In vielfigurigen, beinahe vollplastischen Darstellungen werden Geschichten aus der Heiligen Schrift erzählt; so die Geburt Christi und sein Leidensweg bis zur Kreuzigung.
Szenische Darstellungen an Kapitellen sind sonst in Deutschland vollkommen ungebräuchlich. In Frankreich dagegen kommen sie haufig vor: so in Moissac, Toulouse und im burgundischen Cluny. Auch die Anlage des Bauwerks selbst mit seinem Chorumgang weist darauf hin,

29) Abb. bei Emerich SCHAFFRAN: „Die Kunst der Langobarden in Italien“, 1941, Tafel 20a.
30) BERNHEIMER: Romanische Tierplastik und die Ursprünge ihrer Motive. München 1931.
31) Die ornamentierte Vorderfront des Wüstenschlosses Mschatta (Transjordanien) ist nach der Ansicht der meisten deutschen Forscher (E. HERZFELD u. C. H. BECKER) in omaijadischer Zeit entstanden (8.-9. Jh.) und zählt demnach zu den hervorragendsten frühislamischen Denkmälern. Neuerdings wird diese Datierung wieder bezweifelt. Franz ALTHEIM (Asien und Rom, Tübingen 1952) setzt aus stilistischen Gründen und durch eine Identifizierung des figürlichen Grafittos an der Leibung eines Fassadeneinganges auf Bahram II. die Entstehung in dessen Regierungszeit (spätestens 293). Die Vogeldarstellungen in den Runden (Abb. 138) sind nach A. sassanidischen Ursprungs. Die neue Zeitansetzung wird wahrscheinlich durch Keramik-Funde, die A. M. SCHNEIDER in Mschatta gesammelt hat und die in das 4.-5. Jh. gehören sollen.
32) Diese äußere Verwandtschaft in der Steinbehandlung ist sicher nur zufällig. Die orientalischen Motive erreichten den Okzident durch Vermittlung der byzantinischen, koptischen und islamischen Kunst zumeist in Kleinkunstwerken.

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56 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

daß wir bei St. Godehard mit nahen Verbindungen zu Frankreich zu rechnen haben.
Gleichfalls auf französische Anregungen gehen die Kapitelle der Krypta zu Riechenberg zurück. Hauptsächlich die beiden reichverzierten östlichsten Säulen muten sehr „französisch“ an (Abb. 142, 143).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-142-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-N1-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-143-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-S1-H-Nickel-1953.jpg

An der nordöstlichen Säule werden die Seitenflächen von heraldisch angeordneten Drachen besetzt, die mit ihren Köpfen nach den Ecken hin gedreht sind. An den Ecken stehen menschliche Figuren, die den Drachen in die Rachen greifen. Das gegenüberstehende südöstliche Kapitell wird durch heraldische Löwen und Adler geschmückt.
Verwandt hierzu, wenn auch nicht vollständig übereinstimmend, erscheint uns ein Doppelkapitell in Lescar (Basses-Pyrénées) aus der ersten Hälfte des 12. Jh. (Abb. 140).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-140-Lescar-Basses-Pyrenees-H-Nickel-1953.jpg

Auch hier stehen Drachen- und Löwen-Darstellungen in Verbindung mit an den Ecken angeordneten menschlichen Figuren.
Die anderen Kapitelle der Riechenberger Krypta sind in flacherem Relief ausgeführt. Auch an diesem Beispiel scheint zuzutreffen, was wir schon mehrmals bei der niedersächsischen Ornamentik festgestellt haben: fremde Vorbilder werden der eigenen Tradition angeglichen, indem sie blockhafter zusammengefaßt werden.
Die Riechenberger Kapitelle sind in der Qualität den meisten umliegenden Bauten Niedersachsens weit überlegen. Eine beinahe raffiniert anmutende Eigenheit macht sie besonders reizvoll: die einander gegenüberliegenden Säulen der Nord- und Südarkade sind in feiner Weise aufeinander bezogen (Abb. 142-143, 144-145, 146-147).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-142-Riechenberg-Krypta-der-Klosterruine-N1-H-Nickel-1953.jpg

 

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Zunächst gleichen sich die Ornamentierungen der Schäfte an den gegenüberliegenden Säulen. Feine Differenzierungen kommen jedoch auch da schon vor. So bestehen die spiraligen Kannelierungen der Mittelsäulen einmal aus Kehlen, die mit scharfen Graten aneinander stoßen (Nordarkade) und zum anderen wechselnd aus Kehlen und Rundstäben (Südarkade). Das gleiche Prinzip wurde auch bei den geradläufigen Kanneluren der Westsäulen durchgeführt. An den Kapitellen des mittleren und westlichen Säulenpaares sind jeweils die gleichen Motive dargestellt. jedoch mit einer Wendung um 45°. So steht an den Mittelsäulen einem Kapitell mit einer Maske an der Schildfläche und seitlichen Palmetten eins gegenüber, das die Masken an den Ecken aufweist und den Palmettenschmuck auf die Schildflächen verschoben hat. Auch an den westlichen Kapitellen schließen Drachen einmal eine en-face- und einmal eine Eckmaske ein.
Die hoch entwickelte Kapitell-Ornamentik der Riechenberger Krypta hat keine unmittelbare Nachfolge gefunden. Erst nachdem durch die Königslutterer Ornamentik ein ähnlicher Motivschatz in die niedersächsische Bauornamentik Eingang gefunden hatte, wurden die Steinmetzen des benachbarten Goslar für diese Formen aufnahmefähig, So ist die Mittelsäule des Domeingangs an der Vorhalle in Goslar beinahe eine genaue Kopie Riechenberger Motive (Abb. 141).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-141-Goslar-Domvorhalle-H-Nickel-1953.jpg

Der Schaft mit seiner Rankenverzierung wurde von einer der beiden östlichen Säulen in Riechenberg entlehnt, während das Kapitell seine Entsprechung an der südwestlichen Säule hat. Als Bereicherung kam in Goslar lediglich die Verschlingung der Drachenhälse hinzu.
Wie fortgeschritten die Riechenberger Ornamentik für ihre Zeit war, kann man aus diesem

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57 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

Beispiel gut ersehen, da doch die Goslarer Domvorhalle schon zu Beginn des 13. Jh. entstanden ist. Die beiden Bauwerke trennt also ein zeitlicher Abstand von etwa einem halben Jahrhundert.
Im 6. oder 7. Jahrzehnt des 12. Jh. entsteht die reiche Bauplastik im Kreuzgang und am Außenchor der Stiftskirche zu Königslutter (Abb. 148-151).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-148-Koenigslutter-Mittelapsis-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-149-Koenigslutter-Mittelapsis-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-150-Koenigslutter-Mittelapsis-H-Nickel-1953.jpg

 

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-151-Koenigslutter-Mittelapsis-H-Nickel-1953.jpg

An der Außenwand der Hauptapsis wird der Bogenfries von plastisch stark hervortretenden Konsolen getragen, die als Männer-, Widder- oder Wolfsköpfe bzw. als heraldisch angeordnete Vogelpaare ausgebildet sind. Die Felder zwischen den Konsolen werden abwechselnd von Rosetten und von figürlichen Gruppen eingenommen. Dargestellt finden wir hier bewegte Jagdszenen: einmal wird ein Hase von einem Hund gehetzt; zwei Bogenfelder daneben kläfft ein anderer Hund. In einem anderen Bogenfeld sehen wir einen von der Jagd zurückkehrenden Jäger: einen Hasen hat er erlegt. Um ihn besser tragen zu können, hat er ihn mit den Hinterläufen an einen Stock gefesselt und diesen über die Schulter gelegt. Einem zweiten Jäger erging es übler. In einer humorigen Szene sehen wir, wie er von zwei Hasen mit einem Strick gebunden wird.
Die Figurenszenen weisen durchweg ein sehr hohes Relief auf, erscheinen zuweilen beinahe vollplastisch. Die einzelnen Figuren, Jäger oder Tiere, sind nirgends auf eine Standfläche bezogen, sondern erscheinen wie selbständig modelliert und nachher an der Mauer befestigt.
Im Kreuzgang begegnen wir an einigen Wandkapitellen heraldischen Figurengruppen: geflügelten Drachen, die mit ihren Schwänzen ineinander verschlungen sind (Abb. 152).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-152-Koenigslutter-Kreuzgang-der-Stiftskirche-H-Nickel-1953.jpg

Gegenüber den reichen vegetabilen Kapitellen der Freisäulen spielen diese Drachenkapitelle jedoch nur eine zweitrangige Rolle.
Den Konsolenköpfen an der Apsis sieht man es in der Großzügigkeit der Auffassung und Form deutlich an, daß sie in einer Tradition antiker Bauplastik entstanden sind (der Widderkopf mit den Ranken im Maul erinnert lebhaft an ähnliche Darstellungen an römischen Opferaltären oder an Friese antiker Tempel). Man kann unmöglich annehmen, daß sich im nördlichen Deutschland solche Formen selbständig hätten entwickeln können.
Auch die Figurengruppen in den Bogenfeldern (Genreszenen!) sind in Deutschland ungebräuchlich. Wie die Kapitelle des Kreuzganges sind auch sie oberitalienischen Bauten entlehnt. Als Vorbild dürften die Jagddarstellungen in den Feldern des Rundbogenfrieses am Dom von Verona gedient haben. Auch hier wechseln Felder, die mit Hunden bzw. Hirschen oder Hasen gefüllt sind, mit anderen ab, die in der Mitte nur eine Rosette aufweisen  33).
Die figurale Bauplastik Königslutters hat nicht wie die vegetabilen Kapitelle des gleichen Bauwerks eine unmittelbare Nachfolge gefunden. Erst um die Jahrhundertwende werden drachengeschmückte Kapitelle wieder häufiger verwendet. In verschiedenartigen Ausbildungen begegnen sie uns an der Galerie des Sängersaales der Wartburg. Unter den Resten der Klosterbauten auf dem Petersberg bei Halle ist auch noch ein Eckkapitell mit heraldisch angeordneten

33) Abb. bei E. KLUCKHOHN, a. a. O., Bild 28 u. 29.
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Drachen erhalten, das in der Ausbildung recht qualitätvoll ist (Abb. 153).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-153-Petersberg-bei-Halle-Klosterruine-H-Nickel-1953.jpg

Ein zum gleichen Portal dazugehöriges Kelchblockkapitel weist darauf hin, daß auch das erste wohl schon zu Beginn des 13. Jh. entstanden ist.
Das „Drachenkapitell“ an einer Säule des Unterbaues der Nonnenempore in der Hecklinger Kirche ist von jeder Seite jeweils nur mit einem Tier besetzt (Abb. 154).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-154-Hecklingen-Nonnenklosterkirche-H-Nickel-1953.jpg

Die recht harmlos aussehenden Drachen - Vögel mit Reh- oder Kalbsköpfen - sind geschickt in die Fläche des Kapitells eingegliedert: eine beachtliche Leistung eines Steinmetzen wohl im zweiten Jahrzehnt des 13. Jh.
Die Konsolenköpfe der Hauptapsis in Königslutter fanden ihre Nachfolge am Kaiserstuhl, der jetzt in der Domvorhalle in Goslar aufbewahrt wird (Abb. 155).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-155-Goslar-Kaiserstuhl-in-der-Domvorhalle-H-Nickel-1953.jpg

Die Masken erreichen hier nicht mehr die Großzügigkeit der Königslutterer Form, sondern werden mehr dekorativ spielerisch verwendet. Ein Kopf wurde in Beziehung zu der Bestimmung dieser Stuhlumrahmung mit einem Diadem bereichert  34).
Die indirekten Ausstrahlungen der Königslutterer Apsis-Kopfkonsolen als Maskenform sind jedoch weitläufiger, als es uns auf den ersten Blick erscheinen möchte. Bei vielen Bauten, die Bauornamentik Königslutterer Art (Palmettenfächerkapitelle und korinthisierende Kapitelle) übernehmen, finden wir auch in Verbindung mit anderen Ornamentmotiven Gesichtsmasken mitverwendet. Kleine Gesichtsmasken erscheinen z. B. an einigen Kapitellkämpfern der Michaelskirche in Hildesheim (Abb. 38).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-38-Michaelstein-Langhaus-von-St-Michael-H-Nickel-1953.jpg

Eine ähnliche Maske ist zwischen Palmetten an der Stirnseite eines Dienstkapitells am Außenchor der Neuwerkskirche zu Goslar untergebracht (Abb. 4).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-4-Goslar-Neuwerkskirche-H-Nickel-1953.jpg

Auch im Inneren dieser Kirche werden die Ausbuchtungen der Dienstpfeiler durch bärtige, zum Mittelschiff hin ausgerichtete Masken gekrönt (Abb. 5).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-5-Goslar-Neuwerkskirche-H-Nickel-1953.jpg


Alle erwähnten Beispiele (auch die Umrahmung des Kaiserstuhls) weisen en-face Masken auf. Ja man kann - cum grans salis - so weit gehen zu sagen, daß überall, wo en-face Masken auftreten, eine Verbindung zu Königslutter vorliegt.
En-face Masken an Kapitellen bilden, gemessen an der Vielzahl der Denkmäler, eine Ausnahme im 12. Jh. Bei Bauten, die in einheimischer Tradition entstanden sind, werden zumeist Gesichtsmasken an den Ecken des Kapitells untergebracht. Es ist dies die ursprünglichere, archaische Verwendungsweise.

Eckmasken
Die Unterbringung eines menschlichen Gesichtes oder eines Tierkopfes an der Ecke eines Kapitells bereitete den romanischen Steinmetzen

34) Zu den Figurenkapitellen in Hamersleben s. Anm. 18.

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59 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

offenbar die geringsten Schwierigkeiten, da es hierbei möglich war, das Gesicht in zwei unräumliche Flächen zu zerlegen und so jede Gesichtshälfte zeichnerisch für sich zu gestalten. Auch die frühe romanische Großplastik neigt bei Reliefdarstellungen von Menschen zu einer Profilstellung des Kopfes, auch wenn der Körper von vorn gesehen wird. Man denke z. B. an die frühesten menschlichen Großbilder des Mittelalters im Kreuzgang zu Moissac.
Auch bei den Figurenreliefs der meisten anderen frühen Kulturen kann man die gleiche Neigung In - die - Fläche - Drehen konstatieren. Dieses Phänomen ist so zu erklären, daß die Profilansicht des Kopfes eine Darstellung ohne wesentliche Verkürzungen gestattet. Das Auge wird hierbei meist in die Profilebene gedreht und erscheint mandelförmig.
In der Frühzeit romanischer Figurenornamentik setzt man nicht menschliche Gesichtsmasken, sondern Tiermasken in die Ecken des Kapitells: so an einem Kapitell der Quedlinburger Oberkirche (Abb. 20)

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-20-Quedlinburg-St-Servatius-Langhaus-H-Nickel-1953.jpg

und am Drachenkapitell der Unterkirche (Abb. 17).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-17-Quedlinburg-St-Servatius-Unterkirche-H-Nickel-1953.jpg

Menschliche Gestalten werden zumeist als Ganz- oder Dreiviertelfiguren in den Ecken des Kapitells untergebracht, hauptsächlich bei den sog. Mönchskapitellen, wie sie in Quedlinburg und in Hildesheim, St. Godehard auftreten. Der Raum zwischen den in den Ecken untergebrachten Mönchskörpern wird zumeist von einem Lebensbaum eingenommen. Aus diesem Kapitelltyp scheinen sich die im späten 12. Jh. so beliebten Eckmaskenkapitelle entwickelt zu haben. An einigen Kapitellen kann man Übergangsstufen dieser Entwicklung feststellen.
Zunächst wurde der Sinngehalt der Mönchskapitelle verändert. An den Eckkapitellen der Apsiden im Untergeschoß der Doppelkapelle zu Landsberg haben die Dreiviertelfiguren ihre Arme nach den Seitenflächen des Kapitells hin ausgebreitet. Jede Hand hält einen Palmettenwedel fest (der verwandelte Lebensbaum!) (Abb. 163).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-163-Landsberg-Doppelkapelle-H-Nickel-1953.jpg

Im Zugang zur Krypta der Stiftskirche zu Ballenstedt zeigt ein Wandkämpfer zwei Eckgesichtsmasken (Abb. 156).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-156-Ballenstedt-Zugang-zur-Albrechtskrypta-H-Nickel-1953.jpg

Unter den beinahe die ganze Höhe einnehmenden Masken sind noch deutlich der verkümmerte Rumpf und die palmettentragenden Arme zu erkennen. Am Südportal der Liebfrauenkirche zu Magdeburg steht schon die Gesichtsmaske an einem Eckkapitell für sich allein da, umgeben von Palmettenranken (Abb. 157).

tl_files/Fotos/Heinrich_L_Nickel/Abb-157-Magdeburg-zugemauertes-Suedportal-der-Liebfrauenkirche-H-Nickel-1953.jpg

Ähnliche Eckmasken in Verbindung mit Palmettenranken befinden sich auch an einem Pfeiler im Kreuzgang der Stiftskirche zu Gernrode.
Ein sehr schönes Eckmaskenkapitell weist das Langhaus der Nonnenklosterkirche zu Drübeck auf (Abb. 158).

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Hier sind die Eckmasken doppelbärtig dargestellt und mit einem kronenartigen
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Hut versehen. Die schön stilisierte Linienführung des Barthaares und der Ohren läßt die Maske organisch mit den Palmettenranken verwachsen.
Die klassische Ausbildung erfährt dieser Typ jedoch erst in Klostermansfeld (Abb. 159).

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Das Eckmaskenkapitell steht hier im Langhaus dieses Hirsauer Bauwerks als einziges ornamentiertes Kapitell einfachen lapidaren Würfelkapitellen gegenüber und vermag ihnen die Waage zu halten. In die Eckflächen des Kapitells, die das Gesicht bedeuten, sind als große Mandeln die Augen schräg eingetieft. Der Nasenansatz ist durch einen scharfen Einschnitt begrenzt. Das durch gerade Linie dargestellte zweizipflige Barthaar wird von einem Band umrahmt, das zugleich die Seiten der Maske begrenzt und als verbindende Form am Abacus entlang zur zweiten Eckmaske hinüberläuft. Den Raum zwischen den beiden Eckmasken auf dem Kapitellschild nimmt eine großzügige Fächerpalmette ein. Eine bessere Lösung in der Ornamentierung eines Kapitells ist für ein Hirsauer Bauwerk kaum vorstellbar!
In der Landsberger Doppelkapelle können wir an den Kapitellen eine Charakterisierung und Absetzung gleichgeordneter Figuren gegeneinander feststellen. So stehen männliche Eckfiguren weiblichen gegenüber, bärtige unbärtigen, solche mit reicher Kleidung anderen, die nur mit Mönchskutten ausgestattet sind (Abb. 160-164).

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Es sind dies erste Versuche einer individuellen Ausdeutung der Kapitellplastik und einer Bezugnahme auf das zeitgenössische Leben. Wahrscheinlich ging der Anstoß zu dieser Tendenz von der gleichzeitigen Grabmalplastik aus.
In Hecklingen werden an den Kämpfern der Vierungspfeiler Bischöfe und Heilige nebeneinander dargestellt. Die einzelnen ganzfigurigen Gestalten werden deutlich durch ihre Haltung, Kleidung und Insignien voneinander unterschieden.
In der nördlichen Nebenapsis der gleichen Kirche sind die Kämpfer mit Fischen und Drachen (zwischen Palmetten) geschmückt (Abb. 170).

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Der Schwanz des Drachen läuft in eine Palmette aus. Die Ostteile der Hecklinger Kirche wurden nahezu gleichzeitig mit der Landsberger Doppelkapelle erbaut, vielleicht sogar durch die gleichen Steinmetzen. Eng verwandt sind nicht nur die Figurendarstellungen, sondern auch Architektur-Details; so entsprechen die in Dreiviertelsäulen abgefasten Ecken der Nebenapsiden den Eckausbildungen der Pfeiler in Landsberg (Abb. 63).

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Fast vollkommen stimmt das Adlerkapitell einer solchen Eckabfasung an der nördlichen Nebenapsis in Hecklingen (Abb. 170)

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mit den Eckkapitellen an dem südöstlichen Pfeiler des Untergeschosses der Landsberger Doppelkapelle überein.
In den ersten Jahrzehnten des 13. Jh. entsteht auch in Mitteldeutschland eine selbständige figurale Großplastik. Die Steinskulpturen an Portalgewänden und Säulen übernehmen nun die Aufgaben, die die figurale Bauornamentik z. T. - man könnte sagen vorbereitend – für kurze Zeit erfüllt hatte. Die Bauornamentik verliert dadurch sinnmäßig an Bedeutung, sie wird „nur“ dekorativ.
So sind im Chorumgang des Magdeburger Doms die Figuren an den Kämpfern der Bündelpfeiler eng mit dem ornamentalen Pflanzenwerk verschlungen. Wichtig ist jetzt insbesondere die ornamentale Schmuckwirkung der Kämpfer, nicht mehr die Bedeutung der Einzelmotive. Auch auf eine Differenzierung der Kämpfermotive verschiedener Pfeiler voneinander wird kein Wert mehr gelegt. In der Gotik muß auch die Bauornamentik, wie jedes andere Baudetail, seinen Eigenwert aufgeben, um in das Gesamtbauwerk aufzugehen und zur Ensemblewirkung aller Teile beizutragen.

Sinn und Bedeutung der Figurenornamentik
Tierplastik, insbesondere Tierfigurenkapitelle, sind im 12. Jh. in ganz Europa verbreitet  35).

35) Wenn auch die romanische Tierornamentik über ganz Europa verbreitet ist, so schälen sich doch gerade in der Bauplastik zwei Schwerpunkte heraus; die Lombardei und Südwestfrankreich. Beide Gebiete liegen in den Berührungszonen „nordischer“ Bevölkerung und antikrömíscher Kultur. Die Lombardei besitzt in den Langobarden eine starke germanische Volksschicht, während für Südwestfrankreich das keltische Volkstum die Bevölkerungsgrundlage bildet.

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61 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

Es drückt sich hierin besonders stark die Einheitlichkeit der Baukunst in dieser frühen Zeit selbständiger abendländischer Kunstentwicklung aus.
Tierornamente und Tiersymbole wurden auch schon in der frühchristlichen Kunst verwendet, doch sind sie grundsätzlich anderer Art als diejenigen hochromanischer Zeit: nicht verworren und vieldeutig, sondern subtil in ihren Formen und eindeutig in ihrer Aussage. Unmißverständlich symbolisiert das Lamm mit dem Kreuz Christus, bedeuten Pfauen das ewige Leben. Die Symbole wurden in frühchristlicher Zeit als Vereinfachung einer möglichen bildlichen Darstellung verwendet, sie ersetzten umfangreiche Gruppen oder Zyklen durch allgemeinverständliche Kurzformeln.
Träger der romanischen Kunst sind die jungen nordeuropäischen Völker. In ihrer Kunst manifestiert sich eine verworrene, aber dafür kraftvollere und vitalere Auffassung von den Gegenständen und Vorgängen der Umwelt, als dies bei den spätantiken Menschen der frühchristlichen Kunst möglich war. Die Menschen des eben sich formenden abendländischen Kulturkreises benötigen stärkere und unmittelbarer sprechende Symbole.
Die romanische Kunst bezog ihre Tiermotive bezeichnenderweise von frühorientalischen Darstellungen her. Selten nur konnten die romanischen Künstler unmittelbar aus dem Motivvorrat des alten Orients schöpfen, meistens gelangten die Motive durch die Vermittlung der römischen und byzantinischen Kunst erst zu den mittelalterlichen Bauhütten. Erstaunlich ist nun, mit welch unfehlbarer Sicherheit die romanischen Steinmetzen aus dem großen Reichtum der antiken und byzantinischen Formenwelt gerade die Motive ausgesucht haben, die ihrerseits schon aus der altorientalischen Kunst entlehnt worden waren. Es kann im Rahmen dieser Arbeit nicht unsere Aufgabe sein, den Formenwandel und die Motivübernahmen der romanischen Kunst von ihren Ursprüngen her zu verfolgen. Wichtige und grundlegende Untersuchungen über diese Frage hat Richard BERNHEIMER in seinem Buch „Romanische Tierplastik“ angestellt. Über Beeinflussungen und Motivübernahmen in dem Bereich der frühmittelalterlichen (merowingischen) Kleinkunst hat neuerdings in einer Diplomarbeit am Kunstgeschichtlichen Institut der Universität Halle Peter FEIST Untersuchungen angestellt  36).
Durch welche Quellen wurde nun aber die Phantasie der romanischen Künstler angeregt?
Der mittelalterliche Mensch brachte dem Außergewöhnlichen und Phantastischen in der Natur ein starkes Interesse entgegen. Es spricht sich dies u. a. darin aus, daß im Mittelalter das verbreitetste Buch neben der Bibel der sog. Physiologus war, eine Sammlung von Tiergeschichten teils sagenhafter Art, teils auch auf Beobachtungen beruhend, die mit theologischen Kommentaren versehen sind. Bezeichnenderweise ist der Physiologus im Orient entstanden, höchstwahrscheinlich in Alexandria, dem wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Zentrum der spätantiken Welt.
In den Tierberichten des Physiologus wurden auch altorientalische Erfahrungen und Sagen mitverarbeitet. So geht z. B. die Phönixsage auf einen altägyptischen Stoff zurück und auch die Geschichte vom Wildesel und Affen ist altägyptischen Ursprungs und tritt uns bereits in dem hieroglyphischen Kalender im Papyrus Sallier entgegen  37).
Der (im Urtext wahrscheinlich griechische) Physiologus wurde bereits in den Jahrhunderten der Völkerwanderung in die wichtigsten orientalischen Sprachen übertragen; so in das Syrische, das Koptische, das Aethiopische und das Armenische. Im frühen Mittelalter fand er dann neben Arabien im christlichen Abendland eine starke Verbreitung. So gibt es Physiologushandschriften aus dem Mittelalter in griechischer, lateinischer, provencalischer, nordfranzösischer, mittelhochdeutscher, isländischer, angelsächsischer und altenglischer Ubersetzung.
Da nun von diesem Bestiarium Übersetzungen in den Volkssprachen schon so früh vorlagen,

36) Peter FEIST: Untersuchungen zur Bedeutung orientalischer Einflüsse für die Kunst des frühen Mittelalters. Wiss. Zeitschr. der Universität Halle, Jg. II, Heft 2, 1952/53, S. 27-79.
37) S. Fritz HOMMEL: Die aethiopische Übersetzung des Physiologus, Anm. 20.

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konnte es sehr unmittelbar auf die Laienbevölkerung einwirken. Die theologischen Ausdeutungen am Schluß eines jeden Berichtes sollten dem Leser zeigen, daß alle Erscheinungen der Natur nur eine Widerspiegelung Gottes und seiner Aussagen (des Evangeliums) darstellen. Zugleich waren wohl auch diese interessanten Tierberichte dazu bestimmt, in Predigten eingeflochten zu werden  38). In der klösterlichen Dichtung der Zeit finden die Physiologusberichte immer wieder in verschiedenartiger Form ihren Niederschlag. Ein Beispiel sei aus einem langen Gedicht über die „15 Zeichen vor dem jüngsten Tage“ angeführt (Münchner Handschr. cod. germ. 717, Pap., kl. 4°, Bl. 12a bis 15 a, in einer Niederschrift vom Jahre 1347). Das Gedicht ist wohl schon im 12. Jh. entstanden. Beschrieben werden die 15 Tage des Weltunterganges nach der Schrift des Heiligen Hieronymus. An jedem Tage bäumt sich ein anderes Element auf oder es verschwindet eine Gattung von Lebewesen, bis dann am 13. Tage die Toten auferstehen und am 15. Tage das Jüngste Gericht hereinbricht. Die Erzählung ist am besten einer umgekehrten Weltschöpfung zu vergleichen.
Am 6. Tage verschwinden nun alle Tiere von der Welt. In diesem Vers heißt es unter Zeile 8:
ain tier heizet vdes de b. . .  
An dem stat ein horn als ein sag. die hohen bam schleht es ab. als es in dem wald gat. die hohen bam es nider schleht. swenn es sich daz zv naiget. den wald es nider saiget. vnd es baidenthalben sin. all bam gemain si sien. goz oder klain. der es so vil gevellet hat. daz es denn nit gekommen mag. Das tier zaichen vns den man, der nit wol erwinden kan. der von kindesbain. sündet gar unrain. unz er wirt zu ainem man. daz er nit erwinden kan. so gewint er liht so herten mut. das er enrucht was er tut. So sünd der selb woleist. wider de hailigen goz gayst. der muss den sin verlorn. vnd dulden gotes zorn. Ain ander tier da vor gat. daz tugent vn beschedhet ha . . . Das ist ain edels Pantier. es treit an sinem gewer. die liehten siben varb. die der briester an hat. so er ob dem alter stat. daz bezaichnet in siner güt die briester und die ppheten  39).
Es wird also in diesem Vers (erste Zeile) das dämonische Tier, eine Antilope (die verderbte Stelle am Ende der ersten Zeile ist entsprechend dem Physiologus, Rede 36, mit Endrapos = Antilope zu ergänzen), die den bösen, der Sinnenlust ergebenen Menschen symbolisiert, dem Panther gegenübergestellt, dessen Pelz in den sieben Farben des Priestergewandes leuchtet, „und das uns somit den Priester und den Propheten in seiner Güte bezeichnet“.
Auch dieses Gedicht ist in seiner Wirkung auf Laien berechnet, da es nicht lateinisch, sondern mittelhochdeutsch verfaßt ist.
Für die Erklärung der Tierplastik im frühen Mittelalter werden zumeist bezügliche Stellen der Bibel verantwortlich gemacht. Dadurch gelangt man leicht zu der Meinung, daß die Tierdarstellungen durch die Kirchen gefördert worden wären. Ich glaube dagegen vielmehr, daß die monströsen Tierdarstellungen an Friesen und Kapitellen romanischer Bauwerke nicht wegen ihrer vermeintlichen Bezüglichkeit zur christlichen Heilslehre dort angebracht wurden, sondern daß diese Bedeutung ihnen zumeist als Rechtfertigung angehängt wurde; ähnlich wie die theologischen Kommentare den Tierberichten des Physiologus.
Die Kurie wandte sich häufig gegen die Verwendung tierischer Symbole. So wurde bestimmt, daß das Kreuzeslamm nicht mehr die Christusgestalt ersetzen sollte  40). Die frühmittelalterlichen Künstler haben sich an diese Bestimmung nicht gehalten. In der Zeit der reichsten Ausbildung und weitesten Verbreitung der Tierornamentik wendet sich Bernhard von Clairvaux energisch gegen die Darstellung der „lächerlichen Monstra“ in den Kirchen und Kreuzgängen. Um 1140 schreibt er, „wozu hier die unreinen Affen, Löwen, Kentauren, Halbmenschen, kämpfende Soldaten und blasende Jäger“. Diesem hochgebildeten Menschen der Romanik - einem der ersten Vertreter der Mystik - waren also symbolische Tierdarstellungen keineswegs eine Selbstverständlichkeit.
Man darf wohl zusammenfassend sagen, daß die Tierornamentik der romanischen Zeit nicht durch die Kirche entstanden ist, sondern trotz der Kirche bestanden hat.
Der Sinn der Tierornamentik in Frankreich und in Deutschland ist nicht ganz der gleiche. In Frankreich steht neben dem Tierkapitell von Anfang an das figurengeschmückte Kapitell, das ganz eindeutig bestimmte Bibelstellen illustrieren soll. Auch die Bedeutung der französischen Tierornamente ist eindeutiger erklärbar. Zum Teil wird an den Kapitellen durch Beschriftung genau auf den Sinn der Dargestellten verwiesen. In Deutschland ist mir eine solche Beschriftung nicht bekannt. Auch die einzelnen dargestellten Tiertypen sind schwer festzulegen; so bleibt es häufig unklar, ob es sich bei einer Tierfigur um einen Panther, Löwen oder Wolf handelt oder, als anderes Beispiel, um einen Drachen, Basilisken, Schlange oder irgendein Wasserungeheuer. Die deutschen Kleriker haben offenbar die Steinmetzen weniger genau bei der Arbeit überwacht als die französischen Geistlichen.

38) Lit. zum Physiologus: F. LAUCHERT: Geschichte des Physiologus Straßburg 1889. HOMMEL, Fritz: Die aethiopische Übersetzung des Physiologus. Leipzig 1877. The old English Physiologus. Text and prose translated by R. St. Cook. Newhaven, Yale University Pv. 1921.
39) Entnommen aus: MEYER-BENTEY, Mittelhochdeutsche Übungsstücke.
40) Synode quinisexta. Kanon 82, vgl. hierzu BERNHEIMER, S. 40.

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Die eben umrissene Verschiedenheit in der Bedeutung des figürlichen Ornaments in Deutschland und in Frankreich deutet auf einen wichtigen Unterschied der Kunstgesinnung beider Völker hin, der auch in den späteren Jahrhunderten ausgeprägt zutage tritt: Dem Franzosen erscheint es wichtig, daß der Sinn einer figürlichen Darstellung eindeutig festliegt und erkennbar ist, der Deutsche läßt Vieldeutigkeit gelten, ja erblickt in ihr einen besonderen Reiz. Dem Betrachter wird erlaubt, das Werk nach seinem Gutdünken auszulegen.
Nach dieser weitläufigen Übersicht wollen wir zur inhaltlichen Deutung einiger wichtiger mitteldeutscher Ornamentzyklen übergehen.
Gegenüber der sonstigen Gewohnheit der Romanik liegt der Ornamentik des Heiligen Grabes in Gernrode ein genauer ikonographischer Plan zugrunde (Abb. 132).

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Dies ist auch nicht verwunderlich, da bei der Ausführung eines so wichtigen Kircheneinbaues die Auftraggeber gewiß stark an der Arbeit der Steinmetzen Anteil nahmen. Neben den verschiedenen Tiersymbolen befinden sich an der Westwand des Heiligen Grabes auch zwei menschliche Gestalten, und zwar Johannes der Täufer, kenntlich an seinem Fellgewand, und Johannes der Evangelist, der mit einem Buche als Attribut versehen ist. In dem oberen Ornamentstreifen über der gerahmten Mittelfläche, in der jetzt die Stuckskulptur steht, ist in einem Kreis-Rankengeflecht in der Mitte das Kreuzeslamm als Symbol Christi dargestellt. Zu Seiten des Lammes befinden sich in Kreisranken eine Taube mit Nymbus und ein Adler, daneben zwei Löwen. Adler und Taube sind die Symbole der beiden Johannes. Die anderen Tiere sollen wohl im Sinne des Physiologus gedeutet werden. Die einzelnen Tiere bezeichnen die verschiedenen Eigenschaften Christi, so der Löwe die Weisheit und die Wiedererweckung durch Gott-Vater, der Pelikan die Nächstenliebe, der Reiher die Beständigkeit, die Krähe die Gattentreue und der Geier die Leiden, die durch den Glauben gelindert werden können. Auch der Hirsch ist ein Symbol für Christus, oder der Hingabe an Christus.
Nur viel ungenauer ist die Ornamentik der Stiftskirche zu Quedlinburg und der Ulrichskirche in Sangerhausen zu deuten, obwohl sie dem gleichen Formenkreis angehört: schon diese Tatsache ist ein bezeichnender Unterschied zum Heiligen Grab!
An den Friesen des Langhauses in Quedlinburg stehen, scheinbar beziehungslos, die einzelnen Tierdarstellungen nebeneinander (Abb. 134).

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Es ist verfehlt, in Quedlinburg eine bis ins Einzelne gehende Deutung zu versuchen.
Den Quedlinburger Steinmetzen wurde bei der Ausführung ihrer ornamentalen Arbeit an der Stiftskirche eine bedeutend größere Freizügigkeit gelassen, als dies bei dem Heiligen Grab in Gernrode der Fall war. Den meisten Motiven der Friese an den Mittelschiffwänden des Innen- und Außenbaues liegt wohl keine fest zu umreißende Bedeutung zugrunde. Sie wurden in erster Linie ihres ornamentalen Schmuckwertes wegen verwendet. Wera BLANKENBURG verweist auf ein ornamentales Motiv an der Westwand des Mittelschiffes. Hier beißen sich ringförmig verschlungene Schlangen selbst in den Schwanz. Eine solche Darstellung soll – auch schon in vorchristlicher Zeit als Schlangensymbol - das ewige Leben bedeuten. Eine solche Auslegung muß - und das ist charakteristisch - sowohl für Quedlinburg wie für die meisten Tierornamente in Mitteldeutschland letzten Endes hypothetisch bleiben, da der an sich schon wenig präzise Aussagewert des Motives noch durch die ornamentale Reihung, in der es auftritt, verunklärt wird.
Auch das Schlangenkapitell der Quedlinburger Unterkirche (Abb. 17)

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hat nur einen sehr allgemeinen Sinn: die Eckmaske, wohl ein Pantherkopf, soll Christus (oder das Gute) symbolisieren, der den Feind der Menschheit, die Sünde, in der Gestalt der Schlange, vertilgt.
Dieses Motiv kehrt in Mitteldeutschland auch in späterer Zeit häufig wieder. Es sei hier nur an Kloster-Gröningen (Abb. 23),

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Riechenberg (Abb. 147),

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Hamersleben und die Domvorhalle in Goslar (Abb. 141) erinnert.

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Die Kopfkonsolen an der Ostapsis der Königslutterer Stiftskirche könnten Ausdrucksträger eines urtümlichen Sonnenmythos sein (Abb. 148).

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Diese Deutung wird durch die Attribute der Köpfe nahegelegt. Der Stier trägt eine Rosette auf der Stirn, dem Widder wachsen an Blattstielen Doppelrosetten aus dem Maul (Abb. 151).

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Auch die beiden Adler, die jeweils Rosetten in den stark gebogenen Schnäbeln tragen, dürften dahingehend gedeutet werden (vgl. BLANKENBURG. S. 151).
Die zwischen den Konsolen angebrachten Jagddarstellungen und Tierbilder sind im Zusammenhang mit der im 12. Jh. sehr beliebten Tier- und Fabeldichtung zu sehen. Wahrscheinlich würde es einem Spezialisten auf dem Gebiete der mittelhochdeutschen Literatur nicht schwer fallen, die entsprechenden literarischen Belege hierfür zu liefern (s. auch w. u.). Die Jagddarstellungen in Königslutter sind formal vom Dom zu Modena abhängig. In Oberitalien sind im 12. Jh. auch Reliefs mit Fabeldarstellungen bekannt, so ist an einem Relief an der Fassade von S. Pietro in Spoleto ein Wolf in Mönchskleidung und mit einem Buch dargestellt, der versucht, ein Schaf zu verführen  41).
Einer ganz anderen Vorstellungswelt gehören die Kapitelle von St. Godehard in Hildesheim an (Abb. 139).

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In meist mehrfigurigen

41) Abb. bei F. KAYSER: Werdezeit der Abendländischen Kunst, Freiburg 1948.

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Szenen werden Geschichten aus dem Leben Christi erzählt. Die Ecken der Kapitelle nehmen Evangelisten ein, die wir leicht an den beigegebenen Büchern erkennen können (auf eine Beifügung ihrer Tiersymbole wurde verzichtet). In diesen Kapitellen spricht sich französisches Wesen aus: die Neigung zur Klarheit und Eindeutigkeit der Aussage. Die St. Godehardkirche ist in ihrem architektonischen Plan und in ihren Details von burgundischen Bauten abhängig. Die Figurenkapitelle von Cluny, die bereits vor 1100 entstanden sind, übten auf die romanische Baukunst von Burgund eine so starke Wirkung aus, daß sich im 12. Jh. die allgemein verbreitete Tierornamentik hier nicht durchsetzen konnte.
Tierkapitelle und Tierornamente werden zu Ende des 12. Jh. in zunehmendem Maße rein dekorativ verwendet. Besonders bezeichnend für diese Entwicklung sind die ornamentalen Details an den Profanbauten, Burgen und Kaiserpfalzen.
In den 80er Jahren des 12. Jh. bemerkt man bereits in der figuralen Bauplastik Mitteldeutschlands erste Bezüglichkeiten auf das zeitgenössische Leben. Das prägnanteste, bis dahin kaum beachtete Beispiel hierfür bieten die Figurenkapitelle der Doppelkapelle zu Landsberg.
Profane Inhalte konnten natürlich in einer Burgkapelle eher der Darstellung für würdig befunden werden, als in einem rein sakralen Bauwerk.
Bei der Betrachtung der Figuren-Eckkapitelle an den Apsidensäulen der Unterkapelle fällt uns eine bestimmte Ordnung der Darstellungen auf: in jeder Konche steht jeweils einer Figur in betender Haltung eine gegenüber, die in den ausgebreiteten Armen Palmetten trägt. Es liegt natürlich nahe, diese sechs geordneten Halbfiguren auch thematisch aufeinander zu beziehen (Abb. 160-163).

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Die die Mittelapsis rahmenden Säulen tragen Kapitelle mit weiblichen Figuren an den Ecken. An der Nordsäule der Apsis sehen wir eine Frau, die ihre Ellenbogen auf den Wulstring aufstützt und in den Händen Palmetten trägt. Ihr Haar, das über der Stirn von einem Band oder einem Diadem zusammengehalten wird, fällt über die Schultern herab. Das Gewand wird durch eine Kette am Halse zusammengerafft und fällt in weichen Falten nieder. Lange Ärmel umschließen die Arme. Ihr Gegenüber an der Südseite der Apsis erhebt die Arme über der Brust zum Gebet. Das Gewand, das hoch am Halse abschließt, liegt schlicht und faltenlos an. Die Arme ragen aus einem kuttenartigen Mantel hervor. Auch ihr Haar fällt auf die Schultern herab.
An den Nebenapsiden sind männliche Figuren dargestellt, kenntlich an dem halblangen Haar und dem gegürteten Gewand. Auch in den Seitennischen steht jeweils einem „Palmettenträger“ ein Betender gegenüber, wobei die Gewänder der „Palmettenträger“ mit Halskette und Gürtel bereichert sind, während die der Betenden mönchskuttenartig einfach den Körper umschließen. Am nördlichen Eckkapitell ist zu Seiten des Betenden in die Ranken der Palmetten ein Vogel, anscheinend eine Taube, eingefügt.
Wie sind nun diese drei Figurenpaare zu deuten? Sollte es sich bei den vier männlichen Figuren der Nebenapsiden um die lateinischen Kirchenväter handeln und somit der Betende mit der Taube der heilige Gregorius sein? Kaum wahrscheinlich! Bei den anderen Figuren fehlen jegliche darauf bezügliche Attribute. Der heilige Gregorius pflegt zudem im päpstlichen Ornat dargestellt zu werden. Oder handelt es sich um die vier Propheten Jesaja, Jeremia, Hesekiel, Daniel und bedeuten die beiden weiblichen Figuren eine Gegenüberstellung von Synagoge und Ecclesia? Jeder nähere Anhalt fehlt für eine solche Auslegung.
Eine andere Deutung ist viel naheliegender und einfacher. Eine Burgkapelle bedeutet als Bauwerk schon ein Symbol der Vereinigung der beiden mittelalterlichen Machtpole: Kirche und Feudaladel. An den Seitenpfosten des Nordportals der Landsberger Kapelle stehen sich ein Ritter und ein kirchlicher Würdenträger gegenüber. Die Hohenstaufenzeit liebte solche Vergleiche. In den Kaiserdomen Worms und Mainz werden dem sakralen Brennpunkt der Ostapsis Westchöre gegenübergestellt, sogenannte Kaiserchöre. Um die Mitte des 13. Jh. ist es dann schon möglich, daß im Naumburger Dom für die Standbilder der weltlichen Stifter gegenüber dem Altarraum ein besonderer Chor im Westen eingerichtet wird.
Zwischen der Burg Landsberg und kirchlichen Einrichtungen bestanden enge Beziehungen. Konrad von Meißen, der Vater von Dietrich (dem Erbauer der Kapelle) trat kurz vor seinem Tode in das Kloster auf dem Petersberge ein; eine Schwester Dietrichs war Äbtissin in Quedlinburg.
Mit großer Wahrscheinlichkeit können wir in den Figuren der Apsidenkapitelle die Gegenüberstellung von Vertretern des Rittertums und des Klosterlebens sehen. Ebenbürtig steht der Burgfrau die Nonne gegenüber, dem Bitter der Mönch: Klerus und Feudalherrscher, die Stützen der mittelalterlichen Welt.
Noch ein anderes Kapitell der Landsberger Unterkapelle ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse: das Kapitell der östlichen Freisäule in der Nordarkade (Abb. 164, 165).

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Zunächst ist hier merkwürdig, daß nur zwei Ecken des Kapitells, und zwar die dem Mittelschiff zugekehrten, mit Figuren ausgestattet sind, während die beiden anderen nur Palmettenschmuck tragen. Die südwestliche Ecke des

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65 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

Kapitells wird von einem Mann eingenommen, die südöstliche von einer Frau (die linke Seite ist im Mittelalter die Ehrenseite des Mannes und der Frau vorbehalten, vgl. Grabmäler und die Naumburger Stifter). Beide Figuren stützen sich mit ihren Händen auf den Wulstring. Der Mann hat halblanges Haar und einen wallenden Bart. Bei der Frau fällt das Haar über die Schultern herab. Ihr Gewand ist durch reiche Falten aufgelockert.
Um rein dekorativ gemeinte Karyatiden kann es sich nicht handeln, da hierbei die Beschränkung der Figuren auf zwei Ecken des Kapitells und ihre Typ-Charakterisierung unerklärlich wäre. Es fallen uns nämlich bei näherem Betrachten typisierende Merkmale auf: das reiche Gewand der Frau und der zweigeteilte Bart des Mannes. Die Frau befindet sich zur Linken des Mannes, wie wir es bei der Darstellung von Ehepaaren auf Tumben und von Stifter-Paaren im 12. und 13. Jh. gewohnt sind. Es erscheint also wahrscheinlich, daß an diesem Kapitell das Stifterpaar, der Bauherr der Kapelle, Dietrich III. und seine Gemahlin dargestellt sind.
Stifterbildnisse lebender Personen sind im 12. Jh. in der Bauplastik zwar ungewöhnlich, jedoch nicht unmöglich. In Regensburg an St. Emmeran findet sich ein Rundbild des Abtes Reginward (gest. 1064). An den Portalgewänden der Klosterkirche zu Andlau werden um die Mitte des 12. Jh. gleich eine ganze Reihe von Stifterpaaren angebracht. Am Domportal zu Freising sehen wir Friedrich Barbarossa neben Bischof Albert von Freising dargestellt.
Noch häufiger werden Stifter in den Tympana der Portale dargestellt, zumeist klein in die Ecke gedrängt. Zwei bekannte Beispiele seien hier genannt: die Galluspforte in Basel und das alte Südportal in Worms.
Bei allen angeführten Beispielen waren die Stifterbildnisse außerhalb des Kirchenraumes angebracht. Man scheute sich wohl noch, im Inneren der Dome und Klosterkirchen profane Figuren unterzubringen. Burgkapellen können hierin unkonventioneller sein. Bei ihnen spielte auch die Person des Bauherrn eine größere Rolle, als dies bei rein kirchlichen Bauten der Fall war.
In Hecklingen stammen noch aus der Erbauungszeit der Kirche, dem späten 12. Jh., die Stuckköpfe an den Mittelschiffwänden (Abb. 166).

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Ursprünglich waren die Köpfe wohl an den Langhauspfeilern angebracht und bildeten nur die obere Bekrönung gemalter Körper. Die Köpfe unterscheiden sich voneinander durch verschiedene Haartrachten und Diademe. Sicher waren mit ihnen die Vorstellungen von bestimmten Persönlichkeiten verbunden. Es ist aber wohl verfehlt, die Köpfe noch heute, wie es Werner SCHUBART  42) tat, genau mit den Namen von Kaisern und Grafen des 12. Jh. bestimmen zu wollen.
Auch die drei Figuren an dem Kämpfer des südlichen Vierungspfeilers stellen nicht irgendwelche Heilige dar, sondern geistliche Würdenträger des 12. Jh. (Abb. 168, 169).

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Daraufhin deutet nicht nur die Kleidung der Figuren (einer darunter ist Bischof), sondern auch die Tatsache, daß ihre Köpfe nicht mit Nymben umgeben sind. Man hätte ja wohl auch heilige Figuren nicht an einer so versteckten und schwer erkennbaren Stelle untergebracht. Eine der drei Personen steht mit ineinander gefaltenen Händen auf einem Fisch. SCHUBART versucht, davon ausgehend, die drei Figuren inhaltlich miteinander in Beziehung zu bringen und die Darstellung als eine Taufszene zu interpretieren. Der Mann auf dem Fisch stellt danach den Täufling dar, während der heilige Akt durch den Bischof vorgenommen wird, wobei ihm ein Diakon assistiert. Die Erklärung erscheint wahrscheinlich. Damit hätten wir in Hecklingen eine der frühesten romanischen erzählenden Figurengruppen Deutschlands vor uns.
Im beginnenden 13. Jh. sind Figurenkapitelle und Tierornamente entweder rein ornamental behandelt, oder wir finden auf ihnen figurale Szenen dargestellt, die leicht verständlich dem Betrachter ihre Bedeutung mitteilen. Symbolhafte Motive verschwinden fast vollständig aus den Kirchen.
Um das Ebengesagte mit Beispielen zu belegen, können wir in der gleichen Kirche verbleiben. Im Westteil der Hecklinger Kirche wurde wohl im 3. Jahrzehnt des 13. Jh. eine Nonnenempore eingezogen. Dem schönen Figurenkapitell an der Nordostecke des Unterbaues der Nonnenempore kommt irgendeine symbolische Bedeutung sicher nicht mehr zu (Abb. 154).

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Auch die Teufelsköpfe, die an einigen Stellen an den Basen der Säulen und Pfeilervorlagen die Eckblätter ersetzen, sind rein dekorativ gemeint. In dem Kapitell der Halbsäule am östlichen Mittelpfeiler ist unter Weinblattranken eine menschliche Gestalt verborgen (Abb. 167).

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Sie hält an einem Arm einen Korb und ist damit beschäftigt, Trauben zu pflücken. An der Westseite des gleichen Kapitells sitzt in den Ranken ein Vogel, der an den Weintrauben pickt. Diese Darstellung trägt offensichtlich nicht genrehaften Charakter, sondern bezieht sich wohl auf das Bibelwort „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ (Joh. 15, 5), oder auf die erzählende Ausmalung des gleichen Bildes vom Weinberg und Rebenlesen bei Jesaja 5, 1-10.
Im Kreuzgang des Magdeburger Domes begegnen uns vereinzelt neben vegetabilen Kapitellen

42) Werner SCHUBART: „Die Ornamente und Bildwerke der Hecklinger Klosterkirche aus dem Mittelalter. Bernburg 1935, S. 6 u. S. 111-120.

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66 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

auch Figurenkapitelle. Die Tierdarstellungen stehen hinter den Pflanzenornamenten sehr stark in der Qualität zurück. Schon dies ist ein Zeichen dafür, wie stark das Interesse an ornamentalen Figurendarstellungen im 13. Jh. nachgelassen hat.
Bei den inhaltlichen Deutungsversuchen der oben betrachteten Bauornamente war es nur am Beispiel des Heiligen Grabes zu Gernrode möglich, zu einem befriedigenden Ergebnis zu kommen, d. h. eine einleuchtende Erklärung des Dargestellten zu geben. An anderen Kapitell- und Friesfiguren (z. B. in Quedlinburg und Riechenberg) war nur ein sehr allgemeiner, präzis nicht zu fassender, symbolischer oder allegorischer Sinn zu erkennen. Die ikonographische Unklarheit vieler Kunstwerke (im 12. Jh.) ist für Deutschland bezeichnend und bildet einen charakteristischen Gegensatz zum romanischen (im doppelten Sinne des Wortes!) Frankreich, wo szenische Personengruppen und Tierdarstellungen an Kapitellen inhaltlich meist genau festzulegen sind.
Den deutschen Bildungen verwandter erscheinen Ornamente an lombardischen Bauten. Das ist nicht verwunderlich, da ja die mitteldeutsche Spätromantik einen großen Teil ihrer Ornamentmotive aus Oberitalien bezieht.
Im Königslutterer Bereich kommen zuerst in Mitteldeutschland an Fabeln und Tiergeschichten anklingende Darstellungen in der Bauplastik vor.
In den letzten zwei Jahrzehnten des 12. Jh., in den für die Ausbildung der figuralen Großplastik in Frankreich so wichtigen Jahrzehnten, wandelt sich das Gesicht der figuralen Bauornamentik in Mitteldeutschland auffällig. An Kämpfern und Kapitellen begegnen uns häufig erzählende Darstellungen. Sah die frühere Zeit in der symbolischen Andeutung des Gemeinten die einzig würdige Art der Versinnlichung, der künstlerischen Sichtbarmachung ethischer oder religiöser Thesen, so versucht man jetzt erste schüchterne Bezüge zum gegenwärtigen Leben herzustellen. Aus in erster Linie „bedeutenden“ Figurenverbindungen werden „darstellende“ Kompositionen. Damit berührt die Bauornamentik einen Aufgabenbereich, der später z. T. von der Tympanon- und Portalskulptur ausgefüllt wird.
Im beginnenden 13. Jh. hat dann die Bauornamentik endgültig ihren dämonisch-symbolisierenden Charakter verloren. Man könnte diesen Vorgang geradezu als ein „Harmloswerden“ bezeichnen. Ein schönes Beispiel für die Wesenswandlung, die sich vollzogen hat, bietet ein Wandkapitell im Ostchor des Naumburger Doms. Zwei Affen sitzen friedlich einander gegenüber und beschäftigen sich mit einem Brettspiel!

III. ZUSAMMENFASSUNG
Die beiden Gestaltungstendenzen in der Bauornamentik
Bevor die Kirchen zu Quedlinburg, Kloster-Gröningen, Sangerhausen und die Liebfrauenkirche zu Magdeburg entstehen, bevor also die erste Welle lombardischen Ornamentformengutes nach Mitteldeutschland vordringt, wird im niedersächsisch-thüringischen Bereich nur sehr geringer Wert auf die bauplastische Ausgestaltung der Architekturen gelegt.
Die romanische Basilika mit ausgeschiedener Vierung stellt den ersten, selbständigen Kirchentypus dar, der diesseits der Alpen entstanden ist. Wahrscheinlich hat diese neue Architektur die Baumeister so vollständig in Anspruch genommen, daß sie die plastische Ausgestaltung der struktiven Bauteile für überflüssig hielten. Erst gegen 1100, als der basilikale Gebäudekanon endgültig ausgeprägt war und auch die technischen Voraussetzungen des Bauens beherrscht wurden, begann man, sich wieder für ornamentalen Schmuck an den Kapitellen und Friesen zu interessieren.
Den Steinmetzen stand eine schwierige Aufgabe bevor, konnten sie doch nicht an eine lückenlose Tradition in dieser Kunstdisziplin anschließen. Welchen Ausweg sie wählten, können wir am besten an den Kapitellen der Stiftskirche zu Gandersheim sehen: man griff entweder auf ottonische Formen zurück, wie das beim Zungenblattkapitell und dem jonisierenden Kapitell geschah (dabei mußte man freilich von dem gewohnten Würfelkapitellblock als Grundform absehen, da sich ein Würfelkapitell nur schwer mit Zungenblatt-Ornamenten oder jonischen Voluten in Verbindung bringen läßt), oder man mußte sich damit begnügen, das Würfelkapitell einfach durch geometrische Linienmuster aufzuteilen und so zu beleben. Beide Lösungen sind kaum entwicklungsfähig (Abb. 95-97).

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Es ist daher gar nicht verwunderlich, daß man in Mitteldeutschland in den folgenden Jahrzehnten, als es galt, repräsentative Kirchen mit Bauornamentik zu versehen, mit großer Bereitschaft von außen kommende bauornamentale Motive aufgriff. Als geeignet empfand man die lombardischen Ornamentformen, Tier- und Menschenfiguren, Flechtbänder und Palmetten, da diese Muster im Gegensatz zum Zungenblatt sehr gut als Schildflächenschmuck der Kapitelle verwendet werden konnten.
Der Neubau der Servatiuskirche in Quedlinburg wurde so für Mitteldeutschland der Ausgangspunkt romanischer Bauornamentik. Schon hier begegnet uns eine eigenartige Erscheinung. Die Ornamentik der Oberkirche und die der Unterkirche sind, obwohl in ihrer Entstehungszeit nicht weit voneinander entfernt, in ihrem Charakter sehr verschieden (Abb. 171-172).

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67 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

In der Unterkirche wird nur an wenigen Kapitellen der Würfelblock als Grundform gewahrt (Abb. 9-17).

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Zumeist sind die Kapitelle durch ihre Blatt- oder Spiralverzierungen in der Form bestimmt. Die Steinmetzen scheuten auch nicht davor zurück, den Steinblock tief auszuhöhlen. Ganz anders die Kapitelle der Oberkirche. Die Umrißform ist hier stets gleichbleibend, zumindesten die Ränder und Rahmenflächen bleiben in ihrer Steinmasse erhalten (Abb. 18-20).

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Diese verschiedenartigen Tendenzen in der Ornamentik der Ober- und Unterkirche ist in Quedlinburg besonders verwunderlich, da wir es ja sonst von romanischen Bauten gewöhnt sind, daß eine einmal eingeschlagene Ornamentierungsweise in ihrem Charakter auch bei evtl. Unterbrechungen der Bautätigkeit erhalten bleibt.
Die Quedlinburger Stiftskirche wurde 1129 geweiht. Schon vor diesem Datum waren die Bauten Ulrichskirche in Sangerhausen und Liebfrauenkirche zu Magdeburg fertiggestellt. Unmittelbar im Anschluß an Quedlinburg dürfte Kloster-Gröningen entstanden sein. Danach setzt erst um die Mitte des 12. Jh. wieder eine stärkere Bautätigkeit ein. Die neue Bauornamentik weist kaum noch Beziehungen zu dem Quedlinburger Formenkreis auf. Es ist sehr schwer, diese Lücke in der Entwicklung auszufüllen.
Das Aussetzen der Bautätigkeit im zweiten Viertel des 12. J h. ist auf die politischen Ereignisse dieser Zeit zurückzuführen. Bereits 1106 begannen die Streitigkeiten zwischen den Askaniern und den Welfen. In der Zeit von 1123-40 verschärften sich die Kämpfe so weit, daß Albrecht der Bär fliehen und sein Land und seine Burgen Heinrich dem Löwen überlassen mußte.
Der bezeichnendste Kapitelltyp für die Mitte des 12. Jh. ist das Palmettenwürfelkapitell. Kapitellgrundform ist der Würfelblock. Die Dekoration verdankt ihre Entstehung der Erinnerung an das korinthisierende Kapitell, die Einzelformen des Palmettenornaments wurden von früheren Buchmalereien und Elfenbeinschnitzereien übernommen. Das Palmettenmotiv wird ja in der Kleinkunst des frühen Mittelalters häufig verwendet. In der Bauornamentik sahen wir schon in Quedlinburg Ansätze zur Palmette, jedoch nur in Verbindung mit dem lombardischen Flechtband.
Die Kämpfer der Vierungspfeiler in Hamersleben (1. H. 12. Jh.) (Abb. 50),

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die Wandkapitelle der Riechenberger Krypta (Abb. 59)

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und die Kapitelle im Refektorium des Klosters Ilsenburg (Abb. 56)

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zeigen uns eine noch verhältnismäßig schlichte und frühe Entwicklungsstufe des Palmettenornamentes. Voll ausgebildet tritt uns das Palmettenwürfelkapitell im Mittelteil der Naumburger Domkrypta entgegen (Abb. 62).

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Auch im Kreuzgang zu Königslutter behauptet sich das Palmettenwürfelkapitell als einheimischer Typ neben den aus Italien importierten Formen: dem Palmettenfächerkapitell und dem korinthisierenden Kapitell. Die beiden zuletzt angeführten Bauten sind aller Wahrscheinlichkeit nach im siebenten Jahrzehnt des 12. Jh. errichtet worden.
Wie nahe verwandt das Palmettenwürfelkapitell in seinem Grundcharakter den Königslutterer Kapitellen ist, sehen wir daran, daß es in der Nachfolge häufig in Verbindung mit diesen Kapitelltypen auftritt. Von den beiden Säulen im Kapitelsaal des Klosters Michaelstein trägt die eine ein Palmettenfächerkapitell und die andere ein Palmettenwürfelkapitell (Abb. 36, 75).

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In der Landsberger Doppelkapelle besitzen die beiden östlichen Säulen des Obergeschosses Kapitelle Königslutterer Art, das eine dem korinthisierenden Typ angehörend, das andere eine Verbindung zwischen Palmettenfächerkapitell und korinthisierendem Kapitell darstellend (Abb. 41, 42);

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die anderen Kapitelle der Doppelkapelle sind durchweg mit Flachpalmetten geschmückt (Abb. 64-66).

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Auch am Domportal in Goslar, das schon in seinem Aufbau nahe Beziehungen zum Königslutterer Löwenportal aufweist, und in den Ostteilen der Hecklinger Kirche - hier finden wir am Nordportal Königslutterer Kapitelle - sind ebenfalls Flachpalmetten verwendet worden. Alle oben aufgeführten Bauteile entstanden in der angegebenen Reihenfolge zwischen 1170 und 1185. Im neunten Jahrzehnt des 12. Jh. entstehen die Langhausarkaden der Hamerslebener Kirche. Auch hier bedient sich der Steinmetz sehr belebter Palmetten, allerdings in etwas veränderter Form: als Stiel- oder Rankenpalmetten. Auch die Stuckkapitelle in Drübeck, die wohl im Anschluß an die Einwölbung des Langhauses und die Erbauung der Westtürme angebracht wurden, sind mit lockeren Rankenpalmetten verziert (Abb. 86).

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Diese Kapitelle dürften etwa um die Jahrhundertwende entstanden sein. Noch stärker mit Leben durchpulst ist ein Palmettenkapitell, das im Lapidarium der Kirche auf dem Petersberg bei Halle aufbewahrt wird (Abb. 85).

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Dieses Kelchblockkapitell gehört wohl schon in das dritte Jahrzehnt des 13. Jh.
Doch nicht nur die lebendig bewegte Flachpalmette läßt sich in einer kontinuierlichen Reihe von der Mitte des 12. Jh. bis zum Ende der Romanik verfolgen, sondern auch andere expansive Ornamentformen sind ohne Unterbrechung in der 2. H. des 12. Jh. in Mitteldeutschland verwendet worden. Man denke nur an die Beliebtheit des plastisch ausladenden Palmettenfächerkapitells oder an das Figurenkapitell, das von der Godehardskirche in Hildesheim, Riechenberg, Königslutter, dem Goslarer Kreis über Hamersleben bis zum Nonnenemporen-Unterbau der Hecklinger Kirche zu verfolgen ist.

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68 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

Mit allen oben angeführten Beispielen will ich das zeitlich ununterbrochene Streben zu expansiven Formen der mitteldeutschen Ornamentik, angefangen von Quedlinburg bis zu den Kämpfern des Magdeburger Dom-Chorumganges, nachweisen. Diese „belebenden“ Bestrebungen werden uns überall deutlich. Sie konnten jedoch nur selten mit eigenen Formerfindungen befriedigt werden. Quedlinburg bezog seine ornamentalen Motive aus der Lombardei, Riechenberg (wahrscheinlich) aus Südwestfrankreich und Königslutter wiederum von Oberitalien. Lediglich das Palmettenwürfelkapitell vermochte in gemäßigter Weise sich diesen Bestrebungen anzuschließen.
Dies ist jedoch nur eine Ausdrucksmöglichkeit der romanischen Bauornamentik in Mitteldeutschland. Die andere Seite, das sind die diszipliniert aufgebauten und nur mit strengen und zurückhaltenden Ornamenten versehenen Kapitelle.
Zu dieser Gruppe gehören zweifellos auch schon die mit Linienmustern bedeckten Kapitelle der Krypta und des Langhauses der Stiftskirche zu Gandersheim (Abb. 95, 96).

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Dieses Bauwerk ist noch zu Ende des 11. Jh. entstanden. In der Liebfrauenkirche zu Magdeburg ragen noch zwei Kapitelle des früheren Baues aus der spätromanischen Pfeilerummantlung heraus. Auf die Schildflächen der Würfel sind hier schlichte Flechtbandmuster aufgelegt. Auch an der Quedlinburger Stiftskirche haben wir an einigen Kapitellen die Tendenz zu straffer Gliederung erkennen können. Im Langhaus der Hirsauer Kirche zu Paulinzella (entstanden um 1160 nach DEHIO) wird eine künstlerische Wirkung der Kapitelle nicht durch ornamentalen Zierrat erreicht, sondern durch ausgewogene Proportionen und zarte Reliefabstufungen der Schildaufteilung (Abb. 98).

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Mit beinahe raffiniert anmutender Berechnung sind die großen Kapitellschilde in ihrer Oberfläche aufgerauht, damit sich die zwei kleinen Unterteilungsschilde besser von ihnen abheben. Die Zwickelflächen zwischen den Kapitellschilden werden an einigen Stellen von zarten Palmetten ausgefüllt. Auch bei den später entstandenen Säulenkapitellen des Westportals wird figürlicher Schmuck (Masken) nur sehr zurückhaltend verwendet.
Die vorhin erwähnten flachen Zwickelpalmetten begegnen uns wieder am Paradies der Kirche zu Talbürgel, einem von Paulinzella abhängigen Bauwerk.
Das Maskenkapitell in der Klostermansfelder Kirche stellt eine hervorragende Leistung dieses Zweiges der spätromanischen Bauplastik dar (Abb. 159).

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Charakteristisch, daß dieses Kapitell das einzige ornamentierte Kapitell der Kirche ist!
Auch das einzig erhaltene Langhaus-Kapitell der Stiftskirche zu Ballenstedt verrät mit seiner auf die Schildmitte gesetzten Palmette deutlich, daß es bewußt in so strenger und disziplinierter Weise angefertigt wurde (Abb. 112).

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In dem Kreuzgang der Magdeburger Liebfrauenkirche haben wir einen Gebäudekomplex vor uns, bei dem aus jeder Einzelform das Streben nach Strenge spricht (Abb. 113).

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Die bewußte Einfachheit der Formen hat dazu geführt, daß man die Ornamentik des Kreuzganges als archaisierend bezeichnet hat (WEIGERT). Die Nasenkämpfer über den Kapitellen erscheinen geradezu wie aus ottonischen Bauwerken übernommen. WEIGERT verweist hierbei auf die Kapitelle in den Arkaden der Nonnenemporen der Gernroder Stiftskirche. Ich glaube jedoch, daß diese Nasenkämpfer hier aus technischen Erwägungen angebracht wurden. Nur mit ihrer Hilfe ist es möglich, die Bogen einer dicken Mauer auf dem kleinen Kapitell eines Säulchens fußen zu lassen. Zweifellos fügen sich die Nasenkämpfer auch in ästhetischer Hinsicht sehr gut in den Bauzusammenhang mit den streng ornamentierten Kapitellen ein. Diese Nasenkämpfer begegnen uns außer in Magdeburg auch im Kreuzgang des Hildesheimer Domes und im Kreuzgang der Halberstädter Liebfrauenkirche. In den Schallöffnungen romanischer Türme finden sie häufig Verwendung.
Im Bibliotheksgebäude des Klosters Huysburg ist nur ein Kapitell mit bewegten Blättern ausgestattet: ein der Königslutterer Schule angehörendes korinthisierendes Kapitell (Abb. 173).

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Die anderen Kapitelle sind Würfelkapitelle mit reichen, aber sehr zurückhaltend und nur in flachen Reliefstufen abgesetzten Schildaufteilungen. Ein Kapitell gehört dem jonischen Typus an (Abb. 174).

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Hierbei hätte doch nahe gelegen, die Voluten zu plastischen Eigengebilden herauszuarbeiten. Nichts dergleichen ist geschehen: der Kapitellkörper ist zu einem Kesselgebilde verschmolzen, die kleinen Voluten schließen sich eng an die Deckplatte an  43)
Im Refektorium des Klosters Michaelstein wechseln in den Mittelstützen Säulen und schlanke Viereckpfeiler miteinander ab (Abb. 108 bis 110).

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Die zum Teil vegetabile Ornamentik der Kapitelle ist durch ein strenges Liniengerüst, das die Seitenflächen überzieht, fest verankert und kann sich nicht zu selbständigem Leben entfalten. Bezeichnend ist es auch, daß einige Säulen durch Pfeiler ersetzt wurden (was in technischer Hinsicht vollkommen unbegründet ist). Man möchte annehmen, daß dem Baumeister die weniger sinnliche und mathematisch leichter faßbare Form des Viereckpfeilers mehr zusagte als das Rund eines Säulenschaftes.

43) Dieses Kapitell zeigt enge Verwandtschaft zu einem Kapitell, das aus der Quedlinburger Servatiuskirche stammt und jetzt im Schloßmuseum aufbewahrt wird (Abb. bei ZELLER; Kirchenbauten Heinrichs I. . . .) In der Ornamentik um 1200 ist das Zurückgreifen auf frühromanische Formen wiederholt nachzuweisen, z. B. in Hamersleben.

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69 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

In diesem Zusammenhang ist noch bedenkenswert, daß die meisten romanischen Kirchen des spätesten 12. Jh. nicht als Säulenbasilíken oder im Stützenwechsel erbaut wurden, sondern als reine Pfeilerbasiliken.
Auch das reine, vollkommen ungeschmückte Würfelkapitell wird an Bauten das ganze 12. Jh. über verwendet, und keineswegs nur an qualitätlosen provinziellen Bauten.
Zwei Wesensseiten bestimmen also die Bauornamentik des 12. Jh. in Niedersachsen. Nur selten wird an Bauwerken eine der beiden Richtungen vollkommen rein eingehalten. Die meisten Kirchen entstehen in dem Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden extremen Polen. Ist es berechtigt, aus dieser Erkenntnis bevölkerungspsychologische Schlüsse zu ziehen? Zweifelsohne spiegelt sich in dem Dualismus der Kunstauffassung eine Unheitlichkeit im Denken der Menschen wider. Dem Streben zur lebendigen Natürlichkeit, zur Ungebundenheit und damit der Versuch, den Stein als Baumaterial nicht in Erscheinung treten zu lassen, steht eine Gesinnung gegenüber, die strengste Rationalität erstrebt, den Steinkubus als Grundelement allen Bauens betrachtet und in der Ornamentik bemüht ist, den Eindruck des kristallinischen Steinmaterials nicht zu verwischen.
Beide Tendenzen stehen sich in der Romanik ebenbürtig gegenüber und haben Werke gleicher Qualität hervorgebracht. Es ist zwar naheliegend, aber nicht voll zutreffend, die rationalistische Richtung der romanischen Bauornamentik mit der Hirsauer Bauschule in Verbindung zu bringen. Richtig ist zwar, daß die meisten Bauten, die wir oben angeführt haben, der Hirsauer Kongregation angehörten oder ihr nahestanden. Das Beispiel Gandersheim beweist jedoch, daß in Niedersachsen auch schon vor dem Auftreten der Hirsauer Schule Bestrebungen dieser Art vorhanden waren. Es ist also nicht so, daß die strenge Richtung der Bauornamentik durch die Hirsauer nach Mitteldeutschland eingeführt worden ist, sondern daß umgekehrt die bereits vorhandene Bereitschaft für diese Tendenzen es mit sich brachte, daß die Hirsauer Bewegung in Niedersachsen eine so starke Bedeutung gewinnen konnte.
Ein anderer Gedanke drängt sich uns nun bei diesen Uberlegungen noch auf. Ist es nicht ein Wesenszug deutscher Baukunst überhaupt, daß jeweils einer zum Reichtum neigenden Richtung eine andere gegenübertritt, die in bewußter Weise eine Kargheit der Bauelemente anstrebt? Gleichzeitig mit den prächtigen Domen der Gotik entstehen die Kirchen der Bettelorden. Die prahlerischen Renaissance-Schlösser des südlichen Deutschland finden ihren Gegenpol in den norddeutschen Bauten der gleichen Zeit. Und wie verschieden sind erst die katholischen bayerischen Kirchen des Barock und die gleichzeitigen Kirchenbauten des protestantischen Nordens.
Nun läßt sich diese Polarität der Kunstübung auch schon in einem Gebiet Deutschlands im 12. Jh. nachweisen. Ein eigenartiger Charakterzug deutscher Kunst wird dadurch beleuchtet!
Von den heutigen politischen Staatsgrenzen ausgehend, neigt man leicht dazu, auch schon im frühen Mittelalter nationale Stile in der Kunst erkennen zu wollen. Erst im 12. Jh. entwickeln sich in Europa regionale Besonderheiten, doch sind die Unterschiede mehr als Dialekte, denn als gesonderte Sprachen aufzufassen. Der kulturelle Austausch unter den Völkern wird noch durch keine Grenzen beengt. Das Bauhüttenwesen, eine Errungenschaft des späten 11. Jh., entwickelt sich zunächst international: lombardische Bauhandwerker sind in Österreich genau so wie im Rheinland, am Kirchenbau von Klosterrath, ja sogar in Lund in Schweden, nachzuweisen. Auch in Regensburg und in Königslutter waren aus Italien zugewanderte Steinmetzen tätig. Auf normannische Bauhandwerker sind wohl die eigenartigen Zick-Zack-Friese an der Klosterkirche zu Lehnin (Brandenburg) zurückzuführen.
Niedersachsen befindet sich im 12. Jh. am Überschneidungspunkt der verschiedenen von Süden und Westen einbrechenden Strömungen. Die außergewöhnlich reiche und vielgestaltige Bauornamentik seiner Klöster und Kirchen ist ein beredtes Zeugnis für die Fruchtbarkeit dieser künstlerischen Berührung.

EXKURS
Beziehungen zwischen der Dichtung und Bauornamentik spätrömischer Zeit
Im folgenden soll versucht werden, zu der Entwicklung der bildenden Kunst im 12. Jh. (insbesondere der Bauornamentik) Parallelen in der gleichzeitigen Literatur aufzufinden.
Alle Zweige der Kunst spiegeln in ihren Veränderungen doch nur Entwicklungsstadien gesellschaftlicher, geistiger und religiöser Art einer Volksgruppe zu einer gewissen Zeit wider. Folglich müssen Entwicklungseinschnitte der bildenden Kunst, da sie ja nicht aus sich selbst zu erklären sind, sondern nur eine Folgeerscheinung darstellen, auch in anderen Kunstzweigen, z. B. der Dichtung, wiederzufinden sein. Gelingt es, solche Parallelerscheinungen auf verschiedenen Kunstgebieten einer Zeit nachzuweisen, so ist damit die Richtigkeit der angenommenen Entwicklung bestätigt.
Ich bin mir selbstverständlich bewußt, daß ein solcher Vergleich zwischen verschiedenen Kunstgattungen nicht allzu pedantisch durchgeführt werden darf. Wir wissen schon aus dem Bereich der bildenden Kunst selbst, daß die einzelnen Gattungen: Malerei, Plastik, Architektur in einzelnen Zeitabschnitten sich nicht

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immer genau auf der gleichen Stilstufe befinden. So ist z. B. im 11. Jh. die Architektur der Plastik weit voraus. Die Stuckskulpturen am Heiligen Grab zu Gernrode, die ja schon in das beginnende 12. Jh. gehören, werden üblicherweise als ottonisch bezeichnet, während die gleichzeitige romanische Architektur bereits in ihr Spätstadium überzugehen beginnt.
Das eben angeführte Beispiel ist natürlich eines der krassesten, doch lehrt es uns, Vorsicht zu üben!
Doch nicht nur um die Einheitlichkeit der Stilentwicklung zu beweisen ist es interessant, die Bauplastik und Literatur der Romanik miteinander zu vergleichen! Wie wir bei der Betrachtung der Figurenornamente gesehen haben, wurden auch für die Ausbildung und die Thematik des Dargestellten literarische Quellen hinzugezogen. Es ist also zu erwarten, daß die Dichtung uns auch dazu verhilft, eine bessere Vorstellung von der Denkart und Betrachtungsweise des romanischen Menschen zu gewinnen.
Das Denken des Menschen im Mittelalter ist in erster Linie auf das Begreifen des Göttlichen gerichtet. Dies spricht sich in allen Kulturäußerungen der Zeit, insbesondere der Dichtung, aus. EHRISMANN sieht in dem Verhältnis zwischen Mensch und Gott das eigentliche „Metaphysische und Historische Problem“ des Mittelalters  44). Die Form der Geistesentwicklung wird bestimmt durch den Dualismus zwischen Diesseits und Jenseits, Weltstaat und Gottesstaat, zwischen dem Bösen und dem Guten. Dieser auch schon im frühen Mittelalter latent vorhandene Dualismus konnte in karolingischer und ottonischer Zeit noch nicht offen hervortreten, weil in dieser Zeit noch kein Zwiespalt zwischen den beiden Mächten, die die widersprechenden Tendenzen historisch verkörpern, - Kirche und Kaisertum - bestanden hat. Verhängnisvoll trat dieser Gegensatz erst in Erscheinung, als um die Mitte des 11. Jh. Curie und Kaisertum um die Weltherrschaft zu kämpfen begannen. Die eigentliche Triebfeder dieses Kampfes auf geistlicher Seite war das Kloster Cluny in Burgund.
In der 910 gegründeten Benediktinerabtei Cluny wurden insbesondere durch die Äbte Odo (927-942) und Odilo (994-1048) verschärfte Klosterregeln eingeführt, die das Mönchsleben im Sinne des Heiligen Benedikt reformierten. Die asketischen Forderungen der cluniazensischen Mönche fanden sehr bald in Frankreich auch an anderen Klöstern Widerhall, die sich im 11. Jh. bereits zu einer Kongregation zusammenschlossen. Noch strengere Klosterregeln und eine weitgehendere Abkehr vom Diesseitigen verlangten die Karthäuser Mönche, ein Orden, der vom Heiligen Bruno 1084 gestiftet worden ist. Das Denken der Mönche sollte während ihres Aufenthaltes im Kloster ausschließlich auf den Tod und ihr jenseitiges Leben gerichtet sein, ihr Wahlspruch und ihre Begrüßungsformel lauteten: memento mori.
Vorkämpfer dieser religiösen Reformbewegung in Deutschland wurde das schwäbische Kloster Hirsau unter Abt Wilhelm (1069-1091). Im 12. Jh. wurde die von Hirsau ausgehende Strömung, die eine Erneuerung des klösterlichen Lebens zum Ziele hatte, zu einer wahren Volksbewegung, da die Mönche häufig als Wanderprediger umherzogen. Klöster in allen Teilen Deutschlands schlossen sich der Hirsauer Kongregation an.
Auch die klösterliche Dichtung der Zeit ist von Cluny abhängig. In meist roh gezimmerten Gedichten versuchen die Mönche ihren Mitmenschen die Schrecken des Jüngsten Gerichtes auszumalen und die Herrlichkeit, die sie im Himmel erwarten würde. Die Cluniazenser und besonders ihre deutschen Vertreter, die Hirsauer, stehen der Kunst und vor allen Dingen dem Kunstvollen ablehnend gegenüber, da sie in der irdischen Welt nur die Verlockung des Sinnlichen sehen, eine glänzende Hülle, die einen ekelhaften Inhalt verberge (Ludwig WOLFF, S. 127). Ihre literarischen Erzeugnisse stellen daher in erster Linie Zweckdichtungen dar, die dazu bestimmt sind, die Laien zu beeinflussen. Sie bedienen sich daher auch häufig der allgemein verständlichen Volkssprache, des Deutschen.
Eine Milderung der strengen Forderungen Clunys und Hirsaus bringen die Zisterzienser mit sich. Sie erstreben eine Verinnerlichung des Glaubens. Den mächtigsten Ausdruck fand diese neue Glaubensinnigkeit in dem Wirken des Heiligen Bernhard, der 1113 in den Orden eintrat. Die grüblerische Versenkung in die Leidensgeschichte Christi sollte es den Menschen schon im Leben ermöglichen, ganz im Glauben aufzugehen und die Herrlichkeit des Jenseits zu erfahren. Bei den Zisterziensern wird auch zuerst ein Marienkult eingeführt. Diese Geistesrichtung, die im 12. Jh. noch auf Frankreich beschränkt ist, pflegt man Mystik zu nennen. Für die deutsche Kunst wird der Zisterzienser-Orden erst im 13. Jh. wichtig, als durch ihn die frühgotische Baukunst Frankreichs nach Deutschland vermittelt wird. Auch die Dichtung wird durch die Zisterzienser wieder liebevoller gepflegt.
Eine zur Mystik gegensätzliche Stellung nimmt die mittelalterliche Wissenschaft ein, die Scholastik. „Die Größe der göttlichen Schöpfung kann durch die Vernunft nachgeprüft und verstanden werden.“ Wenn auch die verschiedenen Wissenschaftszweige zunächst nur dazu bestimmt sind, der Theologie (die die höchste Form der Wissenschaft darstellt) als Beweismittel zu dienen, so erfahren sie doch eine

44) Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, München 1922-25, Einleitung zum 1. und 2. Abschnitt des 2. Teiles.

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71 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

große Förderung. Das Studium der sieben freien Künste (ars = Wissenschaft) wird eifrig betrieben. Berühmte Lehrer ziehen von weither viele Schüler zu sich. Es entstehen die Vorläufer der Universitäten, Lehranstalten, die zunächst auf eine Fakultät beschränkt sind. So wird in Paris die Wissenschaft der Theologie gelehrt, in Bologna Jura und in Salerno Medizin. Die Wissenschaft tritt damit zum ersten Mal im Mittelalter aus der Einengung der Klostermauern heraus und gewinnt einen internationalen Charakter. Neben der nun aufsteigenden philosophischen Durchdringung der gesamten Glaubenslehre erhielt sich auch noch die alte symbolisch allegorische Sehweise, die alle Erscheinungen und Geschehnisse der Erdenwelt als Widerspiegelung des Göttlichen ausdeutet (Mystik). Beide Anschauungsformen, den verinnerlichten Symbolismus und das großzügige Denkertum der Scholastik, vereinigt in großartiger Weise in sich Hugo von St. Victor. Hugo stammt aus Deutschland, er wurde im Kloster Hamersleben erzogen.
Die intolerante Glaubensstrenge der Cluniazenser ist mit ein Grund für das Aufkommen und die Verbreitung des Kreuzzugsgedankens. Bei der Durchführung der Kreuzzüge mußte sich jedoch die Kirche notwendigerweise des Rittertums bedienen, das dadurch erst vom Landadel zu einem eigenen Stand emporgehoben wurde. Durch seine Berührung auf den Kreuzzügen mit fremden Völkern sowohl Europas als auch des Orients lernte es andere, entwickeltere Lebensweisen und Sitten kennen. Das höfische Leben erhielt einen internationalen Charakter. Das Selbstbewußtsein des neuen Standes ermöglichte in kultureller Hinsicht neben den Klöstern eine selbstständige Entwicklung. Um die Mitte des 12. Jh. entstand neben der Klosterdichtung eine selbständige weltliche Dichtung. Die ersten Vertreter dieser neuen Literaturgattung waren Spielleute, die als fahrende Sänger ihre eigenen Dichtungen an den Höfen der Adligen verbreiteten. Die Spielmannsdichtung war für den mündlichen Vortrag gedacht, nur selten sind uns Niederschriften davon erhalten. Ganz anders verhält sich hierzu die rein ritterliche Dichtung der zweiten Hälfte des 12. Jh. - der Minnegesang und das Heldenepos - die zumeist von den Dichtern selbst schriftlich niedergelegt wurden.
In den kleinen Höfen des südlichen Frankreich liegt der Ursprung der höfischen Kultur des Mittelalters. Die Grafen der Provence und von Toulouse entfalteten bereits zu Beginn des 12. Jh. einen reichen Hofstaat. Hier wird auch zuerst die Frauenverehrung, der Minnedienst, als ritterliche Huldigungsform entwickelt. Die Troubadours betreiben Poesie um ihrer selbst (der Dichtung) willen und nicht, wie die früheren Spielleute, für Entgelt. Die provensalische Lyrik erfuhr durch bedeutende Herrscher weit über die Grenzen des Landes hinaus eifrige Förderung, z. B. durch Richard Löwenherz von England, die Fürsten von Aragonien und Castilien, in Italien durch Bonifaz von Montferrat und Azo von Este.
Die Übernahme der ritterlichen Lyrik durch Deutschland wıırde durch die Gleichheit der höfischen Sitten in beiden Ländern weitgehend erleichtert. Eine Vermittlerrolle zu Deutschland übernahmen die mittel- und niederrheinischen Gebiete: Flandern und Brabant. Der weltoffene Geist des Rittertums ermöglichte der Dichtung eine vielseitige Ausbildung. Zumeist waren jedoch die Feudalherren nicht selbst Autoren. Durchaus nicht von selbst verstand es sich, daß zu einer Ritterausbildung dieser Zeit auch das Lesen und Schreiben gehöre. Dagegen wurden die halbfreien Ritter (Ritter, die nicht Lehnsherren waren), um für den Staatsdienst und Herrendienst geeignet zu sein, einer eingehenden Ausbildung unterzogen. Viele mittelhochdeutsche Dichter waren Halbfreie, sogenannte Ministerialen. Genannt seien hier Hartmann von Aue, Wolfram von Eschenbach und Walther von der Vogelweide (EHRISMANN, S. 25 des 2. Abschn. T. 2).
Der mittelhochdeutsche Minnesang zeichnet sich gegenüber der französischen Troubadour-Dichtung durch größere Gefühlsinnigkeit aus (die Troubadour-Dichtung hatte für die meisten Gemütsverfassungen [Gefühle] feststehende Sprachformeln festgelegt). Auch die gelegentlichen Naturschilderungen in der Troubadour-Dichtung stellen nur formelhafte Vergleiche zu den Handlungen der Personen dar. In der deutschen Minnesangs-Dichtung dagegen kann man zweifellos von einem echten Naturempfinden sprechen, das besonders in den Werken der hervorragendsten Vertreter des Minnesangs bei Veldecke und später bei Walther von der Vogelweide hervortritt.
Als besondere Literaturgattung erfreut sich auch die Fabel und die Tierdichtung bereits im 12. Jh. in Deutschland großer Beliebtheit. Aus zwei verschiedenen Quellen geht die Tierdichtung hervor. Einerseits wird die Fabel, deren Ursprungsland Indien ist, durch Griechenland und Rom der mittelalterlichen Kultur übermittelt: äsopische Fabeln werden in den Klosterschulen vielfach abgeschrieben und so verbreitet. Eine zweite Quelle, hauptsächlich für die Tierepen, bilden die volkstümlichen Tiersagen und Tiermärchen. Durch die fahrenden Spielleute fanden die Fabeln und Tiergeschichten auch in Laienkreisen weitgehende Verbreitung. Auch von den Klerikern wurden sie als „Bispele“ in Predigten gern verwendet. In den Klosterschulen dienten sie häufig als Lehrstoffe.
In der Dichtung des 12. Jh. lassen sich leicht zwei Hauptrichtungen festlegen. Die eine Richtung umfaßt die klösterliche Dichtung, die hauptsächlich von dem asketischen Geist des

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72 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

cluniazensischen Mönchtums bestimmt wird. Nordostfrankreich, Burgund, ist für diese Richtung bestimmend. Um die Mitte des 12. Jh. entsteht daneben die selbständige ritterliche Lyrik und Epik, die ihren Ursprung in Südfrankreich hat. Neben den lyrischen Gedichten bringt diese ritterliche Kunst auch umfangreiche Heldenromane hervor, die auf antike Stoffe zurückgehen; so das Alexanderlied und das Rolandslied. Auch in diesen Epen ist der französische Einfluß deutlich sichtbar.
Diese beiden Literaturströmungen, die in Frankreich von weit voneinander entfernten Orten ausgehen, treffen in Deutschland zusammen und überlagern sich häufig. Deshalb erscheint das literatur-historische Bild Deutschlands im 12. Jh. recht verworren. Ritterliche Dichter greifen auch zuweilen geistliche Stoffe cluniazensischen Charakters auf, und Mönche versuchen sich verschiedentlich in der Bearbeitung weltlich-antiker Stoffe. Albrecht von Halberstadt, ein Kleriker, schrieb die Erzählung vom Pyramus und Thisbe nieder.

Vergleich
Im Großen gesehen verlaufen die Stilströmungen in der bildenden Kunst des 12. Jh. und, was uns hier besonders interessiert, in der Bauornamentik parallel zu den anderen Kulturströmungen der Zeit.
Die beiden Ausdrucksarten der spätromanischen Ornamentik in Deutschland - stichwortartig als Hirsauer und Königslutterer Richtung zu bezeichnen - konnten wir in der Zusammenfassung auf zwei verschiedene Quellen zurückführen. Die vitale Königslutterer Richtung hat nachweislich starke Impulse aus Oberitalien empfangen. Die strenge Richtung der Bauornamentik, die hauptsächlich an Hirsauer Bauten Verwendung findet, war jedoch schon vor der Beeinflussung Mitteldeutschlands durch Hirsauer Bauten gebräuchlich (Gandersheim). Es ist möglich, diese strenge Ornamentik auch schon mit der cluniazensischen Reform in Verbindung zu sehen.
Auch die Literatur der Zeit wird durch zwei Hauptströmungen bestimmt: einmal ist es die karge Klosterdichtung cluniazensischer Prägung, zum anderen die weltliche Ritterdichtung (Heldenepos und Lyrik), die durch südfranzösische Beeinflussungen oder Anregungen in Deutschland eingeführt wurde. Das Verhältnis der südfranzösischen und lombardischen Bauplastik des 12. Jh. zueinander „ist ein bis dahin noch ungelöstes Problem“ (BERNHEIMER). Beide Landschaften sind Kernpunkte einer lebendigen und dramatisierenden Tierornamentik.
Im Gegensatz zur Baukunst ist ein kultureller Austausch in der Dichtung jedoch ganz offensichtlich, waren doch oberitalienische Fürsten eifrige Förderer der Troubadourdichtung (s. oben). Die Motivik der Troubadourdichtung ist sehr reichhaltig, ihr formaler Aufbau jedoch streng. Für die selten eingestreuten Naturschilderungen werden formelhafte Ausdrücke verwendet. Ähnliche Eigenschaften weist auch die Bauornamentik beider Gebiete auf: die oft heftig bewegten Einzelfiguren eines Kapitells ordnen sich der vorbestimmten Gestalt des Ganzen unter. (Damit soll jedoch nicht gesagt werden, daß die romanische Tierornamentik mit den Bauteilen, auf denen sie angebracht ist, stets glücklich verschmolzen ist; das Gegenteil ist häufig der Fall.)
Ähnlich wesensverwandt sind auch die strenge geometrisierende Richtung der mitteldeutschen Bauornamentik und die cluniazensische Dichtung. In den anorganischen Zirkelschlägen und Diamantbandgeflechten scheint sich die Forderung der cluniazensischen Mönche zur Abkehr von der Natur und von der Sinnlichkeit der Welt deutlich auszusprechen. Auf dem Wege der Dichtung fand cluniazensischer Geist schon vor der Hirsauer Reformbewegung Eingang nach Deutschland. Ein Zeugnis dieser ersten Strömung sind möglicherweise die Kapitelle in Gandersheim.
Der Zisterzienserorden mildert im 12. Jh. die strengen Regeln Clunys weitgehend ab. Dem Menschen wird wieder eine größere Bedeutung zuerkannt, die Künste werden gepflegt.
In den burgundischen Kirchen dieser Zeit nehmen Kapitelle mit figürlichen Darstellungen oder mit Engeln an den Ecken eine Vorrangstellung ein. In Mitteldeutschland verspüren wir diese neue Geisteshaltung an der Ornamentik der Kapitelle in der Godehardkirche zu Hildesheim. (Sowohl Cluny als auch Citeaux sind in Burgund gelegen!)
Die Scholastik, die Wissenschaft des Mittelalters, pflegt im großen Umfang das Studium der Natur: alle Erscheinungen der Welt vermögen die Existenz Gottes zu beweisen. Die Bauornamentik der entstehenden Gotik verwendet liebevoll aus der Natur entnommene Blattformen als Vorlage für ihre Motive. Dieser „gotische Naturalismus“ erfährt seine reichste Ausbildung in Deutschland, jedoch erst um die Mitte des 13. Jh.: an den Chorschranken des Naumburger Domes.
Wie gut man es in Deutschland in der Übergangszeit von der Romanik zur Gotik verstand, Naturbeobachtungen wiederzugeben, konnten wir mehrmals an Kapitellen beobachten, die um oder kurz nach 1200 entstanden sind (z. B. in Hamersleben und Hecklingen). Das Gleiche zeigt sich auch in der Minnesangsdichtung. Im Gegensatz zur Troubadourdichtung werden von ihr nicht mehr die Formeln gebraucht, die nur die Stimmung der handelnden Personen verdeutlichen sollen, sondern wirklich beobachtete Natureindrücke. Man denke nur an die bekannte Schilderung Walthers von der Vogelweide:

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73 HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands

So die bluomen uzdem grase dringent,
same si lachen gegen der spilden sunnen,
in einem meien an dem morgen fruo,
und diu kleinen vogellin wol singent
in ir besten Wise die si kunnen,
waz wünne mac sich da geliehen zuo?
ez ist wol halb ein himelriche.

Lachmannsche Zahlung: 45,37  45).

45) Veröffentlicht mit Prosaübertragung von Hans BÖHM: Die Gedichte Walthers von der Vogelweide‘ Berlin 1944, S. 189.

Die dem Text beigefügten Photos wurden, soweit sie Kapitelle und Bauornamente mitteldeutscher Kirchen abbilden, ausnahmslos von mir selbst aufgenommen. Nur bei Vergleichsbeispielen aus entfernteren Gegenden mußte ich mich mit Reproduktionen begnügen:
Folgende Abbildungen wurden reproduziert:
30, 31 JENNY, W. A. von: Die Kunst der Germanen im frühen Mittelalter. Berlin 1943.
46, 140 DESCHAMPS, P.: Die romanische Plastik Frankreichs. Florenz 1930.
47, 100, 135, 136 SCHAFFRAN : Die Kunst der Langobarden in Italien.

LITERATUR


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74 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 3. Jahrgang, Heft 1

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Daneben Wurden selbstverständlich Dehios Handbuch und die Inventare der entsprechenden Kreise verwendet.
Abkürzend werden im Text zitiert: BERNHEIMER = BERNHEIMER, R., Romanische Tierplastik und die Ursprünge ihrer Motive; BLANKENBURG = Wera v. BLANKENBURG, Heilige und dämonische Tiere; GAUL = Otto GAUL, Die romanische Baukunst und Bauornamentik in Sachsen; KLUCKHOHN = E. KLUCKHOHN, Die Ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter; WEIGERT = Hans WEIGERT, Das Kapitell in der deutschen Baukunst des Mittelalters."


Veröffentlicht in:
HEINRICH L. NICKEL: Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands. Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Jahrgang III, 1953/54 Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, Heft 1, S. 25-74




Adolph Goldschmidt: Die Bauornamentik in Sachsen im XII. Jahrhundert

DIE BAUORNAMENTIK IN SACHSEN IM XII. JAHRHUNDERT 1)

von ADOLPH GOLDSCHMIDT

Mit 36 Abbildungen im Text ...........................................................

 

Die Bauornamentik, die Zierteile wie Kapitelle, Friese, Gesimse, Tür- und Fensterumrahmungen sind für die kunstgeschichtliche Forschung nach zwei Seiten hin von Wert: zur Datierung und Gruppierung der Bauwerke da, wo die Baudisposition an sich ungenügenden Aufschluß gibt und zur Kenntnis der Stilentwicklung, die in den Formen der Ornamente besonders klar zutage tritt. Für diese beiden Zwecke ist das reiche Material, welches Deutschland bietet, noch lange nicht genug ausgenutzt. Man hat lange Zeit nur ein paar Haupttypen romanischer und gotischer Formen hingestellt, und erst in der letzten Zeit sind mehr und mehr die ornamentalen Details in Publikationen gesammelt worden 2). Wo dies in zeichnerischer Weise geschehen ist, wie es vielfach den Architekten beliebt, ist der Forschung nicht in ausreichender Weise Genüge getan, denn die Strichführung des Zeichners gleicht die Formen, ihm selbst vielleicht unbemerkbar, derartig aus, daß alle Stücke von demselben Steinmetzen gefertigt scheinen. Wo dagegen die Photographie die Wiedergabe übernommen hat, hat sich bald herausgestellt, daß sich in kleinen Verschiedenheiten der Behandlung, in geringer Abwandlung der Motive ein Individualisrnus zeigt, der bei der Forschung ebensowenig zu unterschätzen ist, wie etwa bei Gemälden die stilistischen Abweichungen ähnlicher Kompositionen. Mit der Veröffentlichung solchen Materials begann man die Fäden zu finden, die sich von einem Bauwerk zum andern, oft durch bedeutende Entfernung hinüberzogen. So hat Paul Jonas Meyer in Walkenried am Harz und am Magdeburger Dom dasselbe Formenmodell eines Kapitells wie in Speyer verfolgt, das entweder auf den gleichen Steinmetzen oder mindestens auf eine Berührung mehrerer Steinmetzen schließen läßt 3). Man lernt Nachahmungen von Originalen und Neuschöpfungen unterscheiden, die weiterwandernden Schüler vom schulbildenden Meister. Was ursprünglich ein ungeordneter bunter Formenregen zu sein schien, der sich über die romanische Baukunst niedergesenkt hat, das gestaltet sich mehr und mehr zu festen Zentren mit ihren Ausstrahlungen, zu logischen Aufeinanderfolgen, tritt in Verbindung mit nachweisbaren Quellen, und die Erkenntnis dieser Verbindungen wird nicht wenig dazu beitragen, das Bild der mittelalterlichen Kunstentwicklung in Deutschland zu klären 4).

Man pflegt in der mittelalterlichen Kunst in Deutschland drei große Gruppen zu scheiden: frühmittelalterliche, d. h. karolingisch-ottonische, romanische und gotische Kunst, natürlich mit den notwendigen Konzessionen zu Übergangsformen. Was die gotische Periode anbetrifft, so sind ihre Formen am leichtesten zu fixieren, am

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(1) Etwas verspätet kommt dieser auf dem Historikerkongreß in Berlin 1908 gehaltene Vortrag zum Druck, doch ist seitdem mit dem vorgeführten Material nicht weiter gearbeitet worden, so daß eine Wiedergabe auch heute noch nicht überflüssig erscheint.

(2) C. Schaefer, Bauornamente der Rornanischen und Gothischen Zeit. Berlin 1903. - Kutschmann, Romanische Baukunst und Ornamentik in Deutschland. - Mohrmann & Eichwede, Germanische Frühkunst.

(3) Braunschweig. Magazin X, S. 13.

(4) Wie solche Analysen nutzbar gemacht werden können, zeigen die inzwischen erschienenen Aufsätze von R. Hamann über die Kapitelle des Magdeburger Domes im Jahrbuch der Preuß. Kunstsammlungen 1909.

Monatshefte für Kunstwissenschaft, III. Jahrg. 1910, Heft 8/9.

 

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Abb. 1. Südl. Seitenapsis, Quedlinburg

 

prägnantesten in ihrem Stil, stereotyp oft in ihrer Wiederholung. Wenn man von dem gotischen Knollenkapitell oder von dem jüngeren Blattkapitell spricht, so hat man gleich eine ganz bestimmte Form vor Augen, das gotische Maßwerk der Fenster, die sich um einen Stab windende Blattranke kehren hundertfach gleichartig wieder, allerdings auch hier überall mit kleinen Differenzen, die für das Studium der speziellen Zusammenhänge durchaus die vorher angegebene Bedeutung haben.

Man hat sich bereits daran gewöhnt, die erste Quelle dieser Formen in Frankreich zu sehen. Seit dem XIII. Jahrhundert, sporadisch schon seit der zweiten

 

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tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-2-S-Abbondio-Como.jpg

Abb. 2. S. Abbondio, Como

 

Hälfte des XII. sind sie von jenseits des Rheines zu uns herübergekommen und haben die einheimischen Bildungen modifiziert oder unterdrückt.

Was ferner die erste Gruppe uns bietet, was die Architektur am Anfang des Mittelalters an ornamentalen Formen aufweist, das zeigt, soweit es überhaupt eine reichere Ausbildung besitzt, deutlich seine Abkunft von der Antike. Korinthische, jonische und Kompositkapitelle in vereinfachten, abgestumpften, mißglückten oder unverstandenen Wiederholungen, Gesimse mit Zahnschnitt oder Eierstab, Blattpalmetten und Wellenranken treten neben wirklichen antiken Spolien auf, und diejenige Bauornamentik, die man als longobardisch, westgotisch, merowingisch, nordisch usw. bezeichnet, die aus Flechtwerk- und Kerbschnittrosetten, aus verkümmerten Ranken und gedrehten Stricken besteht, ist ein mit primitivem Kunstempfinden durchsetzter antiker Formenkreis, zu dem sich Reminiszenzen aus dem altheimischen Holzbau gesellen und dem gegenüber offenbar gerade die Karolingerzeit die reinere Antike wieder mehr zu heben sucht. Haben wir die Quelle für die dritte, die gotische Gruppe, also der Hauptsache nach in Frankreich zu suchen, so fließt die der ersten aus der antiken Welt.

Aber die zwischen diesen beiden Kunstformen liegende reiche Ausgestaltung romanischer Ornamentik konnte man für germanisch in Anspruch nehmen, man konnte in der komplizierten Verquickung von Blattwerk und Tieren, in der Durchflechtung langer Blattstiele, der phantastischen Häufung ein erneutes Wirken der altnordischen Neigung abstrakten und ausklügelnden Formenstils erblicken, einen Anschluß an die Kunst, wie sie noch aus prähistorischer Zeit her in Skandinavien und Großbritannien lebte.

Was in merowingischer Zeit in der Architektur noch nicht wirklich durchbrechen konnte, das scheint jetzt zu erblühen. Ein wunderbarer Reiz liegt in diesem Erfinden und Komponieren des XII. Jahrhunderts, eine Kunstfreude, die den Werken jener Zeit einen eigentümlichen Reiz sichert und ein Mitfühlen der Arbeitslust jener schaffenden Kräfte erzeugt. Mit einem gewissen Recht haben moderne Kunstforscher diese Art der Arbeit als vorbildlich für die jüngere Generation hingestellt, die Pflege des nationalen Elementes darin gesehen im Gegensatz zur Wiederholung der bestimmt fixierten griechisch-römischen oder gotischen Formen. Einer Klärung jedoch bedarf die Frage, wie weit diese Richtung wirklich als eine Schöpfung des Nordens anzusehen ist.

 

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Abb. 3. S. Abbondio, Como

 

Hält man Umschau in der romanischen Ornamentik der frühen Zeit, so bemerkt man, wie nach den antiken Formen der karolingisch-ottonischen Zeit in Aachen, Lorsch, Höchst, Essen, Gernrode fast allgemein eine große Armut eintritt. Neben letzten kümmerlichen Resten und Erinnerungen der antiken Form, wie in Gandersheim, steht das ganz schmucklose Würfelkapitell, das größte Verbreitung findet und geradezu als Ideal erscheint. Von irgendwelcher Phantastik ist gar keine Rede. Dann aber tritt plötzlich ein ganz neues Element in die dekorativen Architekturglieder. Das alte tektonische Gefüge der antiken Kapitelle lockert sich, und die Flächen des Würfelkapitells schmücken sich. Natürliche und phantastische Tiere, Flechtwerk, Ranken und Palmetten setzen sich zu mannigfachen Gebilden zusammen, indem sie sich am Kapitell entweder an die Stelle einzelner alter Bestandteile schieben, oder als Bekleidung über die Flächen ausbreiten, oder an andern Bauteilen Friese und Umrahmungen bilden. In Sachsen ist die Stiftskirche in Quedlinburg die älteste, welche in ihren Hauptteilen diese Dekorationsgattung in ausgiebiger Weise zeigt. Sowohl die Krypta wie das Schiff bieten eine reiche Variation. Da sind Kapitelle gebildet aus vier Vögeln (Adlern), deren Kopf an Stelle der Eckvolute sitzt, andere mit kurzen Blattreihen, über denen sich Flechtwerk ausbreitet, mit Teppichmotiven aus gegenüberstehenden Tieren, mit Schlangen und menschlichen Figuren; die Kämpfer schmücken Ranken, Flechten und Sterne. Entsprechend ziehen sich innen und außen an der Kirche Friese entlang mit Vögeln, die an Trauben picken, mit Drachen und Löwen, Flechtwerk und Palmetten. Da vieles davon einen sehr unbeholfenen Eindruck macht, datierten frühere Forscher diese Bauteile aus dem Anfang des XI. Jahrhunderts 1), doch ist diese Ansicht nicht haltbar Weitere Untersuchungen und die Vergleichung mit anderen Bauten haben ergeben, daß die Entstehung erst in die Bauzeit 1070-1129 fällt 2) Es ist diese Art von Ornamentik

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(1) F. Kugler, Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte I, S. 580, Kutschmann, Romanische Baukunst und Ornamentik in Deutschland. Andere wie Schnaase glaubten wenigstens von neuem verwendete Teile des alten Baues in der Ornamentik zu finden.

(2) Vgl. P.J. Meier, Die ottonischen Bauten in Quedlinburg in der Zeitschr. f. Gesch. d. Architektur II, S. 240.

 

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also frühestens am Ende des XI Jahrhunderts nachzuweisen, und an Quedlinburg anschließend findet sie sich darauf in der Liebfrauenkirche in Magdeburg, in Kloster Gröningen und in der Ulrichskirche zu Sangerhausen.

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-4-S-Abbondio-Como.jpg

Abb. 4  S. Abbondio, Como

 

Die nächste Quelle für diese in Sachsen gegen 1100 einsetzende Ornamentik ist aber offenbar in Italien zu suchen. Es ist darauf hingewiesen worden, daß die Umrahmung des Fensters der südlichen Chorapsis in Quedlinburg übereinstimmt mit der des Chorfensters in St.Abbondio in Como 1). Weitere diesen Spuren folgende Untersuchungen der Ornamentik in Como und Umgegend sowie in Mailand und in Pavia ergeben nun aber als Befund eine auch sonst bis ins Detail gehende Übereinstimmung zwischen den Formen dort und in Quedlinburg. Eine Gegenüberstellung der Einzelheiten von St. Abbondio und von der Quedlinburger Stiftskirche wird dies ohne weiteres klar machen.

Die Fensterumrahmung in der südlichen Seitenapsis in Quedlinburg (Abb. 1) zeigt die gleiche Zusammensetzung wie in S. Abbondio (Abb. 2) aus einem strickförmig gedrehten Wulst auf ebenfalls gedrehten Säulchen mit Kapitell und Basis (in Quedlinburg sind die Kapitelle durch später eingefügte Wappen ersetzt) und einem breiten, ununterbrochen um das ganze Fenster laufenden flachen Band von Ranken. Und diese Ranken selbst stimmen in ihren

 

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Abb. 5. Quedlinburg

 

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(1) Kutschmann, Romanische Baukunst und Ornamentik in Deutschland, auf Grund einer bei Dehio-Bezold, Kirchliche Baukunst des Abendlandes, Tafel 323 gegebenen Zeichnung des Fensters in Como.

 

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traubenpickenden Vögeln, in der Form dieser Vögel und Trauben, in der Technik, welche die Beeren durch rautenförmig sich kreuzende eingeschnittene Linien und das Gefieder durch gleiche schuppenförmige wiedergibt, genau überein. Ebenso entsprechen die Motive der Friese, die sich in Quedlinburg außen und innen um die Kirche ziehen, genau denen die in Sant' Abbondio die Umrahmungsstreifen der übrigen Chorfenster (Abb. 3 u. 4) bilden, es sind zunächst wieder die Vögel (Abb. 5), dann löwenartige Vierfüßler in Seitenansicht mit en face gestelltem Kopf (Abb. 6 u. 3), hundeartige Tiere in vollständiger Profilstellung (Abb. 3) und zweibeinige geflügelte Drachen mit gewundenem Schweif (Abb. 5 u. 3).

 

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Abb 6. Quedlinburg

 

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Abb. 7. Quedlinburg

 

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Abb. 8. S. Abbondio, Como

 

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Abb. 9 Liebfrauenkirche Magdeburg

 

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Abb. 10. Klostergröningen

 

Nicht nur sind die Geschöpfe als ganzes übereinstimmend, sondern auch in ihren Einzelbildungen. So sind die Flügel- und Schwanzfedern scharf vom übrigen Gefieder gesondert, die Flügel in ihrer oberen gerundeten Hälfte durch runde Einschnitte, in dem unteren davon bestimmt abgetrennten Teil durch gerade Längslinien gegliedert. Die Löwen zeigen den um die Flanken hinaufgeschlagenen Schweif und den gleichen Kopf, allerdings in Quedlinburg meist nur die zwei in der Vorderfläche liegenden Beine statt der vier in Como. Die Hunde haben die gleiche schweinsartige Schnauze und das Halsband. Daneben ist in Quedlinburg noch ein pflanzliches Motiv in zahlreicher Wiederholung angebracht (Abb. 7): einePalmette aus zwei Halbblättern zusammengeschoben, deren Stengel unten verschnürt sich dann wieder nach oben wenden,

 

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Abb. 11 Quedlinburg

 

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Abb. 12 Krypta, Quedlinburg

 

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Abb. 13 S. Ambrogio, Mailand

 

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Abb. 14 Piona Comer See

 

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Abb. 15 Klostergröningen

 

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als kleine geteilte, oben und unten abgebundene Pilaster aufsteigen und eine dreiblättrige Krone tragen. In St. Abbondio ist genau dasselbe Gebilde um mehrere der Fensterkapitelle herumgelegt, so daß die Palmette die Mittelfläche, die Pfeilerchen die Ecken bilden (Abb. 8). Das gleiche Ornament zeigt sich auch in der Liebfrauenkirche in Magdeburg (Abb. 9) und in Klostergröningen (Abb. 10).

Unter den Kapitellen fällt vor allem die Übernahme des Adlerkapitells auf, das von vier auf dem Halsring des Kapitells stehenden Vögeln gebildet wird, deren Kopf und Brust die Ecken ausmachen, während die Flügel in der Mittellinie zusammenstoßen. In Quedlinburg kommt es in verschieden feiner oder roher Form im Langschiff (Abb. 11) und in der Krypta (Abb. 12) vor. In S. Abbondio finden wir es an zwei Fensterkapitellen (Abb. 2) und an den Halbsäulen der Chormauer, aber außerdem tritt es uns in der Lombardei häufig entgegen, z. B. in S. Ambrogio in Mailand (Abb. 13), in Piona am Comersee (Abb. 14). Von Quedlinburg abhängig ist Klostergröningen (Abb. 15). Einzelne der Kapitelle in S. Abbondio zeigen auf der Fläche auch Profilvögel oder Flechtwerkrosetten und beides kommt entsprechend in Quedlinburg vor. Daneben bietet die Stiftskirche, vor allem in der Krypta Formen, die zwar nicht in S. Abbondio, aber in S. Ambrogio im nahen Mailand sich finden, wie die bandartigen Ranken mit lilienförmigen Kerbschnittblättern (Abb. 16 u. 17).

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-16-S-Servatius-Quedlinburg-Krypta.jpg

Abb. 16. Krypta. Quedlinburg

 

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Abb. 17. S. Ambrogio, Mailand

 

Die Analogien lassen sich vermehren. Das Kranzgesims im Chor von S. Abbondio, das aus einem gedrehten Strick zwischen zwei Stromschichten (übereck gelegten Steinen) gebildet wird (Abb. 18), zeigt sich in Quedlinburg als Fries unter dem im Hauptschiff herumlaufenden Gesims (Abb. 19), und der doppelt abgetreppte Rundbogenfries ist in Quedlinburg (Abb. 20) genau so wie in Como gestaltet (Abb. 18) in der besonderen Form, daß der zu oberst liegende Schenkel den unteren bis an die Wandfläche heran konsolenartig umklammert.

Es sind also der Übereinstimmungen so viele, daß an einen Zusammenhang und einer Übertragung der Formen nicht gezweifelt werden kann. Aber zweifelhaft könnte man sein, wer der Gebende und wer der Empfangende war. Zunächst rückt die Frage nach dem Entstehungsdatum der betreffenden Kirchen in den Vordergrund. Die lombardischen Bauten, welche die gleiche Art der Ornamente

 

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tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-18-S-Abbondio-Como.jpg

 

Abb. 18 S. Abbondio, Como

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-19-S-Servatius-Quedlinburg-Friesdetail-innen-IMG-7176.jpg

 

Abb. 19. Quedlinburg

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-20-S-Servatius-Quedlinburg-doppelt-abgetreppter-Rundbogenfries-IMG-7205.jpg

 

Abb. 20. Quedlinburg

 

 

repräsentieren wie S Abbondio in Como, S. Ambrogio in Mailand und die entsprechenden Bauten in Pavia (S. Michele und S. Pietro in Cielo d'oro) fallen in die Wende des XI. Und in den Anfang des XII. Jahrhunderts. Eine genaue Abrechnung auf Jahre darüber, ob die deutschen oder die italienischen Bauten die früheren sind, läßt sich nicht vornehmen, da die Daten beiderseits zu ungenau sind, und es auch beiderseits nicht feststeht, ob die uns erhaltenen Beispiele wirklich gerade die frühesten in ihrem Lande gewesen sind. Es genügt die Gleichzeitigkeit der Erscheinung im allgemeinen, und man muß die Priorität aus anderen Umständen eruieren.

Daß Oberitalien der gebende Teil und Quedlinburg der empfangende ist und nicht umgekehrt, geht daraus hervor, daß in Quedlinburg diese Formen plötzlich in großer Fülle auftreten, unvermittelt und vereinzelt, in Italien dagegen auf breiterer allgemeinerer Basis entstehen, daß ferner die guten italienischen Beispiele immerhin bedeutend feiner und exakter bearbeitet sind, als die besten deutschen. Es ist ferner bezeichnend, daß die Dekoration der Chorfenster sich in Como auf der Außenseite des Baues befindet, was die allgemeine Form repräsentiert, die nicht nur in Italien

 

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tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-21-Kaiserdom-Koenigslutter-Kreuzgang-IMG-2717.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-22-Dom-zu-Verona-Kapitell-IMG-7878.jpg
Abb. 21. Königslutter (nach Eichwede) Abb. 22. Dom zu Verona (nach Eichwede)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-23-Kaiserdom-Koenigslutter-nach-Eichwede-Tafel-VI-Fig-9.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-24-Dom-zu-Verona-Saeulenschaft-IMG-7870.jpg
Abb. 23. Königslutter (nach Eichwede) Abb. 24. Dom zu Verona (nach Eichwede)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

sehr verbreitet ist, sondern auch in Deutschland besonders in den späteren reicher ausgestatteten Kirchen der romanischen Zeit aufkommt, während in Quedlinburg diese Umrahmung ausnahmsweise im Innern der Apsis angebracht ist, wo sie gar nicht hingehört. Es ist dies also erst eine Übertragung und zwar aus dem Grunde, daß die Außenseite des Chores infolge der Lage auf einem Felsen nicht zugänglich war. Auch der Fries mit Strick und Stromschicht gehört vielmehr wie in Como auf die Außenseite eines Bauwerks, als wie in Quedlinburg ins Innere.

Dieser Vorgang eines italienisch-deutschen Imports von Kunstformen und Kunsthandwerkern wird nun um so glaubwürdiger, als sich im weiteren Verlauf des XII. Jahrhunderts derselbe Vorstoß wiederholt. In der Kunstchronik, Jahrgang XII, 1901, S. 97, hat Paul Jonas Meyer auf die enge Verwandtschaft von Kapitellformen in Königslutter bei Braunschweig und in Ferrara hingewiesen. Unabhängig davon hat der leider früh verstorbene Ferdinand Eichwede in seiner Dissertation bei der Hochschule in Hannover 1904 diese Beziehung aufgedeckt, und eine große Reihe von Dekorationstypen (Friese, Konsole, Kapitelle, Säulenschäfte) nicht nur in Ferrara, sondern auch in Verona und Modena denen von Königslutter gegenübergestellt 1)

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(1) Beiträge zur Baugeschichte der Kirche d. Kaiserl. Stiftes zu Königslutter. Vgl. auch Meiers Besprechung, Kunstchronik 1905, S. 21.

 

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tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-25-Kaiserdom-Koenigslutter-Jagdfries-Detail-IMG-1107.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-26-Dom-zu-Verona-nach-Eichwede-Tafel-VIII-Fig-1.jpg
Abb. 25. Königslutter (nach Eichwede) Abb. 26. Dom zu Verona (nach Eichwede)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-27-Kaiserdom-Koenigslutter-Jagdfries-Detail-IMG-1043.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-28-Dom-zu-Ferrara-nach-Eichwede-Tafel-VIII-Fig-2.jpg
Abb. 27. Königslutter (nach Eichwede) Abb. 28. Dom zu Ferrara (nach Eichwede)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Abb. 21-34). Beide nehmen den gleichen Meister in Ferrara und in Königslutter an. Daß man nun wirklich schließen kann, daß der Meister Nicolaus, der sich in einer Inschrift an den Domen zu Ferrara und Verona nennt, nach Königslutter gekommen sei, scheint mir nicht nur zweifelhaft, sondern sehr unwahrscheinlich, sicher aber ist eine direkte Übertragung der Formen durch einen oder mehrere geschickte Steinmetzen aus der Bauwerkstatt von Ferrara in die von Königslutter, durch die dann einheimische Arbeiter belehrt und geschult wurden.

Auch hier ist die Priorität Italiens nicht zu bestreiten. Denn abgesehen von den diesmal wenigstens in ltalien festliegenden Daten ist dort auch wieder die viel breitere Basis für diese Formen, vor allem ein Anschluß an die älteren Bildungen und ein Gefühl für die Struktur des antiken Kapitells wie es im Gegensatz steht zu Gestaltungen, die unabhängig davon in Deutschland geschaffen wurden. Was wir in den folgenden Jahrzehnten in den sächsischen Landen an verwandten

 

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Die der Eichwedeschen Arbeit entnommenen Abbildungen 21-34 sind einander durch das Bestreben des Zeichners, die Ähnlichkeiten möglichst deutlich zu machen, entschieden angeglichen, entsprechende photographische Aufnahmen nach der Natur, die nicht zu beschaffen waren, würden einen mehr abweichenden Charakter zeígen, ohne doch der Übereinstimmung im ganzen Abbruch zu tun.

 

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tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-29-Kaiserdom-Koenigslutter-Jagdfries-Detail-IMG-1121.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-30-Dom-zu-Ferrara-nach-Eichwede-Tafel-VIII-Fig-5.jpg
Abb. 29 Königslutter (nach Eichwede) Abb. 30 Dom zu Ferrara (nach Eichwede)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-31-Kaiserdom-Koenigslutter-Kreuzgang-IMG-2516.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-32-Dom-zu-Ferrara-IMG-6798.jpg
Abb. 31 Königslutter (nach Eichwede) Abb. 32 Dom zu Ferrara (nach Eichwede)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Formen entstehen sehen, ist fast durchgängig in Verbindung mit diesem einen Strom, der in Königslutter zunächst mündet. Es sind die reichen Steinmetzarbeiten der Michaelskirche in Hildesheim, der Kirche zu Wunsdorf bei Hannover, zu Michaelstein, Hecklingen, an der Burg Dankwarderode in Braunschweig, den Kirchen in Goslar usw. 1). Da diese Bauten der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts angehören, die Baudaten in Ferrara und in Verona feststehen, so ist die Übertragung wohl ungefähr um 1150 oder kurz nachher anzusetzen. Was sich daneben an reicheren Steinmetzarbeiten in Sachsen zeigt, ist eine Mischung von Anregungen aus dieser Gruppe mit Weiterführungen aus der Quedlinburger Schule und einer dritten Dekorationsart, die wir bis zu einem gewissen Grade als ein selbständiges Element in Anspruch nehmen können. Es ist dies die Ausnutzung der Palmettenformen, wie sie vor allem den Fries- und

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(1) Vgl. auch die italienischen Einflüsse in Gernrode bei Ernst Wackenroder, das heilige Grab in Gernrode. Diss. Halle 1907

 

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tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-33-Kaiserdom-Koenigslutter-IMG-9793.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-34-S-Zeno-Verona-IMG-8396.jpg
Abb. 33 Königslutter (nach Eichwede) Abb. 34. S. Zeno, Verona (nach Eichwede)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Streifenornamenten aus Handschriftenschmuck und Goldschmiedearbeiten entnommen und auf Kapitelle und andere Architekturen übertragen werden. Diese tektonisch vielfach unlogische Anwendung und Ausnutzung ist eine in Italien spärlicher bemerkbare Zutat, in Deutschland bildet sie seit dem zweiten Viertel des XII. Jahrhunderts einen reichen Faktor, der jetzt mit den Elementen der beiden italienischen Richtungen auf kunstreiche und vielfach wechselnde Weise verbunden wird.

Was nun den zweiten italienischen Strom vom ersten unterscheidet, ist vor allem eine größere Plastik der Formen, ein Ineinandergreifen verschieden gerichteter Flächen, ein Verflechten und Verwachsen zu einem geschlossenen Gebilde. Die Funktion des alten Akanthusblattes, wenn auch unter veränderten Bedingungen, tritt wieder mehr in den Vordergrund.

Dieselbe Erscheinung, die in Sachsen zutage tritt, läßt sich nun auch in anderen Teilen Deutschlands verfolgen, im Süden sowie am Rhein; je näher der Verkehr mit Italien sich gestaltet, umso unbemerkbarer, fließender macht sich solcher Import geltend, in entfernteren Teilen dagegen, wie es die sächsischen Länder sind, ist der Impuls plötzlicher, stoßweise und unvermittelter, daher deutlicher. Das lombardische Adlerkapitell, wie in Mailand, Como und Quedlinburg tritt auch in der Bodenseegegend auf, in Petershausen (Stücke jetzt in den Museen zu Karlsruhe (Abb. 35) und Konstanz), in St. Jacob in Regensburg, am Rhein z. B. in Mainz, Maria Laach usw.

Was uns durch die Bauwerke selbst gelehrt wird, bestätigen die Urkunden. Die lombardischen Steinmetzen genossen einen großen Ruf. Seit dem Altertum ist die Tradition ununterbrochen. Schon unter römischer Herrschaft werden sie gerühmt,

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Abb. 35. Kapitelle aus Petershausen, Museum in Karlsruhe

 

unter den longobardischen Königen werden ihre Arbeitstarife und Genossenschaftsstatuten fixiert. Im Trecento sind die Comacini von großer Wichtigkeit, und vom Quattrocento bis in die Barockzeit kommen von der Gegend des Comosees die tüchtigsten Steinmetzen und berühmte Architekten. Diese Bedeutung geht weit über die Grenzen Italiens hinaus. Auch in der deutschen Renaissance spielen die lombardischen Formen eine überwiegende Rolle, und noch heute bilden die oberitalienischen Steinarbeiter fast bei jeder großen Bautätigkeit einen wenn auch meist rein handwerklichen Bestandteil. Aus der Zeit, die uns beschäftigt, besitzen wir die Nachricht, daß der Priester Gebhard sich 1138 oder 1139 zum Bau des Klosters des heiligen Magnus in Regensburg einen Baumeister aus Como mit seinen Leuten kommen läßt. Aus einem Briefwechsel, der sich daran knüpft 1), erfahren wir auch, daß noch andere Arbeiter aus Como bei gleichzeitigen Bauten dort tätig waren und daß dies offenbar als nichts ungewöhnliches angesehen wurde.

Alle Umstände also stimmen dahin überein, daß diese Bereicherung der dekorativen Bauformen in Deutschland in der romanischen Zeit von Italien herzuleiten ist 2). Das scheint ein harter Schlag für die Vorkämpfer deutscher Eigenart, die den nationalen Charakter der deutschen Kunst darzulegen sich bestreben, gerade in dieser mittelalterlichen Periode die Quintessenz germanischen Wesens sehen, und sie den modernen Architekten und Bildhauern zur Nacheiferung empfehlen. Sie behalten dennoch in eingeschränktem Maße Recht. Jene oberitalienischen Formen selbst haben einen starken germanischen Bestandteil, der aber nicht selbständig im Norden, sondern im Anschluß an die antiken Formen in Italien zum Ausdruck gelangt ist. Er zeigt seine Kraft nicht in der reinen Neuschöpfung, sondern in der Abwandlung. Und wie italienische Staaten, römische Sitten und Dialekte unter der Herrschaft germanischer Eindringlinge sich verändert haben, so hat auch die Kunst unter ihren Händen einen anderen Charakter angenommen. Unendlich schwer ist es, hier scharf zu scheiden, wie viel bei dieser durch die

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(1) Abgedruckt bei Julius v. Pflugk-Harttung, Iter Italicum I 1883, S. 477, zitiert bei Ratzinger, Forschungen zur Bayrischen Geschichte 1898, S. 579 und bei Hager, Bauten Regensburgs.

(2) Vgl. auch G. T. Rivoira, Le origini dell' architettura lombarda. Rom, 1901 1907 passim.

 

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Fremden bewirkten Wandlung ihren künstlerischen Neigungen, wieviel ihrem primitiven Kunstempfinden und ihrer ungeschulten Hand zuzuschreiben ist. Sicher aber ist es, daß die Germanen den abgeklärten antiken Ornamentgebilden, die aus einem gemeinsamen ästhetischen Zentrum mit den ganzen Bauten geschaffen waren und die als ein abgeschlossenes Endergebnis gewissermaßen festgehalten und nur leicht abgewandelt wurden, gegenüberstehen als Suchende, Variierende, mehr äußerlich Schmückende. Sie knüpfen an eine Kunst an, an der sie Freude haben, ohne ihren tiefsten Sinn zu kennen, und die sie umbilden, bis sie ihrem eigenen Sinn adäquat geworden ist. So war es in der Longobardenzeit und so war es in der Zeit des großen Aufstiegs am Ende des XI. Jahrhunderts in Italien. Und in dieser Entwicklung spielen auch die byzantinischen und orientalischen Formen eine nicht geringe Rolle. Sie stehen der klassischen Kunst häufig in einem ähnlichen Verhältnis gegenüber und werden von den neuen Stämmen umso leichter akzeptiert, als sie von ihnen zum Teil auch schon aufgenommen und modifiziert waren, bevor der Weg sie nach Italien führte. Und gerade auch die oberitalienischen Formen, die im XII. Jahrhundert auf den Norden zurückwirkten, haben starke byzantinische Einschläge. Formen wie das Adlerkapitäl leben seit der Antike in Byzanz weiter, und die Arkadiussäule in Konstantinopel (Abb. 36)

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1910/Abb-36-Arcadiussaeule-Konstantinopel.jpg

Abb. 36 Arcadiussäule. Konstantinopel

 

gehört zu den Ahnen. Auch den scharfen Steinschnitt der Blattkonturen, durch den die negativen Formen, d. h. die Zwischenräume zwischen den gewollten Formen eine größere Rolle spielen, haben die Italiener vermutlich von den Byzantinern gelernt und dann in Deutschland eingeführt.

Und eine der Ornamentik im Einzelnen entsprechende Gegenbildung gegen die Antike offenbart sich auch in der Behandlung der Fassaden im ganzen. Die mehr oder minder regelmäßigen Streifen von figürlich bearbeiteten Quadern, wie sie die Kirchenfassaden in Pavia, Mailand, Modena, Ferrara, Verona schmücken, geben ebenfalls die Neigung einer mehr äußerlichen, mit dem Bauwerk selbst nicht eng verwachsenen Schmückung kund, einer auch in den einzelnen Bestandtteilen mehr variierenden Zusammenfügung von Einzelheiten. Auch hier kann man wohl von einer Einwirkung außeritalischen Empñndens sprechen, und der Umstand, daß gerade in der alten Longobardenstadt Spoleto an der Kirche S. Pietro sich ähnliches findet, mag dabei nicht zufällig sein. Auch zu dieser Art des Schmuckes sind Parallelerscheinungen bei byzantinischen Bauten vorhanden, wie an San Marco in Venedig, an der kleinen Metropolis in Athen und an einigen russischen Kirchen (S. Georg in Iuriev Polski, Demetriuskirche in Wladimir) und es bedarf noch der Untersuchung, wie weit dieselben selbständig oder unter abendländischem Einfluß gebildet sind. An deutschen Bauten sieht man deutlich den Einfluß solcher Dekorationen, wenn auch oft nur in der Form einzelner Figurenquadern, die sporadisch verteilt sind. Die Schottenkirche in Regensburg steht als ein regelmäßig komponiertes Gesamtbeispiel den italienischen noch am nächsten, ärmer und ungeordneter sind die Beispiele in Schwaben [Johanneskirche in Schwäb. Gmünd, Kapelle in Belsen usw.] 1). Bei der alten Peterskirche in Hirsau sind ziemlich un-

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(1) Vgl. Fastenau, Die romanische Steínplastik in Schwaben. 1907.

 

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motiviert am Turm Tragfiguren von Menschen und Tieren verwandt, wie sie in Oberitalien Säulen oder Gebälk der Portale tragen, aber auch in ganz entsprechender sinnvoller Weise überträgt man die letzteren nach dem Norden wie in Königslutter und zahlreichen anderen Portalen im Süden und Westen von Deutschland. Auch die Felder der Rundbogenfriese sind wie in Oberitalien ein beliebter Ort für figürliche Plastik, vor allem an der Chorwand, die neben der Fassade besonders bevorzugt wird.

Da alle diese neuen Bildungen in der Bauornamentik in Italien im Zusammenhang mit der Zersetzung und Umwandlung der antiken Elemente durch die neuen nordischen Kräfte entstanden waren, ist es nicht verwunderlich, daß die Deutschen der Heimat diesen mit aus ihrem Geiste geborenen Bildungen am zugänglichsten waren, am leichtesten an sie anknüpften und im gleichen Sinne weiterarbeiteten.

 

 

 

Veröffentlicht in:

Diesen Vortrag hielt Adolph Goldschmidt auf dem Historikerkongreß 1908 in Berlin und er wurde in den Monatsheften für Kunstwissenschaft, III. Jahrgang 1910, Heft 8/9 S. 299 - 314 abgedruckt.

 

Der deutsche Kunsthistoriker Adolph Goldschmidt war nach seiner Dissertation1893 Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin. Der Schwerpunkt seiner Forschungstätigkeit lag im Bereich der Kunst des Mittelalters. 1903 wurde er ordentlicher Professor für Kunstgeschichte in Berlin, 1904 an der Universität Halle. Ein 2007 am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin gegründetes Adolph-Goldschmidt-Zentrum versteht sich in Würdigung seiner Verdienste als Forum für die wissenschaftliche Erforschung der Skulptur des 11. und 12. Jahrhunderts.

 

 

 

 

 

 

 

Adolph Goldschmidt: Die Stilentwicklung der romanischen Skulptur in Sachsen

DIE STILENTWICKELUNG D. ROMAN. SKULPTUR IN SACHSEN VON A. GOLDSCHMIDT 225

 

DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

von ADOLPH GOLDSCHMIDT

Mit den Schlagworten romanisch und gotisch ist es nicht leicht, in der deutschen Skulptur des XIII. Jahrhunderts zu schalten. In der Architektur sind die maßgebenden Kennzeichen deutlicher, in der Skulptur und Malerei aber kann man schwanken. Deutschland erhielt die gotischen Anregungen aus Frankreich, und der Grad dieser Anregungen ist eben in den verschiedenen Werken und Kunstgebieten verschieden stark; es finden sich Skulpturen, deren Genossen in Frankreich gotisch heißen, an Bauten, die ihrem Charakter nach noch romanisch sind, und man kann sich veranlasst fühlen, auch sie nun als romanisch zu bezeichnen, wie am südlichen Querschiff des Straßburger Münsters, im Chor des Magdeburger Domes und an der Freiberger goldenen Pforte. Diese Figuren aber sind weder rein romanisch noch rein gotisch, sie sind eben eine Mischung der älteren einheimischen Kunst mit den Erzeugnissen französischer Gotik, und der Ausdruck ist daher nicht treffend, wenn man sie schlechthin als Blüte der romanischen Skulptur bezeichnet. Der monumentale Stil der Gotik hat bereits mitgeholfen. sie zu gestalten.

Einer passenden Namengebung muss eine sorgfältige Analyse dieser Skulpturen vorangehen, die sich am besten in den sächsischen Ländern durchführen lässt, wo sich zwischen Weser und Elbe, von Hildesheim bis Freiberg a. d. Mulde, im XII. und XIII. Jahrhundert für die Skulptur eine besonders reiche Schaffensstätte bot: der Versuch, Altes und Neues, Einheimisches und Fremdes zu trennen, verspricht hier schon wegen der größeren Fülle von Material guten Erfolg.

Nachdem die Plastik der ottonischen Zeit am Ende des XI. Jahrhunderts verkümmert war, bewegte sich in Sachsen die Skulptur auf einem sehr niedrigen Niveau, von dem sie erst am Ende des XII. Jahrhunderts emporstieg. Es lassen sich vom XII. bis in den Anfang des XIII. Jahrhunderts drei verschiedene Stile trennen, die auch zeitlich einander folgenden Entwickelungsstufen entsprechen.

Der ersten Gruppe gehören z. B. folgende Denkmäler an:

Quedlinburg, Schlosskirche, Grabsteine von Äbtissinnen;

Magdeburg, Dom. Grabfigur des Bischofs Friedrich von Wettin, aus Bronze;

Hildesheim, Michaelskirche. Stuckreliefs der Seligpreisungen;

Kloster Gröningen, Figuren an der Brüstung der Westempore;

Gernrode, Stiftskirche, Skulpturen der heiligen Grabkapelle.

Das Gemeinsame all dieser Figuren besteht darin, dass die Modellierung nur im allergröbsten stattfindet: der Faltenwurf wird nur durch eingeschnittene Linien oder durch schematisch übereinandergeschichtete flache Falten mit Zickzackkontur

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226 DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

ausgedrückt, die Körper sind steif und die Bewegungen der Glieder eckig und mit möglichster Vermeidung jeder Verkürzung. Die Köpfe sind ausdruckslos mit großen glotzenden Augen und nur durch Haar und Bart in oberflächlicher Weise unterschieden. Dieser Stil füllt den größten Teil des XII. Jahrhunderts aus.

Aus der Reihe der Äbtissinnen in der Schlosskirche zu Quedlinburg gehören drei hierher. 1) Ihren wohlerhaltenen Inschriften nach sind es die Platten der Äbtissinnen Adelheid (gest. 1044: Fig. 1), Beatrix (gest. 1062) und Adelheid II. (gest. 1095).

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-1-Grabstein-Aebtissin-Adelheid-I-in-der-Schlosskirche-zu-Quedlinburg.jpg

Fig. 1 Grabstein der Äbtissin Adelheid I. In der Schlosskirche zu Quedlinburg

 

Alle drei aber sind einander so gleich, dass sie gleichzeitig angefertigt sein müssen, also frühestens beim Tode der dritten, 1095. Wahrscheinlicher aber noch ist, dass ihre Entstehungszeit nicht vor 1129 fällt, da ein Brand die Kirche stark beschädigte und die Neuweihe nach einer Wiederherstellung als eine passende Gelegenheit erscheint, gleichzeitig eine ganze Gräberreihe herstellen zu lassen. Während das Bronzegrabmal Rudolfs von Schwaben (gest. 1080) in Merseburg uns noch den Ausläufer der höherstehenden Kunst des ottonischen Zeitalters zeigt, stehen diese Grabdenkmäler auf der Stufe tiefsten Verfalls.

Ihnen folgt zeitlich das Bronzegrabmal des Erzbischofs Friedrich von Wettin (gest. 1152) im Dom zu Magdeburg (Fig.2). Dieses Denkmal nimmt in der Kunstgeschichte noch immer eine falsche Stellung ein. Gewöhnlich geht es unter dem Namen Erzbischof Giselers (gest.1004}, während man ein zweites, späteres Bronzegrabmal ebenda mit Friedrich bezeichnet. Schnaase setzt die Entstehung demzufolge um 1004, 2) Springer, der sich wegen der kleinen Gestalt des Dornausziehers unter der Fußplatte eingehender mit dem Werke beschäftigt, in die erste Hälfte des XI. Jahrhunderts. 3) Bode benennt es auch Giseler, setzt aber die Entstehung erst um die Wende vom XI. zum XII. Jahrhundert; 4) ihm schließt sich auch neuerdings noch Hermann Schweitzer an. 5) Nun steht aber erstens in der Grabinschrift, die allerdings keinen Namen enthält, als Todesdatum der 15. Januar, an welchem Tage nicht Giseler, sondern

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1) Abgebildet in W. Haase und Fr. Quast, Die Gräber der Schlosskirche zu Quedlinburg. Aufnahme der Meidenbauerschen Messbildanstalt. Vergl. Bode, Geschichte der deutschen Plastik S. 30.

2) Schnaase, Gesch. d. bildenden Künste, Bd. IV, S. 667.

3) Springer, Bilder aus der neueren Kunstgeschichte, Bd. I, S. 12.

4) Bode. a. a. O. S. 29.

5) Hermann Schweitzer, Die mittelalterlichen Grabdenkmäler in den Neckargegenden u. s. w. 1899. Studien zur deutschen Kunstgeschichte. Heft 14, S. 11.

 

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227 VON ADOLPH GOLDSCHMIDT

Friedrich von Wettin (1152) starb, und zweitens kommt eine vollständig übereinstimmende Bischofsfigur mehrmals auf den Korssunschen Thüren in Nowgorod vor, die in den ersten Jahren der Regierung Wichmanns, des Nachfolgers Friedrichs, in Magdeburg zwischen 1152 und 1156 hergestellt sind (Fig 3). Die Thürfiguren zeigen eine fast identische Form und eine genau gleiche Behandlung des Ciseleurs an Ohren und Haaren, so dass derselbe Künstler für beide anzunehmen ist. 1) Steht es somit fest, dass es sich hier um das ungefähr 1152 entstandene Grabmal Friedrichs handelt, so ist die notwendige Folge, dass das jüngere Magdeburger Bronzegrab (Fig. 4)

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-2-Grabmal-des-Bischofs-Friedrich-v-Wettin-im-Dom-zu-Magdeburg.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-3-Bischof-von-den-Korssunschen-Thueren-in-Nowgorod.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-4-Bronzegrabplatte-eines-Bischofs-im-Dom-zu-Magdeburg.jpg
Fig. 2 Grabmal des Bischofs Friedrich v. Wettin im Dom zu Magdeburg Fig. 3 Bischof von den Korssunschen Thüren in Nowgorod Fig. 4 Bronzeplatte eines Bischofs im Dom zu Magdeburg

 

 

nicht eben dieser Friedrich sein kann, wie gewöhnlich angenommen wird, sondern frühestens den folgenden Erzbischof Wichmann gest. (1192) oder den nächstfolgenden

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1) In der Sitzung der Kunstgeschichtlichen Gesellschaft in Berlin vom 26. Nov. 1897 wies ich bereits darauf hin. Wenn man, wie Springer, in dem kleinen Dornauszieher zu Füßen des Magdeburger Bischofs eine Beziehung zur Antike sieht, so ist diese dem veränderten Datum gemäß hier nicht mehr, wie Springer es thut, als Nachleben in ottonischer Zeit anzusehen, sondern eher als eine erste Regung des erneuten Interesses im XII. Jahrhundert. Für die Herstellung der Photographie des Bischofs nach dem Abguss der Korssunschen Thüren im Germanischen Museum bin ich Herrn Direktor Bezold zu Dank verpflichtet.

 

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228 DIE STlLENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

Ludolf (gest. 1205) darstellen kann. Dieses Grabmal gehört auch bereits dem folgenden Stil an.

Dagegen sind noch von größter Unentwickeltheit die Reliefs der 9 weiblichen Gestalten mit Schriftbändern im südlichen Seitenschiff der Michaelskirche in Hildesheim an den Wandzwickeln über den Kapitellen. Die Ähnlichkeit mit den Äbtissinnen von Quedlinburg ist sehr groß, auch die Kleidung dieselbe, eine in der Hüfte gegürtete Ärmeltunika und eine kurze Pänula mit Gesichtsausschnitt 1) Ein bestimmtes Datum steht nicht fest, doch ist anzunehmen, dass 1164, als man nach dem Brande urkundlich die Säulenkapitelle restaurierte, auch diese unmittelbar auf ihnen stehenden Stuckreliefs angebracht wurden, zugleich mit den Stuckdekorationen in den Bogenleibungen zwischen ihnen.

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-5-Relief-der-Westempore-im-Kloster-Groeningen.jpg

Fig. 5 Relief der Westempore im Kloster Gröningen

 

In den Figuren Christi (Fig. 5) und der Apostel an der Brüstung der Westempore der Kirche von Kloster Gröningen in der Nähe von Halberstadt 2) ist die Behandlung allerdings ein gutes Teil plastischer, der Bildhauer begnügte sich auch nicht mehr mit Einritzung der Falten, und die Absicht einer Belebung tritt darin hervor, dass jedem der Apostel eine etwas andere Lage des Mantels und eine verschiedene Haltung der Hände und des Buches gegeben wird; aber die Drapierung ist noch äußerst schematisch, und die Beine sind immer ganz gleichmäßig gerade nebenein-

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1) Der ganz verständnislose moderne Anstreicher dieser Figuren hat ihnen noch einen Mantel hinzugemalt und ihre geöffneten Augen durch einen Strich in geschlossene verwandelt.

2) Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Sachsen, Heft XIV, Kreis Oschersleben, S. 94ff. - In der Mitte thront der Christus des Jüngsten Gerichts auf dem Regenbogen mit entblößten Wundenmalen. Über seine Handgelenke sind Schriftbänder gelegt, welche einst die Sprüche des Gerichts „Venite benedicti . . .“ und „Ite maledicti . . .“ trugen. Zu beiden Seiten saßen die jetzt nicht mehr ganz vollzähligen Apostel, und die Malerei des Mittelschiffs, deren Spuren an Bogen und Zwickeln noch zu sehen sind, vervollständigten vielleicht den Cyklus zur Darstellung des Jüngsten Gerichtes. Die Skulpturen zeigen noch die Reste alter Bemalung, außer dem roten Untergrunde das Hellblau der Tunika und das Rot des Mantels an einem der Apostel.

 

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229 VON ADOLPH GOLDSCHMIDT

ander gesetzt. Man ist geneigt, diese Skulpturen eben wegen jener Versuche zur Belebung zeitlich später anzusetzen als die bisher genannten, vielleicht um 1170.

Auf ähnlicher Bildungsstufe befinden sich die figürlichen Reliefs der heiligen Grabkapelle in der Stiftskirche zu Gernrode 1) Die weibliche Figur an der Westseite zeigt noch deutlich den Zusammenhang mit den Quedlinburger Äbtissinnen, ist aber schon freier und runder gestaltet, und bei der Christusgestalt an der Nordseite (Fig. 6) treten schon reichere Motive auf in dem flatternden Mantelende und der etwas gesuchteren Gestaltung der eingeschnittenen Falten. In dieser Figur sehen wir schon einen leisen Hinweis auf die nächste Stilrichtung, und so wird man wohl nicht fehlgehen, wenn man auch sie schon in das letzte Drittel des XII. Jahrhunderts setzt.

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-6-Segnender-Christus-in-der-Stiftskirche-zu-Gernrode-IMG-5904.jpg

Fig. 6 Segnender Christus in der Stiftskirche zu Gernrode

 

Am Ende dieses Jahrhunderts, im letzten Jahrzehnt, beginnt nun plötzlich in Sachsen eine starke Bewegung. Fast ungestüm sucht man sich von den steifen, schematischen, leblosen Formen freizumachen, Ausdruck in die Köpfe und natürliche Bewegung in die Gewandung zu bringen. Auch für diese Anfänge lässt sich eine Gruppe zusammenstellen.

Wieder geht man am besten von den Grabsteinen aus. Es gehören in diese Zeit der des Bischofs Adelog (gest. 1190) von Hildesheim (Fig. 7) in der Domgruft, derjenige der Äbtissin Agnes (gest. 1203) von Quedlinburg in der Schlosskirche 2) und das zweite Magdeburger Bronzegrab (Fig. 4) welches, wie wir oben sahen, entweder dem Erzbischof Wichmann (gest. 1192), oder Ludolf (gest. 1205) gewidmet sein muss. An der Statue Adelogs fällt vor allem die scharfe individualisierende Ausarbeitung des Kopfes auf, die durch eine ungeheure Kluft von dem früher Geleisteten getrennt wird; dem entspricht die sorgfältige Beobachtung der Hände, während die Falten von Tunika und Kasel noch in schematischen Streifen und Zickzack verlaufen, allerdings in vollerer Ausrundung als bisher. Der Quedlinburger Grabstein zeigt ebenfalls in der Hauptsache noch einen fast symmetrischen, aber schon freier im Relief behandelten Faltenwurf, dazwischen aber am Halssaum und am vorn herabhängenden Teil der Pänula ein feines paralleles Gefältel, dessen Kanten bei den Biegungen sich richtig überschneiden. Solches Gefältel bildet fortan das Hauptmittel des Künstlers zur Ausgestaltung der Gewandung; und bei dem Magdeburger Bronzebischof (Fig. 4) sehen wir es vollständig entwickelt. Umfangreichere Skulpturen schließen sich eng an diese Grabmäler an. So ist offenbar von der gleichen

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1) Puttrich, Denkmale der Baukunst des Mittelalters im Königreich Sachsen, Bd. I.

2) Abbildung bei Haase und Quast, a. a. O.

 

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230 DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-7-Grabstein-des-Bischofs-Adelog-in-der-Domgruft-zu-Hildesheim.jpg

 

Fig. 7 Grabstein des Bischofs Adelog in der Domgruft zu Hildesheim

 

Künstlerhand wie das Adelog-Grabmal auch das mit Recht gerühmte Thürfeld an der Hildesheimer St.Godehardskirche mit dem Brustbild Christi zwischen den Heiligen Godehard und Epiphanius, das demgemäß wohl auch am Ende des Jahrhunderts entstanden sein wird. Die ganz gleiche Behandlung der Bischofsköpfe giebt hierfür den Beleg (Fig. 8).

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-8-Ausschnitt-aus-dem-Portalrelief-der-Godehardskirche-in-Hildesheim-IMG-1906.jpg

Fig. 8 Ausschnitt aus dem Portalrelief der Godehardskirche in Hildesheim

 

Der Christuskopf ist von hervorragender Schönheit (Fig. 9 und 10) und dieses Tympanon das erste bedeutendeMonumentalwerk einer neuen Zeit in Sachsen. 1)

Wie mit dem Adelog-Grabmal das Godehard-Tympanon, sind mit dem Magdeburger Grabmal die Chorschranken der Michaelskirche in Hildesheim nahe verwandt. 2) Da auf ihnen der erst 1192

kanonisierte Bernward einen Nimbus zeigt, können sie nicht vor diesem Datum entstanden sein. Sie zeigen dieselbe Art des feinen Gefältels, das sich in Parallelen hinzieht, in herabhängenden Biegungen sich überschneidet, sich auch öfters unmotiviert staut oder zusammenschiebt, wozu schon ein Vorklang in den Gernroder Figuren zu bemerken war. Diese großen Reliefs der Madonna und Heiligen werden darin noch übertroffen von kleineren Scenen aus den Evangelien, die sich früher vermutlich auch an den Abschlusswänden des Chores befanden, beim Einbruch des südlichen

Turmes zerstört wurden und von denen Fragmente bei Bauarbeiten aufgefunden und im Museum der Andreaskirche

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1) Abbildung bei Hasak, Gesch. d. deutschen Bildhauerkunst S. 28. Bode, Gesch. d. deutschen Plastik, S. 42, ist geneigt, dieses Tympanon erst in die Mitte des XIII Jahrhunderts zu setzen, doch halte ich das wegen seiner engen Verwandtschaft mit dem Adelog-Denkmal für unmöglich, welches schon wegen der noch ziemlich bewegungslosen Gewandung ganz früh in der hier besprochenen Stilperiode, die auch dem Todesdatum entspricht, angesetzt werden muss.

2) Abbildung einzelner Teile bei Max G. Zimmermann, Kunstgeschichte I, S. 484; Weese, Die Bamberger Domskulpturen, Abb. 4 und 5.

 

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231 VON ADOLPH GOLDSCHMIDT

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-9-Christusrelief-vom-Portal-der-Godehardskirche-in-Hildesheim-nach-einem-Abguss-vor-der-Renovation.jpg tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-10-Byzantinisches-Christusrelief-im-South-Kensington-Museum-in-London-vergroessert.jpg
Fig. 9 Christusrelief vom Portal der Godehardskirche in Hildesheim (nach einem Abguss vor der Renovation) Fig. 10 Byzantinisches Christusrelief im South Kensington-Museum in London (vergrößert)

 

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-9-Christusrelief-vom-Portal-der-Godehardskirche-in-Hildesheim-IMG-2112.jpg

Einfügung: Fig. 9 Christusrelief vom Portal der Godehardskirche in Hildesheim (Foto 2014)

 

Jahrbuch d. K. Preuß. Kunstsamml. 1900 33

 

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232 DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

aufgestellt sind. Die Draperie einer im Bett liegenden Frau ist dafür charakteristisch (Fig. 12). 1) Diese schon an Übertreibung leidende Belebung der Gewandflächen setzt sich fort an den Chorschranken der Liebfrauenkirche in Halberstadt. Sie sind wohl ein wenig später als die Hildesheimer, aber noch ganz in den Anfang des XIII. Jahrhunderts, zu setzen (Fig. 13). 2)

In den Figuren Christi, derMaria und der Apostel zeigt der Künstler unverhohlen seine Sucht, die Gewandung durch paralleles und geschwungenes Gefältel in Bewegung zu setzen, die Köpfe ausdrucksvoll und wechselnd zu gestalten, die Stellung und Gesten der einzelnen Personen möglichst zu variieren.

Man sieht also, wie in diesem engen Zeitraum von etwa 1190-1210 ein plötzliches Erwachen stattfindet, ein Erkennen der Unwahrheit und Starrheit des bis-

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-11-Vergroesserter-Ausschnitt-aus-einer-byzantinischen-Elfenbeinplatte-im-South-Kensington-Museum-zu-London.jpg

 

Fig. 11 Vergrößerter Ausschnitt aus einer byzantinischen Elfenbeiplatte im South Kensington-Museum zu London

 

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-12-Fragment-aus-der-Michaeliskirche-in-Hildesheim.jpg

Fig. 12 Fragment aus der Michaelskirche in Hildesheim

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1) Dazu gehört ein Fragment des Abendmahls, der Zuführung der Eselin zum Einzug Christi in Jerusalem und in Stil und Größe etwas abweichende Bruchstücke der drei Frauen am Grabe.

2) Photographien der einzelnen Figuren bei Louis Koch in Halberstadt. Abbildungen bei Hasak, Gesch. d. deutschen Bildhauerkunst S. 17-19.

 

 

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233 VON ADOLPH GOLDSCHMIDT

 

her Geschaffenen, eine außergewöhnlich große Steigerung in dem Bedürfnis, die Darstellungen lebenswahrer, eindringlicher, reicher zu gestalten.

 

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Fig. 13 Von den Chorschranken der Liebfrauenkirche zu Halberstadt

 

Dem liegt natürlich ein inneres Wachstum der künstlerischen Anschauung und des künstlerischen Vermögens zu Grunde: aber besaßen die Bildhauer in sich selbst die Mittel, solche plötzlich gesteigerten Bedürfnisse zu befriedigen? Die alte Lehrmeisterin, die Antike, die nicht nur in der Renaissance, sondern auch im Mittelalter immer wieder ihre Kraft bewies, half ihnen, aber nicht in ihrer reinen Gestalt, sondern in byzantinischer Umformung. Die byzantinische Kleinkunst bildete gleichsam die Konserven der Antike im Mittelalter, deren man sich zur Zeit der Not bediente. Eine Wandlung im Ausdruck der Köpfe, wie er von dem Christus in Kloster Gröningen (Fig. 5) zu dem am Portal von St. Godehard in Hildesheim stattgefunden hat, ist bei dem kurzen Zeitunterschied von vermutlich nur 20 Jahren nicht ohne äußere Hilfsmittel denkbar. Dass diese von byzantinischen Vorbildern geliefert wurden, zeigt deutlich eine Vergleichung des Hildesheimer Kopfes mit dem Christustypus byzantinischer Elfenbeinplatten des X. bis XII. Jahrhunderts, z. B. mit dem aus einer Platte herausgeschnittenen thronenden Christus im Kensington-Museum in London 1) (Fig.9 und 10). Alles was der Hildesheimer Kopf gegenüber den älteren wie dem von Kloster Gröningen Neues bringt, ist in dem griechischen vorhanden, das stark gewellte Haar und der krause Vollbart, die höhere, stark modellierte Stirn und das höher darüber entwickelte Haar, die stark hervorstehenden Augenknochen mit den mehr giebelförmig als halbrund gestalteten Brauen, die wirklich plastisch ausgearbeiteten Augenlider, die tiefen Züge neben der Nase und die sorgfältige Modellierung der Lippen. Und wenn man den Kopf des Bischofs Adelog (Fig.7), der von demselben Meister herrührt, neben einen byzantinischen stellt (Fig. 11), so sieht man auch hier, wie sehr jener sich in der Bildung der Nase mit den hochliegenden etwas aufgeblähten Nasenlöchern und den tiefen Furchen zur Seite, in dem Mund mit den erweiterten Mundwinkeln und der in der Mitte stark gesenkten Oberlippe nach einem solchen Vorbild gerichtet hat. Derartigen Werken suchte man eben abzulesen, was man selbständig an Ausdrucksmitteln nicht besaß. Erst mit ihrer Hilfe schöpfte man freier aus der Natur.

Tritt dies auch nicht überall so deutlich hervor, so kann man doch auch bei den Köpfen der Hildesheimer und Halberstädter Chorschranken die den byzanti-

 

1) Maskell, Ancient and Mediaeval Ivories in the South Kensington Museum p. 110;

Graeven, Elfenbeine, Lief. I Nr. 61.

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234 DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

nischen Köpfen entlehnten Züge, wenn auch versteckter, bemerken. Trotzdem die Köpfe in ihrer Gesamterscheinung einen ganz eigenen Charakter angenommen haben, so kann man doch die Verwendung der einzelnen Gesichtsmotive beobachten und sieht auch häufig noch eine Gesamtähnlichkeit durchschimmern, wie z. B. bei dem Jakobus und dem Simon in Halberstadt mit dem Paulus und Petrus byzantinischer Reliefs, etwa des Harbaville-Triptychons im Louvre. 1)

Was sich an den Halberstädter Aposteln aber weit deutlicher wahrnehmen lässt als die Beziehung der Köpfe zu griechischen Vorbildern, ist die Benutzung byzantinischer Gewandmotive, wie die Elfenbeinreliefs sie darboten. Wer eine Reihe solcher vom X. bis XIII. Jahrhundert im Abendland eingeführten Elfenbeine mustert, der wird sehr bald bemerken, dass außer den einfach vertikalen oder horizontalen Falten des herabfallenden oder des umgeschlagenen Mantels eine bestimmte Reihe von besonderen, sich aber stets wiederholenden Motiven zur größeren Abwechslung und Bereicherung dienen. Es sind dies:

1. das über das Armgelenk fallende, vom Stuhl aufgehaltene und daher in schlängelnden Falten sich zusammenbiegende Mantelende, welches fast immer neben der linken Hand des thronenden Christus wiederkehrt;

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-14-1-Gewandmotiv-aus-byzantinischen-Elfenbeinreliefs.jpg

Fig. 14.1 Gewandmotiv aus byzantinischen Elfenbeinreliefs

 

2. der über die Schulter geworfene Mantel, dessen Saum am Oberarm aufgerafft eine dachförmige Falte bildet, wie sie sich stereotyp bei der Madonna wiederholt, aber auch bei anderen Figuren vorkommt;

 

tl_files/Fotos/Adolph_Goldschmidt_1900/Fig-14-2-Gewandmotiv-aus-byzantinischen-Elfenbeinreliefs.jpg

Fig. 14.2 Gewandmotiv aus byzantinischen Elfenbeinreliefs

 

3. die vom Mantel umrahmte Hand beim segnenden Christus wie auch bei den einzelnen Heiligengestalten;

 

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Fig. 14.3 Gewandmotiv aus byzantinischen Elfenbeinreliefs

 

4. der in die Umgürtung eingeschobene Ärmelbausch, besonders bei Christus und beim Johannes neben dem Kruzifix typisch.

 

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Fig. 14.4 Gewandmotiv aus byzantinischen Elfenbeinreliefs

 

Kleinere weniger auffallende Motive sind der umgeschlagene Gewandsaum und die sackförmige Hängefalte.

Diese Motive hatte das frühe Mittelalter schon vielfach aus der antiken und der byzantinischen Kunst übernommen, und zwar in einfacher, nachahmender Form: im Verfall der deutschen Kunst aber seit der zweiten Halfte des XI. Jahrhunderts waren sie entweder ganz verschwunden oder zu linienhaften Andeutungen erstarrt. Die sich belebende Kunst vom Ende des

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1) Abbildung bei Molinier, Ivoires, Pl. IX.

 

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235 VON ADOLPH GOLDSCHMIDT

 

XII. Jahrhunderts griff nun wieder zu diesen alten Motiven, kopierte sie aber nicht streng, son-

dern übertrieb und verschnörkelte sie in ihrem Übereifer.

Es ist interessant, die Elfenbeinmotive und ihre Verwendung bei den Halberstädter Aposteln nebeneinanderzustellen (Fig. 14 und 15).

1. Der gewellte, auf den Stuhl fallende Mantelzipfel erhält statt der einfachen Schlinge eine doppelte oder windet sich in ungerechtfertigter Weise in gezwungenen Kurven.

 

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Fig. 15.1 Gewandmotive der Halberstädter Apostel

 

2. Die Dachfalte an der Schulter neben den die Brust schräg überschneidenden Mantelfalten wird kopiert, aber die Zahl der kleinen Dreiecke der herabfallenden Stoffseiten vermehrt; auch begnügt sich der Deutsche nicht mit der Wiedergabe des einfachen byzantinischen Motivs, sondern er wiederholt es ähnlich mehrmals untereinander.

 

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Fig. 15.2 Gewandmotive der Halberstädter Apostel

 

3. Die Hand, die bei dem Byzantiner aus der Mantelhülle einfach herausragt, wird von dem deutschen Künstler mit komplizierteren Mantelwindungen ganz umrahmt.

 

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Fig. 15.3 Gewandmotive der Halberstädter Apostel

 

4. Der einfach umgeschlagene und in die Gürtung eingeschobene Ärmelbausch wird in seinen Falten stark multipliziert und gleichzeitig ein anderer Mantelzipfel noch daneben eingesteckt.

 

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Fig. 15.4 Gewandmotive der Halberstädter Apostel

 

Der Deutsche glaubte den Byzantiner noch zu übertreffen an Lebendigkeit und Bewegung, wenn er die Motive verdoppelte und verdreifachte, wenn er die Zahl der Falten vermehrte und ihrem Verlauf einen extravaganten Schwung gab. Aus der Versetzung der Motive und ihrer Verknüpfung durch gerade und geschwungene Faltenbündel, der Einschiebung von herabhängenden Faltenbauschen setzen sich die Figuren zusammen. Die physikalische Möglichkeit solcher Gewandlagen wurde zwar nicht außer acht gelassen, aber sie scheint etwas Sekundäres, dem Reichtum der Linienbewegung Untergeordnetes. Das zeichnerische und dekorative Element herrscht stark vor und lässt eine einfach plastische Gestaltung der Figuren mit Ausnahme der Köpfe nicht recht aufkommen. Bei

 

 

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236 DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

komplizierten Stellungen des Körpers sind auch sonderbare Verrenkungen wie bei den übergeschlagenen Beinen des Simon nicht ausgeschlossen.

Dieselbe Aufnahme und Verarbeitung byzantinischer Motive zeigt auch die Malerei in Deutschland seit dieser Zeit. Noch leichter wurde es ihr als der Plastik, mit den kopierten Motiven zu schalten, und vielfach wird sie ihr darin vorangegangen sein. Am Rhein setzt schon um die Mitte des XII. Jahrhunderts in den Wandmalereien zu Schwarzrheindorf diese Wiederaufnahme der byzantinisch-antiken Motive ein. Westfalen und Sachsen folgen später, aber mit noch größerer Energie. In den Buchmalereien der verschiedenen deutschen Gebiete sehen wir die gleiche Erscheinung, z. B. in dem Gebetbuch der Äbtissin Hildegard bei Bingen (gest. 1190), 1) im Gebetbuch aus St. Ehrentrud in Salzburg um 1200 2) in ganz manierierter Weise schnörkelhaft in dem Bruchsaler Evangeliar I in der Bibliothek in Karlsruhe.

Die Skulptur hat nun sicher in vielen Fällen die gezeichneten und gemalten Motive einfach in das Plastische übertragen, ohne wie bei den Köpfen des Godehardtympanons direkt auf die byzantinischen Vorbilder zurückzugehen. 3)

Vöge hat die Bedeutung byzantinischer Vorbilder für die romanische Malerei und Plastik in Frankreich und Deutschland bereits mit Nachdruck hervorgehoben. 4) Er hat dies besonders mit Rücksicht auf die älteren Bamberger Skulpturen gethan und eine ganze Reihe von wesentlichen Punkten gezeigt, auf die bei einer Betrachtung der Skulptur und Malerei des XII. und XIII. Jahrhunderts zu achten ist. Seine Ausführungen haben auch die Beziehungen jener Bamberger Skulpturen

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1) München, Staatsbibliothek Cod. lat. 935.

2) Ebenda Cod. lat. 15902 (Vergl. Janitschek, Geschichte der deutschen Malerei, S. 136)

3) Die Zahl der noch erhaltenen byzantinischen Elfenbeinskulpturen, die vom Ende des X. bis zum Anfang des XIII. Jahrhunderts nach dem Abendland importiert wurden, ist eine ganz beträchtliche, und wir können annehmen, dass sie damals noch eine erheblich größere war. Es waren fast durchweg kleine Klappaltärchen, zwei- oder dreiteilig, die man jedoch nicht immer ihrem Zweck entsprechend benutzte, sondern sie auseinandernahm, in die einzelnen Figuren zersägte und zum Schmuck von Büchereinbänden verwandte. Daneben kamen in geringerem Maße Schmuck- oder Reliquienkästen in Frage, die, mit figürlichen Platten zwischen Ornamentstreifen belegt, häufiger ältere mythologische Gegenstände repetierten als christliche Darstellungen zeigten.

Unter den Diptychen und Triptychen treten diejenigen mit Darstellungen biblischer Scenen zurück gegenüber solchen mit fast stereotypen Wiederholungen der Einzelfiguren Christi und der Madonna in stehender oder thronender Gestalt oder als Brustbild, des Kruzifixus zwischen Maria und Johannes, Christi inmitten der anbetenden Maria und Johannes dem Täufer und verschiedener einzelner Heiliger.

Durch die Ähnlichkeit der sich stets allerdings in größerer oder geringerer Güte der Arbeit wiederholenden Typen, durch die gleiche Art der Faltenbehandlung und der Kopfbildung und das Festhalten an alten künstlerisch wirksamen Motiven in der Anordnung der Gewandung war ihr Einfluss auf die abendländischen Künstler besonders nachdrücklich, und wiederholt im Verlaufe des Mittelalters entnimmt ihnen die deutsche Kunst die Anregung zu neuen Schöpfungen.

Die byzantinischen Vorbilder bestanden nicht nur in Elfenbeinen, sondern auch in Goldschmiedearbeiten, die uns aber wenig erhalten sind, ferner in Buchmalereien und Emails, wozu als indirektes Ubertragungsmittel auch die stark byzantinisierenden Limousiner Emails zu rechnen sind.

4) Über die Bamberger Domskulpturen, im Repertorium für Kunstwissenschaft, Band XXII 1899, S. 94.

 

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237 VON ADOLPH GOLDSCHMIDT

 

vom Georgenchor zu Frankreich auf das Gemeinsame der ursprünglich byzantinischen Quellen beschränkt oder nur geringe direkte Zusammenhänge vielleicht durch die Kleinkunst zugegeben. Das Entsprechende lehrte die Untersuchung der sächsischen Skulptur jener Zeit, und diese Analogie wirft auch meinen Glauben an die französischen Quellen der frühen Bamberger Skulpturen um, den ich noch bei meiner Besprechung des Weeseschen Buches hegte. 1) An den Bamberger Aposteln können wir die Verwertung der gleichen byzantinischen Motive beobachten wie bei den Halberstädtern; nur die Art der Verarbeitung ist verschieden, das ornamentale Gefühl ist ein anderes. Vöge scheint mir den Einfluss byzantinischer Reliefs zu stark auf die frühbyzantinischen zu beschränken, worauf allerdings die größere Beweglichkeit jener älteren gegenüber denen des X. bis XII. Jahrhunderts zu deuten scheint. Die Hauptmotive sind aber auch bei diesem jüngeren Import vorhanden, und die starke Beweglichkeit der Nachahmungen ist wohl zum größeren Teil einem eigenen lebensuchenden und zugleich ornamentalen Triebe zu gute zu rechnen. 2)

Dieser stark bewegte Stil, bei dem auch die Ikonographie viel byzantinische Bestandteile zeigt, nimmt hauptsächlich in den westfälischen und sächsischen Ländern sehr bald einen anderen Charakter an. Er wird eckiger, scharfbrüchiger. Auch hierin geht die Malerei voran. Es ist, als ob die parallel verlaufenden, wenn auch gewundenen Faltengebilde nicht mehr dem Belebungsbedürfnisse genügten. Außer der sich schlängelnden Längsbewegung verlangte man nun auch noch gleichsam eine Breitenbewegung. Die Falten sollten in sich nicht mehr so gleichmäßig entlanglaufen, sie sollten breiter und dann wieder schmäler werden, sie sollten sich gabeln und statt der immerwährenden Rundung auch plötzliche Brechung zeigen. So entstehen spitzige Dreiecksformen, die Zipfel spreizen sich seitwärts oder schießen pfeilförmig aus den Konturen heraus. Diesem Stile gehören z. B. die Psalterien des Landgrafen Hermann von Thüringen an in Stuttgart und in Cividale, deren eines in die Zeit zwischen 1211 und 1217 zu setzen ist, ferner ein in Magdeburg 1214 geschriebenes Buch in der Dombibliothek zu Magdeburg Nr. 152. 3)

Die der Äbtissin Agnes (gest. 1203) zugeschriebenen Knüpfteppiche im Zitter zu Quedlinburg bilden eine Art Übergang der beiden Stile, stehen aber dem zweiten näher. Die Wandmalereien der Liebfrauenkirche in Halberstadt zeigen ihn voll entwickelt. 4)

Zur Reife sich auszubilden scheint der eckig bewegte Stil in der Malerei also im 2. Jahrzehnt des XIII. Jahrhunderts, und ihm folgt nun auch die Skulptur. Was der hin- und herfahrenden Zeichenfeder und .dem Pinsel leichter wurde, das erreichte mit etwas mehr Mühe und in geringerer Übertreibung auch der Meißel des Bildhauers.

Diesem sich ebenfalls hauptsächlich zeichnerisch neu entwickelnden Stile gehört eine Gruppe von Werken an, die früher schon ungefähr richtig datiert, kürzlich aber wieder von Hasak in seinem Buch über die deutsche Plastik des XIII. Jahrhunderts viel zu früh angesetzt wurden, obgleich er gerade bei diesen Denkmälern glaubt, sie

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1) Deutsche Litteraturzeitung 1898, S. 481.

2) Jedenfalls waren die jüngeren Elfenbeinreliefs mehr verbreitet als die gewiss schon spärlichen der justinianischen Zeit, zu denen man allerdings die vorbildliche Wirkung der abendländischen Nachahmungen aus der Zeit der Karolinger und Ottonen hinzurechnen muss.

3) Vergl. Haseloff, Eine thüringisch-sächsische Malerschule, S. 354 und S. 332. - Auch die übrigen in diesen Zusammenhang gehörigen Handschriften sind bei Haseloff behandelt.

4) Quast und Otte, Zeitschrift für christliche Archäologie und Kunst, Bd. II, Taf. XII.

 

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238 DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

als vollständig gesichert in ihrer Entstehungszeit hinstellen zu können. 1) Allerdings sind seine Beweise auch in keiner Hinsicht stichhaltig.

 

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Einfügung: Grabmal Heinrich des Löwen und seiner Gemahlin Herzogin Mathilde im Braunschweiger Dom

 

Es sind vor allem die Grabdenkmäler Heinrichs des Löwen (gest. 1195) und seiner Gemahlin im Braunschweiger Dom, des Markgrafen Dedo (gest. 1190) und seiner Gemahlin (gest. 1189) und des Wiprecht von Groitzsch in Pegau. 2) Die Todesdaten der Dargestellten haben ihn hier zur Datierung der Werke aus dem Ende des XII. Jahrhunderts verleitet. Hasak hätte aber hauptsächlich noch einen Grabstein hinzuziehen müssen, den er gar nicht erwähnt, nämlich den einer Quedlinburger Äbtissin aus der Schlosskirche. Die dortige Gräberreihe hat uns schon für die beiden vorigen Stilgruppen Beispiele geliefert, und gerade, weil sie eine fortlaufende Folge bildet, ist sie für die Bestimmung so wichtig.

 

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Fig. 16 Grabplatte in der Schlosskirche zu Quedlinburg

 

Das hier in Frage kommende Grabmal (Fig.16), welches mit dem der Gemahlin Heinrichs des Löwen in der Gewandanordnung, der Art der Aufbahrung so übereinstimmt, dass die innigste Verwandtschaft in Werkstatt und Entstehungszeit beider unabweisbar ist, trägt keinen Namen. Man könnte also im Zweifel sein, ob es einer der Agnes (gest. 1203), deren Grabstein bezeichnet ist, voraufgehenden oder folgenden Äbtissinnen angehört. Lässt uns nun schon die größere Belebung auf ein jüngeres schließen, so wird dies zur Gewissheit durch folgende Umstände. Noch ein zweites Grabmal befindet sich in der Reihe, das, obgleich sehr zerstört, doch noch erkennen lässt, dass es dem fraglichen äußerst ähnlich war, so dass die Entstehungszeit beider ziemlich nahe bei einander liegen muss. Nun fallen aber die Todesdaten der beiden der Agnes vorausgehenden Äbtissinnen in die Jahre 1160 und 1184, so dass also hier der Zwischenraum besonders groß ist und das frühere Todesdatum für diesen entwickelten Stil in eine viel zu frühe Zeit fallen würde, während die Äbtissinnen nach der Agnes sehr schnell aufeinanderfolgen mit den Jahren 1227, 1230, 1231, 1232 ihres Todes oder Amtsabschlusses. Ferner lehnt sich das durch Namensinschrift für die Äbtissin Gertrud (gest. 1270) bestimmte Grabmal noch ziemlich eng an die fraglichen Grabmäler an, was sehr unverständlich wäre, wenn diese in eine noch größere Zeitentfernung zurückrückten als das ganz andersartige Agnes-Grabmal (1203). Wir hätten also ungefähr die Zeit 1227 - 1232 als frühestes Datum für das fragliche Denkmal. Das Braunschweiger Denkmal ist bei genau denselben Motiven eleganter und besser aus-

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1) Hasak, Geschichte der Deutschen Bildhauerkunst im XIII. Jahrhundert, 1899, S.2 ff., wo auch Abbildungen dieser Denkmäler.

2) Gurlitt, Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen, Heft XV, S.91, mit Abbildungen

 

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geführt. Ein großer Zeitunterschied zwischen beiden ist unmöglich. Der Braunschweiger Dom wurde unmittelbar vor dem Tode Heinrichs des Löwen vom Blitz getroffen und litt stark unter dem Brande. Man wird da wohl zunächst eher an eine Wiederherstellung des Baues als an ein Prachtgrab gedacht haben. Die Neuweihe erfolgte erst im Jahre 1227 und gab die beste Gelegenheit auch für die Einweihung eines Denkmals Heinrichs und seiner Gemahlin. Auch hier fällt also die Wahrscheinlichkeit um das Jahr 1227. Der Sohn Heinrichs des Löwen, der Pfalzgraf Heinrich, der sehr wohl während seiner Herrschaft 1218 - 1227 die Veranlassung zur Herstellung dieses Denkmals gegeben haben kann, hatte zur Frau eine Enkelin des Grafen Dedo; diese Familienbeziehungen mögen beigetragen haben zu der nahe verwandten Werkstatt des Braunschweiger und des Wechselburger Denkmals.

 

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Fig. 17 Engel aus dem Mittelschiff der Kirche zu Hecklingen

 

Das Pegauer Grabmal des schon 1124 verstorbenen Stifters würde dann wegen seiner Stilverwandtschaft ebenfalls in diese Zeit zu setzen sein.

Allen ist gleichmäßig die künstliche Unruhe der Gewandung. Es ist, als brächte ein Wirbelwind Mantel und Unterkleid in unregelmäßiges kleines Gefältel und schöbe die Stoffe in Lagen, in die sie durch ihre Schwere nicht geraten können. Dass sich einige beherrschende Linien bilden, dazu dienen die Handlungen der Dargestellten selbst; besonders charakteristisch ist es, wie die Gemahlin Heinrichs und die Quedlinburger Äbtissin mit den betend zusammengelegten Händen ihren Mantel straff nach oben ziehen.

Die Köpfe dagegen zeigen im Gegensatz zu denen der vorher betrachteten Hildesheimer und Halberstädter Chorschranken einen weichlichen abgerundeten leicht lächelnden Typus, einen Idealtypus, den man wohl besonders für die Denkmäler der Verstorbenen ausbildete, denn schon die Grabsteine des Magdeburger Erzbischofs Ludolf (?) (Fig. 4) und der Äbtissin Agnes, die noch dem vorhergehenden Stil angehörten, zeigen diesen Typus, der auch für die Darstellung von Engeln Anwendung fand. Auch dieser idealisierende Kopftypus dürfte wohl mit den jugendlich bartlosen

 

Jahrbuch d. K. Preuß. Kunstsamml. 1900.   34

 

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240 DIE STILENTWICKELUNG DER ROMANISCHEN SKULPTUR IN SACHSEN

 

Köpfen auf byzantinischen Kunstwerken in Zusammenhang stehen. Engel, die dieser dritten Stilphase angehören, finden wir in der Kirche von Hecklingen bei Stassfurt 1), an den Wandzwickeln zwischen den Arkaden des Mittelschiffes (Fig. 17). Auch hier die breiten, zuweilen eckigen, zuweilen rundlichen Faltenmotive, auch hier gleiche unberechtigte Stauungen in dem Fall der Gewänder und die leicht lächelnden weichlichen Köpfe. Wie die Figuren der Grabmäler, ruhen auch die Engel mit den Füßen auf Blattkonsolen. Auch ein Gewölbeschlussstein mit dem Symbol des Evangelisten Matthäus (Fig. 19) im Bischofsgang des Magdeburger Domes gehört in diese Gruppe und kann der Baugeschichte nach nicht viel vor 1220 entstanden sein. Er zeigt den weichlichen Kopftypus mit dem Lächeln im Ubermaß und den charakteristischen Faltenwurf. Besonders spitzig in der Bewegung sind die Figuren an der Kanzel in der Neuwerkskirche in Goslar, und auch in der Kleinkunst fehlt es nicht an Werken, die diesen Stil auf das Deutlichste darstellen; es sei hier nur auf den Reliquienkasten aus vergoldeten Silberplatten hingewiesen, der sich im Zitter der Schlosskirche zu Quedlinburg befindet und die getriebenen Figuren der Kreuzigung auf dem Deckel, die sitzenden Apostel an den Seiten zeigt (Fig. 18). 2)

 

 

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Fig. 18 Reliquienkasten aus vergoldeten Silberplatten im Zitter der Schlosskirche zu Quedlinburg

 

So können wir in Sachsen vom XII. bis durch das erste Drittel des XIII. Jahrhunderts drei aufeinanderfolgende Stile unterscheiden, den ersten, den größten Teil des XII. Jahrhunderts einnehmenden, ohne feinere Modellierung der Formen, mit meist nur eingravierten Faltenlinien, steif und schematisch in den Bewegungen, mit ausdruckslosen Köpfen, den zweiten, mit der Neigung zu stark bewegter paralleler Fältelung in der Gewandung, tiefer ausgearbeiteten und sich überschneidenden Formen, mit ausdrucksvollen und schärfer charakterisierten Köpfen, in der Zeit von 1190-1210 ungefähr, und den dritten mit stärkster Bewegung, gewaltsamen, eckigeren Faltenmotiven und künstlicher Zerknitterung. Die Zeit 1220-1230 scheint hierfür den Höhepunkt zu geben.

Es liegt in dieser Aufeinanderfolge eine Entwickelung, die auf dem intensiven Suchen nach größerer Belebung und wahrheitsgemäßer Darstellung der menschlichen

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1) Büttner Pfänner zu Thal, Anhalts Bau- und Kunstdenkmäler S. 162 ff.

2) Kugler, Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte Bd. I, S. 631.

 

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Gestalt beruht, diesem aber auf der Basis hauptsächlich zeichnerischer Ausbildung entgegenkommt. Es fehlt die Fähigkeit, einfach plastisch zu gestalten, es klebt noch vieles an der Fläche oder aneinander, und selbst dort, wo eine größere Rundung eintritt, mangelt die Monumentalität und bleibt der Anklang an die Kleinkunst bestehen. In den Köpfen wird zwar durch Anlehnung an byzantinische Elfenbeine größere Plastik neben der schärferen Charakterisierung erreicht, die Gewandung aber wird trotz der Belebung durch die byzantinischen Motive noch zum Spielball dekorativer Schnörkellust, die sich auch in den letzten Stil fortsetzt.

Zur monumental-plastischen Ausbildung dieser an Motiven jetzt reichen Kunst bedurfte es eines Anstoßes von außen. Er kam von Frankreich her, wo die Gotik gerade in diesem Augenblick im Erblühen war. Der Ansatzpunkt war in Magdeburg, wo in ebenderselben Zeit ein neuer Dom erbaut wurde und wohin ein Bildhauer seine Studien von Notre Dame in Paris und Chartres brachte, um damit eine neue Kunst einzuführen. 1) Der Zeitpunkt lag zwischen dem zweiten und dem dritten der besprochenen Stile, also ungefähr zwischen 1210 und 1220. Figuren wie die kleinen Gestalten der klugen und thörichten Jungfrauen im Chor des Magdeburger Domes 2) zeigen auf das Deutlichste den Zusammenstoß eines neuen monumentalen Stiles, der sich in den oberen, einfacher zusammengefassten Gewandteilen offenbart, mit dem ornamental bewegten Geschnörkel der unteren Ausläufer, wie sie dem von uns besprochenen zweiten Stil angehören. Für die oberen Hauptmotive der Bekleidung hielt der Künstler sich an die von Frankreich herübergebrachten Zeichnungen und Erfahrungen, während er bei den unteren Teilen, für die ihm vielleicht die nötigen Studien fehlten, oder an denen er doch noch seine alte Art glücklich zu verwenden glaubte, wieder in die frühere Methode verfiel. Diese monumentale Vereinfachung aber, die hier in Magdeburg zu dem zweiten einheimischen Stil hinzutritt, wirkte nun von Magdeburg aus weiter auch auf den letzten unruhiger und eckiger bewegten Stil und verband sich mit ihm zu Gebilden, wie sie uns in Freiberg und Wechselburg entgegentreten.

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1) Vergl. meinen Aufsatz in dieser Zeitschrift 1899, S. 285.

2) Vergl. Abbildung im Jahrbuch d. K. Preuß. Kunstsamml. 1899, Bd. XX, S. 292.

 

 

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Fig. 19  Gewölbeschlussstein im Dom zu Magdeburg

 

 

Veröffentlicht in:

Jahrbuch der K. Preußischen Kunstsammlungen Bd. XXI, 1900, S. 225 - 241

 

Hinweis: Einige Abbildungen wurden durch neue Fotos ersetzt und Fotos zusätzlich eingefügt.