Der Elm von J.H.Ch. Schmidt


DER ELM
Schilderung
von
J. H. Ch. Schmidt
weiland Kantor in Lucklum

Bearbeitet und herausgegeben von
Richard Schmidt
Verfasser vom Illustrierten Elmführer
*
zweite durchgesehene Auflage



Verlag von Karl Pfankuch
Braunschweig 1925



Vorwort zur ersten Auflage.
Die nachfolgende Schilderung des beliebten Ausflugortes,
welche, im Herbste 1860 verfaßt, seither ungedruckt blieb, ist
es wert, einem weiteren Leserkreise bekannt gemacht zu werden;
zumal, abgesehen von kurzen Einzelschilderungen in Zeitschriften
und gedrängten Beschreibungen in Elmführern, über den Elm
nur eine längere Monographie, die aber wesentlich nur Ge-
schichtliches berücksichtigt, herausgegeben worden ist (Bode, der
Elm und seine Umgegend, Braunschweig 1846). Die aus eige-
ner Anschauung und durch jahrzehntelanges Vertrautsein mit
dem Leben im und am Elm gewonnenen Eindrücke sind hier
in so lebendigen Farben geschildert, daß dem Leser mit Weh-
mut klar wird, wie damals doch manches noch so ganz anders
war im Elm, und wie die Neuzeit mancher lieblichen Idylle
dort den Garaus gemacht hat. Möge denn diese Abhandlung in
ihrer Ursprünglichkeit und Frische dem Elme neue Freunde
gewinnen und zugleich das Andenken des verdienten Schul-
mannes wach erhalten.
Schöppenstedt, im Juni 1905.
                                                               R. Schmidt.


Vorwort zur zweiten Auflage.
Mit vorliegender Auflage soll einem seit Jahren in Nach-
fragen seitens Privater und des Buchhandels sich äußernden
Bedürfnis nach Beschaffung des längst vergriffenen Elmbüch-
leins nachgekommen werden.
Unbeschadet der Eigenart der Abhandlung glaubte ich die-
jenigen Wünsche betreffs Streichung oder Kürzung einiger
wegen Pietätsrücksichten aus dem Original beibehaltenen, zu
sehr ins einzelne gehenden Angaben beachten zu sollen, auch
sonst leise Änderungen vornehmen zu dürfen. Damit möchte
ich allen, nach den verflossenen beiden Jahrzehnten jetzt durch
neuzeitliche Verkehrsmittel, sei es Auto, Rad und nicht zuletzt
die Braunschweig-Schöninger Bahn, dem Elm in größerer
Zahl zugeführten Besuchern eine dem heutigen Geschmack an-
gepaßte Anleitung in die Hand geben, sich des Segens zu
freuen, den das Herz im Elm gewinnt.

Rühme, im Januar 1925.
                                                        Rich. Schmidt.

Der Elm.
1. Ursprung und Gliederung.
Wo dat Echo schallt
Dör de Böken hin,
Na de gröne Wald
Treckt mi Hart un Sinn,
Wenn de Drossel fleit,
Wenn de Bläder weiht,
Wenn de Wind der geiht
Baben hin!
        Quiaborn von Klaus Groth.

Der geneigte Leser muß sich’s nicht verdrießen lassen, min-
destens 1100 Meter hoch über den Meeresspiegel, d. h. auf den
Brocken mich zu begleiten, wenn er das reizende Elmgebirge
— strenge Geographen werden nur von Elmhügeln wissen
wollen — genauer kennen lernen will. Wenn wir vom altehr-
würdigen Blocksberge nördlich hin ausschauen, dann findet
unser Auge am Rande des Horizonts, in der Richtung von
Osten nach Westen ein dunkles, langgestrecktes Oval. Das ist
der Elm!
Seinen Namen führt er nicht von gestern her; denn in der
Gründungsurkunde des Domes von Königslutter, ausgestellt von
Kaiser Lothar im Jahre 1135, kann jeder ihn schon lesen, dem es
darum zu tun ist. Sonst findet man in alten Schriften Elun,
Meliun, Melun und Melme. Mit römischer Zunge aber
mußte sich der deutsche Elm Helimana silva nennen lassen.
Fragt der geneigte Leser nun etwa, wie das freundliche Ge-
birge zu seinem Namen gekommen, so mag ein alter gelehrter

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Forscher ihm antworten. Dieser behauptet: Elm komme her
von Ulme, da Ulme im Altdeutschen Elmbom geheißen. Dar-
nach müßte unser Gebirge früher im Ulmenschmucke geprangt
haben, während es jetzt den herrlichsten Buchenwald trägt.
Aber inmitten der Krimmelburg oberhalb der Reitlingswirt-
schaft schaut noch heute eine stattliche Ulme hinaus ins Land.
Da wir nun einmal bei der lernbegierigen Frage: ,,Woher?“
sind, so bitte ich den freundlichen Leser und Ausschauer, sich
zunächst sagen zu lassen, wie das großartige ,,Siehdichum!“
gebaut ist, auf dem er sich soeben vergnügt befindet. Es möchte
sich dabei auch in Kürze ein ,,Woher?“ für den Elm erledigen. Der
Granitfelsen, auf dem unser Fuß hier steht, war einst eine
glühende flüssige Masse, tief im Erdkörper unter der soge-
nannten Sedimentformation hinwogend. Da mag's nun wohl
den Granitwogen einmal ,,zu eng im Schloß“ geworden sein,
und sie haben sich mit unbändiger Gewalt nach oben gedrängt,
wie es etwa noch heute in jeder Küche an einem siedenden
Topfe in kleinem Maßstabe zu schauen ist. Die Sediment-
formation war verständig genug nachzugeben, ließ sich auch,
wenn’s nicht anders gehen wollte, durchbrechen, wie es hier
auf diesem unsern Aussichtspunkte klärlich vor Augen liegt.
Die heißen Granitwogen aber erstarrten in der frostigen Höhe
und hängten sich nun die Sedimentformation wie einen decken-
den Mantel um. Wenn nun der Granit im Harzgebirge hoch
brodelte und am höchsten unter dem Mons bructerus aufwallte,
so besänftigte er sich doch nach und nach und begnügte sich da-
mit, die Sedimentformation in ,,parallelen Wellen“ bald mehr,
bald weniger emporzuheben. Unter dem Elm war es ein sanf-
teres Wogen. Die siedende Masse konnte kaum ein Drittel
ihres höchsten Aufwallens erreichen, brachte aber doch das
Sedimentgestein auf einem Punkte bis zu 325 Meter über die
Meereshöhe empor, ohne es zu durchbrechen. Das ist unter
dem Eilumer Horn geschehen, dem höchsten Punkte des Elmes.
Der Leser wird sich nun selber sagen, weshalb ich ihn auf den
Brocken führte, wenn ich ihm vorläufig die lieben Elmberge
zeigen wollte. Von ihm aus läßt sich allein begreifen, wie
das langgestreckte dunkle Oval dort nördlich an den Horizont
gekommen. Gelehrte Leute hätten kurzweg gesagt: ,,Der Elm
gehört zu dem herzynischen Gebirgssysteme!“
Wenn wir uns nun von hier aus vorläufig unterrichten
konnten über dies und das, was man wissen muß, wenn man

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das Elmgebirge anschaulich kennen lernen will, so müssen wir
natürlich die Hauptsachen selbst an Ort und Stelle zu verstehen
suchen, darum: ,,Auf nach dem Elme!“ In einer mäßigen
Tagereise sind wir dort, wenn wir etwa zu Fuß bis Harz-
burg pilgern und von da aus bis Braunschweig die Eisenbahn
benutzen. Es soll von hier ab nicht über 2½ Stunde währen,
so befinden wir uns in Lucklum, an der Südwestspitze des
Elmes. Im Eisenbahnwagen läßt sich noch manches Wort
schwatzen, was dem Leser für die weitere Elmkenntnis nicht
undiensam sein wird. Vom Harze und anderen Gebirgen ist
bekannt, daß sie nur zum Teil zu Braunschweig gehören. Der
Elm dagegen ist ganz und gar der Unsrige, und wir Braun-
schweiger des nördlichen großen Drittels sagen mit berechtigtem
Stolze: ,,Der Elm gehört uns ganz!“ Und das will
etwas sagen! Es handelt sich bei diesem Ausrufe um fast
34000 Waldmorgen, gleich 110 Quadratkilometer, also etwa
um den neunten Teil sämtlicher Forsten unseres Ländchens.
In den Besitz teilen sich der Staat und die umliegenden Ritter-
güter und Ortschaften. Der Elm steht in forstwirtschaftlicher
Hinsicht unter den Oberforstämtern Schöningen und Königs-
lutter. Die drei Kreisdirektionen Braunschweig, Wolfenbüttel
und Helmstedt, die am dreieckigen Stein, dem Ostpunkt des
Dettumer Grundes, zusammenstoßen, wachen nach ihrem Recht
und Befugnis über ihn.
Wir sind unter solchem Geplauder dem Elm immer näher
gekommen. Schon zeichnen sich seine Berge tiefblau hinein
in den östlichen Abendhimmel. Vom Sickter Berge, kaum
¼ Stunde von Lucklum, genießt man das schönste Bild vom Elm.
Sein Kamm schwingt sich in wundervoller Schlangenlinie,
gebildet von vier Hebungen und drei Senkungen, von Norden
nach Süden über Kampberg — Destedter Tal, Tafelberg —
Dettumer Grund, Taubenberg — Reitlingtal zum Evesser
Berg. Vor dem Ausläufer der letzten Hebung breitet sich
Lucklum aus. Der Kirchturm ragt wie ein bedeutungsvoll aus-
gestreckter Finger hoch in die schöne Kurve, und in den Fenstern
der alten Kommende der Deutschritter verglüht rotgolden das
Abendrot. Wir treten, wenn einfache, freundliche Aufnahme
genügt, in das geräumige, weil einem doppelten Zwecke ge-
widmete Schulhaus, in dem noch heute die Lucklumer Heimat-
hymne von J. H. Ch. Schmidt nach der Melodie ,,Steh ich in
finstrer Mitternacht“ erklingt:

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1. Am Elme liegt ein Dörflein klein,
In Deutschland kann’s nicht schöner sein!
Es heißet Lucklum, wohlbekannt,
In grauer Zeit schon gern genannt.

2. Dies Dörflein steht in Gottes Hut,
Drum geht’s ihm allewege gut
In Freud und Leid bei Tag und Nacht,
Solang’ der gute Hirte wacht.

3. Ein stattlich Haus blickt hell und fein
Von Lucklum in den Elm hinein.
Der Wandrer hemmt des Fußes Lauf,
Schaut fragend zu dem Bau hinauf!

4. Blick südwärts hin! Dort wirkt und schafft
An Kinderseelen Bildungskraft,
Und dort nach Norden ruhet aus
Das Alter nach des Lebens Graus.

5. Zusatz von R. Waldmann:
Erhalte, Gott, dies Dörflein lang!
Das ist der Wunsch aus Herzensdrang.
Sei du mit ihm, wie stets bisher! —
Herr, dir allein gebührt die Ehr’!

Wir sehen noch den Vollmond in seiner Pracht hinter dem
Gebirge heraufsteigen und merken an dem lustigen Umher-
flattern einer Fledermaus, daß morgen auf heiteres Wetter zu
rechnen ist für unsere Elmfahrt. Wir gehen ganz früh beim
heitersten Himmel von Lucklum nach Erkerode und dann neben
,,dem Bache mit dem Morgensegen“, der singenden und klingen-
den Wabe in den Elm hinein. Der Wanderer will ungern aus
dem Eingange zu dem lieblichen Reitlingtale fort. Wald-
wärts und landwärts ist ja der Anblick so fesselnd. Doch wir
dürfen hier nicht lange verweilen, wir haben eine weite Wan-
derung vor. Der Elm, der in seiner südöstlichen Hälfte die
Verhältnisse eines Kettengebirges, in der nordwestlichen da-
gegen die eines Massengebirges darstellt, hat immerhin eine
Längenausdehnung von etwas über fünf Stunden. Die Breite
ist sehr verschieden. Sie beträgt nicht weniger als eine Stunde
und überschreitet das Maß von zweien nicht viel. Die größeste
Länge bezeichnet eine Linie von Abbenrode aus nach

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Schöningen gelegt; die stärkste Breite befindet sich zwischen
Evessen und Königslutter. Von Eitzum nach Räbke durchmißt
man die Breite am schnellsten. Ich möchte den Leser nun auch
mit der vertikalen Gliederung des Elmes ein wenig bekannt-
machen. Versetzen wir uns denn aus unserm Eingange zum
Reitlinge nach Schöningen. Von dort aus läuft der Rücken
des Gebirges, steiler nach Süden, milder nach Norden ab-
dachend, in mancherlei Senkungen und Hebungen bis über
Erkerode, nur die eingeschlagene Richtung vor Eitzum einmal
verlassend. Wer könnte es aber versuchen, die ungezählten
sanften, hier und da schroff aufsteigenden Höhen, durchfurcht
von lieblichen Tälern mit rinnenden Bächen, mit Worten vor
die Anschauung hinzustellen! Da heißt es: ,,Komm und siehe!“
Ehe wir weiter schreiten, können wir noch die eigentliche
Grundlage des Elmes in Augenschein nehmen. Da treten ja
überall am Wege stärker und schwächer geneigte Felsmassen
hervor. Und dort im Erkeröder Steinbruche schauen wir die
ganze geheime Wirtschaft, mächtige Lager von Muschelkalk,
der bekanntlich zu der sogenannten Triasgruppe gehört. Diese
Formation bildet den Untergrund des ganzen Elmes. Beim
Reitlinge unter dem Burgberge und gegenüber am Herzberge
finden sich auch Gipsstöcke. In den geheimen Kammern des
Gebirges haben die Gewässer seit uralten Zeiten viel Kalkstoff
aufgelöst. Die Elmbäche aber lagerten diese in den Talungen als
Kalktuff ab. Dieser liefert einen zeitweilig sehr beliebten Mauer-
stein und wird namentlich bei Königslutter und Lucklum reich-
lich gewonnen. In dem Muschelkalke des Elmes finden sich
außerordentlich viele Versteinerungen. Da trifft man Am-
monshörner, gestreifte Feilenmuscheln, gemeine Terebrateln und
die vielbegehrte Meerlilie.

2. Die Pflanzenwelt.
Aber es wird nun Zeit, daß wir unsern Sinn wieder auf die
Oberfläche lenken, denn am Leben, wie es gestaltend über die
Erde hinwogt, erweckt und erfreut sich das innerste Sein des
Menschen. Ueberall umgibt uns jetzt der köstliche Hochwald,
noch gehoben durch ausgezeichnete Forstkultur, die selbst das
Ausland bewundernd preist. Die Buche herrscht vor, denn
sie liebt gar sehr den kohlensauren Kalk nebst der betreffenden
Meereshöhe und ist deshalb so recht in ihrem Elemente. Es

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finden sich übrigens auch andere Holzarten. In den Talungen
und sonst auch erblickt man Eichen, Linden, Eschen, Ahorn,
Ulmen, Erlen, Birken, Espen u. a. Den schönsten Eichenhain
trifft man beim Brunsleber Felde. Da stehen noch Gestalten,
die man mit dem Wandsbecker Boten ,,umarmen“ möchte, wie
er in seinem Neujahrsliede: ,,Es war erst frühe Dämmerung“
singt. Wenn man aber nach Warberg hinuntersteigt, so er-
blickt man den Riesen des Elmes, die berühmte Eiche, die in
Manneshöhe einen Umfang von neun Metern hat. Leider ist
dieser Zeuge einer grauen Vorzeit jetzt gänzlich abgestorben.
Sie stand westlich von dem Dorfe Warberg. Später ist der
Grund und Boden urbar gemacht und damit jede Spur von
der Eiche verwischt. Von der Größe des Stamminhaltes kann
man sich eine Vorstellung machen, wenn man bedenkt, daß in
dem hohlen Baum ein gewöhnlicher Tisch stehen konnte, um
den sich spaßeshalber auf Stühlen vier Kartenspieler nieder-
lassen konnten.
Hier und da befinden sich auch nicht unbedeutende Anpflan-
zungen von Nadelholz. Namentlich zeichnet sich der südöst-
liche Teil des Elmes über Schöningen durch herrliche ,,Tannen-
örter“ aus. Es gibt auch einzelne Tannenriesen, woraus man
schließen muß, daß die Alten schon den „Humor des Nadel-
holzes“ liebten. In der Nähe des Brunsleber Feldes finden
sich einige Lärchen, die in Manneshöhe einen Umfang von
3 ½ — 4 Meter haben ungerechnet den turmhohen Wuchs. Will
der Leser aber einmal ,,ungestraft unter Palmen wandeln“,
so schlage ich dazu einen Gang unter die herrlichen Weißtannen
und Lärchen der Ampleber Kuhle vor, deren Pflänzlinge der
Sage nach einst der Förster Brandes auf der Ampleber Kuhle
von seinem Schwiegersohn auf der ,,Kalten Birke“ bei Seesen
erhalten haben soll. Diese gewaltig hohen, schlanken Gestalten,
wie sie im sanften Morgenwinde ihre Häupter unter leisem
Gesange hin und her wiegen, vermögen eine Ahnung tropischen
Waldlebens zu geben, aber auch zugleich versunkener Kraftfülle
deutschen Urwaldes – Da die Forstwirtschaft am Elme nur
Hochwald pflegt, so ist von Gesträuchen eigentlich wenig zu
sagen. Doch drängt sich hier und da die Haselstaude hervor;
Schwarz-, Weiß- und Kreuzdorn nebst dem bekannten Hart-
riegel fehlen ebenfalls nicht. Träumerisch steht da und dort
ein Wachholderstrauch, d. h. vor 60 Jahren, als ob er sich
sehne nach den Genossen, die an den Vorhügeln oft massenhaft

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auftreten. Schneeball und Traubenholunder sind aus den
Kunstgärten in den Wald entflohen und weben mit den Zauber-
fäden der Waldrebe, mundartlich: Wulwesranken, die nament-
lich in den Ruinen der Burg Hebesheim, lies Krimmelburg,
ihr Wesen hat, wunderbare Einzelgemälde in das große, ge-
waltige Elmbild. Auch die heimischen Spierstauden haben
manche ausländische Schwester in den Wald gelockt. Wo aber
,,junge Örter“, d. h. Schonungen gehegt werden, da drängen
sich die Himbeerstauden und Brombeerranken mit den Sahl-
weiden, weniger zum Ergötzen des Forstmannes, doch uner-
setzlich in der Poesie des Waldes. An der Ostseite des Elmes
findet sich auch der Heidelbeerstrauch und im Vorfrühling schon
strömt aus den Kelchen des Seidelbastes der wohlbekannte
märchenhafte Duft. Das Geisblatt Jelängerjelieber m. a.
Sugtitjen, aber klettert über die Büsche und hebt in Schlangen-
windungen seine wunderbar duftenden Blütentrauben aus dem
Dunkel des Waldes hoch in die lichten Wipfel, durch sein
scharfes Zusammenschnüren junger Stämmchen dem Elmbe-
wohner die so beliebten, gewundenen Handstöcke liefernd. Das
Efeu dagegen drückt meist eine unsichtbare Hand in seinem
ersten Aufstreben zurück, und es breitet mit stiller Ergebung
seine dunklen Blätterherzen über den lichten Waldgrund.
Wir sind im Reitling angekommen. Das sonst schmale Tal
weitet sich hier zu einem schönen unregelmäßigen Viereck. In
der Mitte liegt das Vorwerk Reitling, berühmten Andenkens.
Setzen wir uns unter die Buchen vor dem Wirtshause am
Burgberge! Hier läßt sich’s gut erzählen von der herrlichen
Flora, die alljährlich ihre Freudengewinde durch das Märchen
des Elmes schlingt. ,,Hier!“ sage ich noch einmal mit Be-
tonung; denn das Reitlingstal mit seiner nächsten Umgebung
verkörpert die Natur des ganzen Gebirges.
Wenn der Schnee kaum ,,ins Grau“ sich färbt, dann fängt
das Blumenleben des Elmes an zu pulsieren. Da duftet und
glänzt der Kellerhals, und hier drängt sich ein ganzer Himmel
von Leberblümchen, m. a. Hasselblaume oder Märzröschen, her-
vor. Wie die Ave-Maria-Glocke einer einsamen Kapelle läutet
die Knotenblume, m. a.  Zitlöseken, Waldschneeglöckchen, drüben
an dem sonnigen ,,Hamme“ über dem Männeckenspring in der
Herzberggrund den Frühling ein. Steigt man aber dort zu der
Krimmelburg hinauf, siehe, so wogt in den Burggräben, Weiß
mit Purpur gemischt, eine Zauberflut von Lerchensporn. Und

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taucht man hinab in die ,,Hölle“, den dunklen Ostgrund des
Reitlingtales, so fluten auch da dessen Wogen und möchten mit
ihrer Schönheit den finsteren Namen bedecken. Wie sich aber
über den noch braunen Buchenwipfeln der Himmel bläut, so
öffnen sich unter ihnen die Himmelsschlüssel, volkstümlich
Slöttelblaumen, ihre zarten Kelche. Und nun treten still in
diesen Erdhimmel die Engel unter den Blumen: ,,Maien-
blumen, zart gestaltet, sind im Wald die Glöckelein, haben früh
sich all’ entfaltet, läuten nun den Sonntag ein. Alles reget
froh die Schwingen, überall die Glöcklein klingen; durch die
Wipfel säuselt’s auch, just, als wär’s der Engel Hauch.“
Wer will nun ausmalen das immer bunter sich gestaltende
Blumenmärchen! Da nicken und schäkern durcheinander Or-
chideen ohne Maß und Zahl, früh und spät von dem purpurnen
gemeinen Knabenkraut, volkstümlich: Gotteshand un Duiwels-
kralle, bis zur unscheinbaren frühlingsduftigen Herbstblüten-
schraube, Wendelorche, die im niederen Heidekraut der Vor-
hügel Verstecken spielt. Selten zeigt sich in dem bunten Chore
der Frauenschuh, und ebenso schämig verhält sich die Frauen-
träne, Fliegenkraut. Hinter den Wällen der Krimmelburg er-
scheint je zuweilen dem Glücklichen wie ,,ein Märchen aus alten
Zeiten“ der Widerbart, Epipogon.
In der Mitte des Monats Juni prangt der Elm im
höchsten Blumenschmucke! Ich will’s versuchen, den Tag eines
Botanikers um diese Zeit von fern zu zeichnen. Steigen wir
dort ostwärts in die Herzherggrund. Mäandrisch rinnt hier
ein Bächlein und verschwindet endlich in der Teufelsküche
unter dem Herzberge. Oben dies herrliche Laubdach, durch
welches Sonnenblitze herniederzücken, unten ein Meer von Bär-
lauch, silberweiß strahlend. Wie Delphine tauchen hier und
da die seltsamen Gestalten vom gefleckten Aaron, volkstümlich
Papenkinder, aus den Wogen hervor. Aber wir möchten nicht
lange das köstliche Schauspiel genießen, da ein starker Zwiebel-
geruch uns den Aufenthalt verleidet. Darum hinaus in die
lachenden Wiesen, rings von köstlichsten Bergkuppen umhegt.
Da nicken die Trollblumen der fabelhaften Bachnelkenwurz
einen gern erwiderten Gruß zu. Der Wiesenknopf, die Becher-
blume, schwingt die wunderlieblichen Becher dem lustig umher-
gaukelnden Volke der Lüfte kredenzend entgegen. — Noch
wollen wir im tiefen Schatten eines ,,geschlossenen Ortes“ die
leuchtende Wundergestalt des Orchideengeschlechts, den Kopf-

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ständel, das Waldvögelein, schauen und seine lichtscheue Ver-
wandte: die Nestwurz oder das Vogelnest; diesem wohl ähn-
lich, aber im Wesen doch gänzlich verschieden, ziehen wir noch
hervor das Ohnblatt oder den Fichtenspargel und betrachten
beide einmal recht aufmerksam vom Kopfe bis zum Fuße.
Dort aber auf dem lichten Bergrücken wollen wir uns neben
dem schönen purpurblauen Steinsamen an der stolzen Türken-
bundlilie erfreuen. Warnend sei nur noch gezeigt auf die
giftige vierblätterige Einbeere, auf das Christophskraut und
den Wolfs-Eisenhut, mit dessen Wurzelsafte unsere jagdlustigen
Urväter die Pfeile zum Erlegen der Wölfe sollen vergiftet
haben; seine stattlichen Geschwister werden in allen Dorfgärten
gehegt, und in der Heilkunde ist er unter dem Namen Akonit
nicht unbekannt. Ich bin draus und dran geradezu eine
Elmbotanik zu liefern, doch ,,Geduld!“ nur noch einige Kinder
der Flora, wie sie bis spät ins Jahr hinein den Elmwanderer
anlachen. Da ist aus den Vorbergen die maiblumenartig
duftende purpurrote, knollige Platterbse, volkstümlich Erdnötte,
während die wunderschöne Waldplatterbse hier und da am Rande
der ,,Örter“ mit ihren Flügeln sich über die Büsche schwingt
und fast jedesmal in ihrer Nähe den süßholzblätterigen Tra-
gant, Bärenschote, als stillen Bewunderer hat. Im feuchten
Dunkel der Hochflächen scherzt das sonderbare Springkraut,
Blümlein Rührmichnichtan, mit den Vorübergehenden und er-
schreckt klein und groß mit ihren wunderlichen Samenkapseln.
In den moorigen Talwiesen versteckt sich das Fettkraut, während
später der wunderschöne Stern des Sumpfharzblattes als Stu-
dentenröschen blendend hervorleuchtet. Wenn das Jahr zur
Neige geht, dann treten im welkenden Grase Tausendgülden-
kraut, gefranster und bitterer Enzian nebst Dost, volkstümlich
brune Dust, mit ihren lieblichen Farben und heilenden Kräften
hervor und die mächtige Goldrute, volkstümlich Heidnisch
Wundkraut, vergoldet die besonnten Abhänge. Über der Hölle
am Nordhange des Herzberges in dunklem Buchenort ist die
Herberge der Farne. Es ist ein überraschender Anblick! Über-
all scheinen junge Palmenkronen aus der Erde zu steigen.
Und jetzt nur noch zwei Worte vom botanischen Gnomen-
volk, den Schwämmen, volkstümlich Uitschenstäule, die hier
und da aus dem Boden hervorhuschen und oft genug unter
schönem Kleide eine teuflisch-giftige Natur verhüllen. Wir
wollen der boshaften schweigen und nur einige menschen- und

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tischfreundlich nennen, wie sie an unserm Gebirge oft massen-
haft auftreten und noch immer nicht genug gekannt und ge-
schätzt sind. Da, auf kurzgrasigen Matten, sieht man den duf-
tigen Champignon. Im Wald, auf lichten Stellen, schwillt
der Steinpilz oft zu Riesengröße auf: im jungen Stangen-
holz besonders zieht der wunderliche Ziegenbart die Aufmerks-
samkeit an; aber die Steinmorchel zeigt sich in ihrer Schüchtern-
heit selten und nur dem fleißig Suchenden. Die Trüffel lassen
wir still in der Erde träumen, denn ohne den seltnen Trüffel-
hund würden wir sie doch nicht aufscheuchen. Nun aber Schluß
mit dem Wirrwarr botanischer Namenfülle!

3. Die Tierwelt.
Der geduldige Leser muß sich’s nun gefallen lassen, wenn
ich ihn ein paar Stündlein über Stock und Stein dahin führe:
denn auf jeden Fall will er doch auch wissen, was da im Elme
läuft und kreucht, dort in den Lüften schwirrt, hier durch die
Busche schlüpft und im Gewässer durch die klaren Wellen da-
hinfährt. Verlassen wir unsere Bank unter den Buchen und
steigen hinauf in die Einsamkeit nordöstlich vom Burgberge.
Welch eine Stille in dem hohen Buchendome! Aber siehe! da
rauscht es fernhin vorüber, und der kundige Leser erkennt in
der flüchtigen Gestalt den vielleicht einzigen Hirsch des Elmes.
Ehemals war es anders, und die schöne Sammlung von Hirsch-
geweihen, welche den Korridor der Kommende in Lucklum
schmückt, kann  dem Frager genau vergegenwärtigen, was für
stolze Tiere einst unter den Elmbuchen spazierten. Wir wen-
den uns nach Süden und erreichen in einem halben Stündchen
jenen schon genannten Herzberg. Daselbst haben wir vom
äußersten Ostvorsprung einen überraschenden Ausblick in die
ganze Länge des Reitlingtales. Ich fürchte nicht, daß der ge-
fällige Leser nachher auf dem schönen Punkte in die Worte
jenes Engländers ausbrechen wird, den ich einmal dorthin be-
gleitete: ,,Ein mühevolles, deutsches Vergnügen!“ Aber horch!
Da knackt etwas im jungen Orte. Still! still! Sieht der
Leser nicht dort, bald diesseits, bald jenseits der stärksten
jungen Buche, zwei glitzernde Sterne aus dem Halbdunkel auf-
leuchten? Es ist ein Reh mit seinen schönen ,,Lichtern“. Ei,
da ist es ganz! Es flieht! und schwingt sich mit unbeschreib-
licher Anmut über ein Brombeergeranke. Vielleicht treffen
wir weiterhin noch einige dieser Elmgazellen. Dem Bären des

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Elmes, dem mondsüchtigen Dachse werden wir wohl nicht be-
gegnen. Hier am Wege hat er nach Würmern „gestachelt“,
wie zu sehen. Seinen Mietsherrn, den häufig an sonnigen Ab-
hängen bei Tage herumlungernden Fuchs, möchten wir eher
noch antreffen. Der Baummarder läßt sich selten sehen, weil
er weiss, daß der Mensch allzuverlangend die Hand nach seinem
schönen Pelze ausstreckt. Ein munteres Eichhörnchen sehen wir
dort im Baume umherklettern. Man hat den Anblick nicht oft.
Die Haselmaus wird da und dort im Dohnenstiege einmal ge-
fangen, gewöhnlich lebendig; dort drüben im Haselgebüsche der
Ampleber Kuhle legt sie gern ihr Restchen zwischen den Wurzeln
an und füttert es mit Laub und weichem Moos. Im Sommer
nehmen die Hunde gern, zum Ärger des Jägers, ihre Fährte
auf, weil sie stark nach Moschus riecht, was sich im Winter
verliert. Weit unsichtbarer noch verhält sich der Bilch oder
Siebenschläfer; der Name verspricht ein ziemliches Schlaftalent,
worin aber die Haselmaus wenig nachgibt, deren Winterschlaf
auch beinahe sieben Monate dauert.
Unter diesem Gespräch sind wir nun schon durchs Tal, die
Herzberggrund, südlich nach der Ampleber Kuhle hinüberge-
wandert. Einst ein lebhaft betriebener Steinbruch, aus dem man-
ches altehrwürdige Gebäude in Braunschweig seine Bausteine er-
hielt, war dort nachher der Standort eines nun auch ver-
schwundenen Försterhauses. Jetzt ist es eine wahre Wald-
idylle, im Augenblicke durchhallt von dem durchdringenden
Rufe des sprachkundigen Kolkraben. Ihm antwortet mit
schnarrendem Geschrei der schöngefiederte Eichelhäher, der ,,Ver-
räter“ des Waldes. Über unsern Häuptern ziehen einige
Weihen ihre schönen Kreise, und am Rande des Waldes werden
wir späterhin gewiss noch Habichte, Bussarde und deren Kon-
sorten antreffen. Wenn wir hier ein wenig still stehen, dann
schlüpft wohl ein gut Teil des leichtbeschwingten Elmsänger-
chores an uns vorüber. Da spaziert auf dem Wege der vor-
treffliche Waldsänger, der Buchfink, dessen unterschiedliche
Schläge die ehrsamen Handwerksmeister der altberühmten Stadt
Schöppenstedt seit alters her zu Finkenliebhabern machten, als
welche sie denen des Harzes und Thüringer Waldes an Sach-
kunde wenig nachstanden. Den gewöhnlichen Diskelier- und
Reutertiebör-Schläger rechneten sie nicht für voll, aber in der
Sambleber Meine einen Rittvertau oder gar im Kalten Tal
über Twieflingen einen Siegelack zu überlisten, scheuten sie

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weder Weg noch Mühe. Bei guter Buchenmast gesellt sich
im Winter den meist hierbleibenden Männchen mancher nor-
dische Genosse und der Bergfink zu, der aber weder im Gefieder
noch im Gesange an ihn heranreicht. Mit den heimischen Am-
seln, Singdrosseln und den selteneren Misteldrosseln bevölkern
als Durchzugvögel und Wintergäste die Wein- und Wach-
holderdrossel die Dohnenstiege, letztere als eigentlicher Kram-
metsvogel, am Elme volkstümlich Kranzvoggel genannt. Die
Familie der Spechte ist in all ihren Gliedern vertreten, auch
der Schwarzspecht, dessen Lieblingsnistbaum bekanntlich die
Rotbuche ist. Alle die lieben Meisen, Goldhähnchen, Gras-
mücken, Hänflinge, Baumläufer, und was, weiß ich‘s, laufen
und klettern, singen und springen, klappern und klopfen lustig
durcheinander. Dort schlüpft der Zaunkönig von Reis zu
Reis bis oben in den Wipfel einer Lärche. Es ist ein seltsamer
Gesell! Wenn der Winter daherbraust und alles verstummt,
dann singt dieser Troglodyt seine rollenden Triller. Dem
,,Vögelchen so klein und braun, so fröhlich im Schnee“, sekun-
diert das Rotkehlchen, ,,mit Äuglein so klar und hell, oliv-
braunem Rock und Westchcn so rot“ einer unserer häufigsten
Waldsingvögel. Unten im Tale wandert seiner Zeit der schöne
Wiedehopf und stimmt mit dem Kuckuck wunderliche Duette
an, über die das Weibchen des letzteren ein kritisches Lachen
erhebt. Die kostbare Waldschnepfe liebt die sumpfigen Tal-
gründe, an deren klaren Wasserläufen ein vorsichtiger Wan-
derer wohl auch mal den seltenen Eisvogel erspäht. Hier in
den düsteren Tannenreihen rucksen die Ringeltauben und dort
auf den altersgrauen Eichen haben Hohltauben ihren Sitz;
erstere im Herbste in Scharen die anliegenden Kornfelder be-
suchend. Wenn der Tag sich neigt, dann kündigt sich überall
der ,,Vogel der Athene“ an, dessen Familie reichlich ausge-
breitet ist, vom Zwergkauz bis zum sehr seltenen Uhu. Aber
wo bleibt in diesem Chore die Sängerin der Liebe, die Nachti-
gall? — Es ist wunderbar, sie flieht den Wald und findet sich
nur am Rande des Gebirges, wo der Mensch seine Hütte auf-
gerichtet hat.
Ich denke, wir gehen nun weiter, damit wir den Sonnen-
untergang vor dem Westhölzchen über Erkerode genießen. Wir
gehen den Rücken entlang, der vom Plateau beim ,,großen
Rode“ seinen Ausgang nehmend, ständig die 300-Metergrenze
innehaltend und sich im Eilumer Horn und Kucks zu den

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höchsten Punkten des Elmes erhebend, allmählich aber in seinem
letzten Drittel bis zur Waldgrenze sich auf 200 Meter senkt,
Noch raschelt eine Eidechse durchs Gras, und wenn wir etwa
bei Regenwetter unten im Riefengrund uns befinden, würden
wir bald den gefleckten Erdmolch oder Feuersalamander über
den Weg schleichen sehen. Da wir einmal dieser Gesellschaft
gedenken, so sag ich mit Freuden: Ihre giftigen Verwandten
finden sich nicht am Elme. Die oft gefürchtete Blindschleiche ist
friedlich, dazu auch interessant, nicht bloß durch ihr schönes
Kleid, sondern auch in ihrem Skelett durch Schulterbein und
Becken. ·
Der freundliche Leser möchte nun wohl noch von den flinken
Forellen hören, die einst namentlich in der Wabe sich fanden.
Die gute Zeit ist hin. Nur selten ,,kitzelt“ noch an den regu-
lierten Ufern eine schlaue und kundige Hand solch einen bunten
Gesellen. In den Teichen auf Langeleben dagegen hegt und
pflegt man sie jetzt. Jn der Schunter und Lutter gibt‘s
übrigens auch jetzt noch manch wohlschmeckendes Fischlein.
Krebse dagegen beherbergt heutzutage die Wabe selten. In der
Schunter jedoch lohnt sich der Schmerz des Krebsfanges
reichlich.
Was soll ich dem freundlichen Leser nun aber sagen von
den unzähligen übrigen Arten der Gliedertiere? Ich will nur
an einzelnes flüchtig erinnern. Es gehört zu den Prachtmo-
menten im Elme, im Juni so abends durch eine Buchen-
dickung zu schreiten und rings um sich her einen förmlichen
Funkenregen von Leuchtkäferchen, Johanniswürmchen, zu schauen.
Weniger erfreulich ist das oft donnerartige Gebrause der Mai-
käfer, die dann aber auch entsetzliche Verheerungen anrichten.
Der größte europäische Käfer, der Hirschkäfer, läßt sich nicht
selten in den Eichengründen wahrnehmen, wo auch der große
Eichenbock sein Wesen hat. Beide wählen, nachdem ihre finger-
langen Larven jahrelang das Holz alter Eichen nach allen
Seiten durchnagt haben, die linden Juninächte zu lebhaftem
Umherschwärmen. Man findet sie dann oft morgens wie be-
rauscht am ausfließenden Saft der Eiche leckend. Der einzige
seiner Art, der Einsiedler oder Eremit, liebt schon mehr den
heißen Juli, wenn er seinen fast quadratischen Körper einsam
schwirrend durch die Luft trägt. Schwarzlederfarben gibt er
selbst einen juchtenartigen Geruch von sich. Auch die kräftigeren
der flinken Laufkäfer, wie den goldgrünen Puppenräuber und

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den größten einheimischen Laufkäfer, den Lederlaufkäfer über-
rascht nicht selten der aufmerksame Wanderer auf ihren Beute-
gängen, diesen im modernden Buchenlaub, jenen besonders in
Nadelholzbeständen. Von den nachahmenswerten Vorbildern der
Faulen hält sich die große Waldameise in hochaufgetürmten Hü-
geln an sonnigen Kahlschlägen auf. Ach, und nun gar die
Pracht und Mannigfaltigkeit der Falter! Nun, wir haben ja
heute in der prächtigen Augustsonne der hübschen ,,fliegenden
Blumen“ ein gut Teil gesehen und an deren Anblick das Herz
geweidet. Die schönsten, die uns umflatterten im freudigen Ge-
nusse ihres Lebens waren Silberstriche in Menge, dazu der
Fenchelvogel und Trauermantel. Vor vielen andern nenne ich
noch den Schwalbenschwanz und den Segelfalter. Der Toten-
kopf kommt sehr selten vor. Schön ist’s auch, so am Ufer
eines Elmbaches hinzuschlendern und dem Spiel der oft wunder-
schönen Libellen zuzuschauen. Zu ihrer Zeit bekommt man bei
verspäteter Heimwanderung oft auch einen unglückseligen Kampf
mit den ungeheuren Scharen der Stech- und Kriebelmücke.
Will man es aber auf solchen Krieg einmal ankommen lassen,
so entschädigt dafür das zarte Geigenkonzert der Singzirpen.
Nur um dem freundlichen Begleiter den Schrecken zu er-
sparen, sage ich: ,,Da liegt die schwarze Wegschnecke!“ Nicht
so häufig ist es, daß sich auch die gelbe träge über unsern Pfad
schleppt. Die häufig vorkommende Weinbergschnecke, die einst
auch in einem linksgewundenen Exemplar als Unikum am Elm
gefunden wurde, hat sich jetzt schon zurückgezogen oder ist irgend
einem Feinschmecker zur willkommenen Beute geworden. Hat
nun der günstige Leser sein Ohr willig hergegeben eine gute
Zeit, so soll ihm auch bald eine Augenweide beschieden sein,
daran er sich herzlich ergötzen mag!

4. Die Fernsicht.
Vor uns wird‘s hell. Wir sind im Westhölzchen über Erke-
rode. Da steht ein Tisch mit Bänken umher. Zwischen den
Buchen aber schauen wir die einladenden Worte: Salve hospes!
(Sei gegrüßt, Gast!) Und wir finden freundliche Familien aus
Erkerode, die den milden Sommerabend so recht gemütlich unter
hohen Buchenwipfeln genießen.
Wir haben eine Zeitlang freundlich mit ihnen geplaudert und
treten nun hervor an den Rand des Waldes, das wunderbare

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Panorama zu schauen, wie solches sich heute mit dem der Elm-
warte deckt. Welch ein Ausblick! Im nahen Vordergrunde viel
freundliche Dörfer. Da links liegt Evessen, das alte Hebes-
heim, wo der gelehrte Prediger Falk zwischen 1725 und 1762
seine Corveyischen Traditionen schrieb. Vor uns im Wabe-
tale ziehen Erkerode und Lucklum die Blicke an, und die im
Jahre 1408 dem Erzengel Michael zu Ehren gegossene Glocke
von Volzum ruft zum Abendgebet. Von Nordwest schaut die
größte Kirche unsers Landes, die Klosterkirche von Riddags-
hausen über die Ohe her. Links von ihr hebt der 91 Meter hohe
St. Andreasturm  sich ehrfurchtgebietend in den Abendhimmel.
Nach Westen hin aber spiegelt sich die scheidende Sonne in dem
Fahnenroß der Wolfenbüttelschen Hauptkirche. Im Norden und
Nordwest breitet sich das Land zu unabsehbarer Ebene aus, und
das unbefriedigte Auge weckt im Herzen ein unbestimmtes
Sehnen, das sich zu sanfter Melancholie steigert, wenn der
duftige Schleier über der Landschaft sich immer dichter webt.
Aber welch ein Kontrast, wenn nun mit einem stillen Seufzer
der sinnende Beschauer sich nach Süden wendet. Da liegt das
ganze Harzgebirge in seiner überwältigenden Schönheit und
gibt dem landschaftlichen Bilde einen überaus befriedigenden Ab-
schluß. Wer aber kann mit Worten malen, was dem entzückten
Auge sich darbietet. Von der nahen Asse ab schwingen sich die
Bergeswellen durch den Fallstein und den Huy hin immer mehr
hinan, bis sie im Harzgebirge ihren Drang stillen und im
Mons bructerus den Himmel küssen. Und diese Farbentöne und
sanften Übergänge! Im dunkelsten Violett hebt sich die Asse.
Sie gleicht einem Geistesgebilde, das sich noch nicht zu heiterer
Klarheit entwickelte. In den weiteren Schwingungen vollzieht
sich dieser Wandel: Die Farbentöne hellen und verklären sich
immer prächtiger, bis sie im Harze das zarteste Himmelblau
erreichen. Mehr kann die Erde nicht! Aber der Himmel zeitigt,
was die Erde nicht vollenden kann. Deutet das nicht jener
wunderbare Farbenakkord, der vom Himmelsrande her das Ge-
müt durchzittert und dessen tiefsten Ton die Maler mit ,,Meer-
grün“ bezeichnen?
Wir müssen noch einmal nach Norden schauen. Es will uns
nun der Ausblick auf die in den Horizont verlaufende Ebene fast
ängstigen. Doch siehe, da kommt schon die befriedigende Ver-
mittelung. Ein neues Schauspiel nimmt uns gefangen. Die
Sonne ist schon zur Hälfte unter den Horizont hinabgesunken,

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die ganze Landschaft nach Westen ruht vor uns in jener zauber-
haften Beleuchtung, die wir aus italienischen Abendlandschaften
wohl kennen. Alles ist Duft und Farbe, von jenen Gebirgs-
zügen hinter Hildesheim bis zu dem scharf hervortretenden
Burgberge über Lichtenberg. Und wie nun eben die Sonne den
letzten Blick hinüberwirft, da pulsiert eine wunderbare Bewegung
durch das vor uns liegende Gemälde, die sich nicht zeichnen und
sagen läßt, die das Herz sehen muß. Man empfindet ein Ebben
und Fluten, in dem die verschiedenen Farbtöne bald heller,
bald gesättigter erscheinen. Es ist einer jener wunderbaren Mo-
mente, wo Natur und Menschenherz in einem seligen Hallelujah
zusammenklingen. Wir stehen und stehen vor dem herrlichen
Landschaftsbilde, in dem die Farben nun zu dunkeln beginnen
und die Umrisse immer mehr verschwimmen. Ach, wir möchten
es festhalten! Aber die Erde ist das Land der Schatten. Siehe,
da schwimmt im Abendhimmel eine Purpurwolke wie ein
Nachen, der uns mit Entzückungen in die Heimat des Lichts und
der unvergänglichen Farben hinüberretten möchte. Aus dem
Elme aber klingt das heimwehselige Abendlied von Claudius:

Der Mond ist aufgegangen, ·
Die güldnen Sternlein prangen
Am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget
Und aus den Wiesen steiget
Der weiße Nebel wunderbar.

Und der Mond ist wirklich aufgegangen. Wir steigen in
seinem milden Glanze vom Elm hernieder, und wie über die
stille Landschaft breitet sich in unseren Seelen über die mäch-
tigen Bilder des Tages ein zartwallender Schleier. –

5. Bewässerung·
Ein schöner Morgen ist wiederum angebrochen! Wir sind
ganz früh abermals nach dem Westhölzchen hinaufgestiegen und
weiden unsere Herzen und Augen an der gestern betrachteten
Landschaft, wie sie nun in der Morgenbeleuchtung sich aus-
breitet. Oh, das ist alles herrlich; aber in der Abendbeleuchtung
war es charakteristischer. Daß man bei Betrachtung einer Land-

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schaft die Sonne im Rücken haben müsse, ist also eine nicht
immer zutreffende Behauptung. Unser vorher gezeichnetes Bild
will eben gegen die Sonne hin betrachtet sein, wenn es seinen
Zauber entfalten soll. Möchte nun der Leser sich noch einmal
meine Ciceronendienste im Elme gefallen lassen, so folge er mir
nochmals in das Reitlingtal. Wir müssen wählerisch sein mit dem
Wege, denn an Busch und Gras trieft der Tau. Unser Gebirge
übt nämlich durch seine eigentümliche Formation und kräftige
Bewaldung einen bedeutenden Einfluß auf die wässerigen Nie-
derschläge aus und wirkt dadurch tiefbestimmend auf eine nicht
unbedeutende Fläche seiner Umgebung. Es bildet für sie ein
großes Wasserreservoir. Mancherlei interessante meteorologische
Verhältnisse hängen damit zusammen. Im Volksmunde lebt
überall die Behauptung, daß Gewitter nicht über den Elm
dringen können. Prallt aber eins dennoch über das Gebirge,
dann sei Gott gnädig! Ohne Hagelschlag geht’s in solchem Falle
nicht ab. — Und wenn ,,der Elm bäckt und die Altenau braut“,
gibts in kurzer Zeit einen tüchtigen Regen. — Im Herbste und
gegen den Frühling hin haben die Umwohner des Elmes oft
das schöne Schauspiel: an den Vorbergen eine helle Schneedecke
zu bemerken, während im Lande nur Regen fällt. — Wer aber
zur Winterszeit zum Elme aufsteigt, der kann auch ohne Thermo-
meter beobachten, daß es auf dem Gebirge um einige Grade
kälter ist als im Flachlande. Was also der Elm bei Nacht und
Tag im Wandel der Zeiten in seinen tiefen Busen eingesogen,
das reicht er mit schöner Freigebigkeit als einen willkommenen
Segen weit umher in köstlichen Bächen, die als seine hurtigen
Diener bald zu erkennen sind an der eigentümlichen Livree; denn
alle Elmbäche haben, da sie ein stark kalkhaltiges Wasser führen,
einen bläulichen Spiegel. —- Bekanntlich gehört das Land
Braunschweig seiner Wasserverhältnisse wegen teils zum Strom-
gebiet der Elbe, teils zu dem der Weser. Dieselbe Beziehung
stellt auch der Elm dar und erlangt damit, wie auch in anderer
Weise, das Recht, sich als ein Herz- und Mittelpunkt unserer
Heimat respektieren zu lassen. Der freundliche Leser hört’s viel-
leicht nicht ungern, wenn ich ihm rasch nenne, was da vom Elme
her rinnt und rauscht. Die fisch- und krebsreiche Schunter
entspringt an der Nordseite des Elmes über Räbke, nimmt vom
Elm her den Hain-, Scham- (volkstümlich Schammecke) und
Osterbach, das Schickelsheimer Wasser, die Lutter, die Scheppau
samt dem Lauinger Bache auf und ergießt sich bei Walle in die

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Oker. Südwärts am Elm, den Quellen der Schunter gegen-
über, kommt die Altenau hervor, nimmt den Sambleber Sauer-
bach auf und sucht bei der Donnerburg die Fluten der Oker auf.
Über den Reitling bricht aus der Hölle die Wabe hervor,
durchfließt die Reitlingteiche, nimmt die Ohe, in welche sich der
Destedter Sandbach ergießt, bei Sickte auf und vereinigt sich
dann mit der schwesterlichen Schunter bei Querum. Die früh,
schon zu Karls des Großen Zeit genannte Missau kommt über
Warberg hervor und ergießt sich in den Schiffsgraben, um ihrer-
seits auch an der Füllung des deutschen Meeres zu arbeiten.
Nimmt nun der gefällige Leser eine gute Karte zur Hand,
während er daheim seiner Elmwanderung gedenkt, so gibt er
mir gewiß recht, wenn ich vorhin sagte, unser Gebirge wirke tief-
bestimmend auf einen nicht unbedeutenden Teil seiner Umgebung.
Zeichneten nicht die Elmgewässer mit ihren beweglichen Linien
in die weite Landschaft den Riß, nach welchem die naturverstän-
digen Vorfahren ihre Ansiedlungen bauten? — Ja, der Elm
hat dies schöne Landschaftsbild, wie der Wanderer schaut, in
seinem tieferen Innern ersonnen, und der Mensch führte den
gewaltigen Riß aus.

6. Geschichtliche Erinnerungen.
Ich zeige dem freundlichen Leser nun, wie die Ausführung
im Elme selbst und an seinen Abhängen sich gestaltet hat.
Rings um das Gebirge her, im einzelnen Falle gewöhnlich kaum
zehn Minuten vom Waldrande entfernt, liegt ein Kranz oft
höchst bemerkenswerter Ortschaften. Bei allen spricht sich das-
selbe Gesetz für die Ansiedlung aus. Man wählte ein Tal mit
rinnendem Bache, so das; der Elm den Hintergrund bildete.
Die ältesten Ansiedlungen sind unzweifelhaft Lucklum und
Lelm (?) jenes am Südwestrande des Elmes, dieses gerade
gegenüber an der anderen Seite. An beiden Punkten finden sich,
d. h. damals, vor 60 Jahren, bekannte uralte Begräbnisplätze
mit ungeheuren Massen cheruskischer (?) Urnen. Lelm wird der
freundliche Wanderer heute noch sehen. Nehmen wir nun
einmal Flügel der Phantasie und schwingen uns von Lucklum
rechts um den Elm. Da ist Erkerode, das unter allen Ort-
schaften dem Waldrande am nächsten gerückt ist. Evessen kennen
wir schon, beachten aber noch besonders das ,,Evesser Hoch“ mit

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seiner uralten Linde. Ampleben, Kneitlingen mit seinen Sagen
vom Till Eulenspiegel und Sambleben liegen wunderschön.
Etwas weiter vom Elme gerückt liegt die uralte Stadt Schöppen-
stedt mit Küblingen, dessen merkwürdige Kirche wegen eines
wundertätigen Marienbildes einst großen Zulauf hatte. Eitzum
liegt da mit seiner Romantik, wo der Elm am schmalsten ist.
Voigtsdahlum kommt nun, auf dessen Friedhof der einst ,,wegen
seiner Löwenstimme und Gestaltungskraft weit und breit bewun-



derte und gepriesene“ Pastor Goldmann von seinen Kämpfen aus-
ruht. Wobeck berühren wir nur, um rasch nach Twieflingen zu
gelangen, über welchem einst im Walde die vielgenannte Elms-
burg lag, welche Pfalzgraf Heinrich im Jahre 1221 den
deutschen Rittern schenkte. Über Hoiersdorf gelangen wir nach
dem bedeutsamen Schöningen. Hoch über der Stadt schaut das
Lorenzkloster mit seiner merkwürdigen Kirche hinaus ins Land.
Und der sogenannte ,,Ketilgarten“ erinnert an die Zeiten, wo
deutsche Kaiser gern in ,,Skaninge“ weilten. Beut auch die einst
berühmte Stadtschule nicht mehr ,,attisches Salz“, so versorgt
doch die großartige Saline noch immer das ganze Land mit
ihren Schätzen. Nun geht‘s rasch um die Südostecke des Elmes
nach Esbeck und Warberg. In letzterem Orte regierten einst

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die reichen Edlen von Warberg, welche den hohen Ehrentitel
Vestra dominatio für sich beanspruchten und deren letzter Sproß
unter solchen Verhältnissen 1654 in Halberstadt starb, daß sein
letzter Wille, in Warberg begraben zu werden, erst 18 Jahre
nach seinem Tode durch die Freigebigkeit des Herzogs Rudolf
August ausgeführt werden konnte. Räbke hat der Wissenschaft
reichlich gedient, denn seine beiden Papiermühlen waren von
jeher in schwunghaftem Betriebe. Da aber ist Lelm, das urnen-,
wasser- und steinreiche, wie sein geschichtskundiger Pfarrer Jo-
hann Christian Dünnhaupt einst sagte. Über Sunstedt gelangen
wir nach dem ehemals so berühmten Königslutter. Jetzt zeugt
von der alten Herrlichkeit nur noch die prächtige Domkirche.
Mitten in ihrem Schiffe ruht ihr Gründer, Kaiser Lothar (ge-
storben 1137). Neben ihm schlafen seine Gemahlin Richenza
und sein Schwiegersohn Heinrich der Stolze. Unter einem vom
Abt Fabrizius 1708 errichteten Kreuzgewölbe, dem Spring,
quillt oberhalb des Domes am Rande des Elmes die starke
klare Lutter hervor. Und nun schwingen wir uns um die Nord-
seite des Elmes über das etwas ferner liegende Lauingen nach
Bornum, wo noch im achtzehnten Jahrhundert der Abt von
Amelunxborn den Krummstab schwang. Wir haben bald Abben-
rode erreicht und sind dann in wenigen Minuten schon bei
Destedt, wo ein herrlicher Park zu längerem Verweilen einladet.
Von da ab erreichen wir bald Hemkenrode, in dessen romanisch-
gothischer Kirche sich ein Meßbuch vom Jahre 1511 in gepreß-
tem Schweinsledereinband befand. Es wird jetzt im Pfarrarchiv
zu Destedt aufbewahrt. Danach berühren wir Groß-Veltheim,
an dessen im Innern würdig ausgestatteter Kirche manche
steinerne Rittergestalt und Edelfrau von längst vergangenen
Zeiten redet und sind dann in 15 Minuten am Ziele unserer
Wanderung, wieder in Lucklum, dem mehr als halbtausendjäh-
rigen Sitze der Landkomture der Ballei Sachsen von 1260 bis
1809. Da findet der Freund der Geschichte und der Natur viel
Anziehendes. In der Kirche zeugt eine lange Reihe von
Wappenschildern von Rittern, die hier unter feierlichem Zere-
moniell in den deutschen Orden eintraten. Über dem Eingange
predigt die geharnischte Statue des ehrwürdigen Jan Daniel
von Priort vom Grund aller rechten Hoffnung mit dem köst-
lichen Sinnspruch: Spes mea Christus! Und die köstlichen
Glocken, welche dieser treffliche Landkomtur in den Jahren 1674
und 1681 gießen ließ, rufen heute noch die Gläubigen ins

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Gotteshaus. Im Rittersaale aber findet der Eintretende die
lange Reihe der Hoch- und Deutschmeister, Ordensritter und
Mitglieder des herzoglichen Hauses in 56 Gemälden ausgestellt,
und ihre ernsten Gestalten führen den Geist aus der Gegenwart
in die lockenden Fernen alter Tage. Tritt man nun wieder hin-
aus in den stattlichen Park mit seltenen Holzgewächsen und
plaudernden Wasserfällen, so kann man begreifen, weshalb der
Romantiker Novalis hier ein ganzes Jahr so gern verweilte.
Und nun müssen wir nach diesem Umfluge im Walde selbst
nach Wohnplätzen der Menschen uns umsehen. Unsere Wande-
rung hat uns gerade bis zum Reitlinge geführt. Da, wo jetzt
das zu Lucklum gehörende Vorwerk liegt, stand früher eine statt-
liche Burg, die ums Jahr 1260 in den Besitz der deutschen
Ordensritter kam. Bis dahin gehörte sie den Edlen von der
Asseburg. Und nun schaue der Wanderer einmal nach Norden
hinauf, dort finden sich die Reste der Krimmelburg, gebildet
aus hohen Wällen und tiefen Gräben. Südwestlich dort auf
dem Kucks erstrecken sich weniger stattlich aber räumlich noch
umfangreicher die Wälle der Brunkelburg. Sie boten allezeit
bei feindlicher Bedrängnis den umwohnenden Markgenossen
sichere Zuflucht. — Aber jetzt tut Eile not, wenn wir Lange-
leben, das einzige Dorf im Elm, gegen Mittagszeit erreichen
wollen. Nicht wahr, das ist Waldeinsamkeit hier. Und wie
hallen unsere Schritte so eigentümlich in diesen lieblichen Grün-
den der Hölle und des düsteren Winkels, durch welche unser
Fußweg sich windet. Aber dort wird es licht. Wir überqueren
die Straße, welche von Königslutter nach Schöppenstedt durch
eine prächtige Talung zieht und steigen nun ostwärts den
Hügel hinan. Einst stand hier ein fürstliches Schloß, für
Herzog August Wilhelm im Jahre 1689 als eine ,,angenehme
Ruhestätte nach Sorgen“ erbaut. Gern verweilten die alten
Herzöge auf Langeleben, zuweilen besuchte auch selbst Friedrich
der Große hier seinen herzoglichen Schwager. Kaum 100
Schritte ostwärts vom Orte steht noch die Hälfte eines Turmes
der Burg Langelege, fälschlich Alaburg genannt, von tiefen
Gräben umgeben, die aus der nahen, schön überbauten Quelle
sich reichlich mit Wasser versorgte. Wir gehen zu der alten
Warte und nehmen Platz auf einer freundlich wirkenden Bank.
Nicht wahr, das ist der Reise wert! Oh, diese herrliche Aus-
sicht! (Man denke sich den jungen Anwuchs weg!) Im Vorder-
grunde Lelm. Weiterhin lachende Dörfer. Am Rande des

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Horizontes winkt das ehemalige Elmathen, Helmstedt, mit
seinen Türmen, Klöstern und Lübbensteinen.
Nach einem Stündchen Rast trennen wir uns von dieser
Waldpoesie des stillen Anschauens. Über den Osterberg hin
geht’s durch den schönen Hochwald nach dem ,,Großen Rode“
früher als Ortschaft Tome Rothe genannt. Dort, nach Süd-
osten hinüber, liegt 3/4 Stunde von Räbke das Brunsleber
Feld, ein einsames Forsthaus neben dem schon genannten
schönen Eichenhaine. Gerade nach Süden hinüber findet sich
noch in einer schönen Bucht, nicht weit von Eitzum, das
,,Watzumhäuschen“, die Wohnung eines Forstwärters. Jetzt
lichtet sich der Wald. Wir stehen auf dem schönen, denkwür-
digen Großen Rodenanger. Dort um den trinkwasserspendenden
Quellteich, wo heute einsam die schöne Wohnung eines Forst-
beamten steht, lag einst das mittelalterliche Dorf. Aber wich-
tiger ist uns hier seitwärts am Ostsaume des Buchenhochwaldes
eine kleine Kapelle in gotischem Stile, erbaut im Jahre 1846.
Der Platz rings umher ist mit schönen Anlagen geschmückt.
In der Mitte derselben, von einer Einfassung umgeben, erblicken
wir den alten Tetzelstein. Hier soll ein Ritter Hagen im Jahre
1502 den Ablaßprediger Tetzel, als er von Königslutter nach
Küblingen zog, überfallen und beraubt haben. Die Einweihung
des Tetzeldenkmals fand am 20. September 1846 statt. Wir
lassen uns sinnend auf einer Bank in der Nähe der Tetzel-
kapelle nieder, und die Muse der Geschichte zeigt uns, welchen
bedeutsamen Platz unser Gebirge unter den Stätten einnimmt,
die sie mit leuchtenderen Farben in ihre Rolle einzeichnete.
Hier sammelte sich früh das Volk der Cherusker zum Dienste
der Götter Ostera. Kaiser Karl der Große machte im Jahre
784 dem heidnischen Wesen am Elme ein Ende, indem er,
mutmaßlich damals nach dem Siege über Wittekind, die hei-
ligen Haine zerstörte. Doch erinnern noch jährlich die zahl-
reichen Osterfeuer auf den Abhängen, wie tief im deutschen
Herzen die alte poetische Sitte haftet. Als aber im zehnten
Jahrhundert hunnische Roheit die fröhlich sprießenden Keime
der Bildung zu zertreten drohte, da hob Heinrich der Finkler
schützende Wälle auf den Zinnen des Elmes. Die Woge der
Barbarei prallte an ihnen zurück, und unter dem Schutze
deutscher Kaiser und edler Geschlechter erstanden bald Städte,
Klöster und Dörfer, mit ihren Türmen und Burgen aufstrebend
wie die Bäume des Waldes.

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7. Volkskundliches.
Ein Nachklang, hindeutend auf frühe glückliche Bildungs-
verhältnisse findet sich noch im Plattdeutsch des Elmes. Dem
horchenden Wanderer ist in Gruß und Gespräch das reine
I und U ohne jeglichen Vorschlag von O oder A begegnet.
(Vergl. dazu Lühmann im braunschw. Schulblatt vom 1. No-
vember 1924), freilich zeigt sich auch daneben an einzelnen
Punkten das unangenehm schnarrende R. Den Bildungsan-
regungen, wie sie durchs frischaufstrebende Schulwesen von
Lutter und Schöningen ausgingen und auch am Ende des acht-
zehnten Jahrhunderts in Lucklum unter dem ehrwürdigen Kom-
tur von Hardenberg ihre kleinen Wogen schlugen, gesellten sich
jene zu, welche an einzelne hervorragende Personen sich
knüpften. Wir haben schon die berühmten Prediger Falk und
Dünnhaupt genannt. Die rings um den Wald liegenden Ritter-
güter gaben durch ihr Vorbild dem kleineren Besitz manche För-
derung, die zu einem lebhaften Aufblühen der ländlichen In-
dustrie führten. So hat z. B. Lucklum das Verdienst, in dieser
Beziehung das Folgenreichste veranlaßt zu haben. Von hier
aus verbreitete sich nämlich über ganz Norddeutschland die
Zucht des edlen Merinos.
Aber wir müssen aufbrechen, wenn der freundliche Leser
noch den herrlichen Ausblick über Sambleben genießen und
dann auch zur rechten Zeit auf dem Bahnhofe in Schöppenstedt
bzw. Kneitlingen anlangen will. Wir wählen denselben Weg,
auf welchem im Jahre 1809 der tapfere Schill seinem Verhäng-
nis in Stralsund entgegenzog. Der Wald schützte ihn vor seinen
Verfolgern, und die Elmbewohner zeugten mit Wort und Tat,
daß sie ein gutes Verständnis für die Heldengedanken dieses
deutschen Mannes hatten. Wie hätte es auch anders sein
können! (Soweit bekannt, ist Schill nie in die Nähe des Elmes
gelangt.  Wird die Überlieferung jenen Heldenzug durchein-
andergeworfen haben mit dem beschwerlichen und bedrängten
Rückzuge der Rudorff-Husaren jenes weltberühmten Zietenschen
Regiments nach dem Unglück von Jena und Auerstädt, worüber
ein junger Offizier in seinem Tagebuch meldet: ,,Wir kommen
am 23. Oktobers 1806 gegen 2 Uhr in Sambleben an, einem
Dörfchen, das bestimmt war, vier Schwadronen unterzubringen.“
Trotz regnerischer, stürmischer Nacht, wo kein Holz zum Wärmen
aufzutreiben war und es an Kost mangelte, versah der Kornett

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seinen Dienst auf Feldwache, indem er alle Dreiviertelstunde
die Posten revidierte, denn der Feind war nahe und zwang die
Husaren, geschlossen zu reiten. Fraglos ging der Marsch, der
für den 24. Oktober schon bei Gardelegen endete, in ziemlicher
Eile auf genanntem Wege durch den Elm.) Das Gebirge in
seiner scharf ausgeprägten Bestimmtheit erzeugt eine Bevölke-
rung, die mit markiger Heimatsliebe an ihrem Wohnplatze und
den geschichtlich gegebenen Verhältnissen hängt. Diese Heimats-
seligkeit fühlte das fremde Joch scharf und bitter. Sind nun
gleich in der neuesten Zeit manche Vögel durch den Elm ge-
flogen, welche die oft verwirrten Lieder des Tages pfiffen, so
hat doch die Bevölkerung im ganzen wenig das Ohr darnach
gewendet. Deutscher Sinn, wurzelnd in naturwüchsiger Heimat-
liebe, kennzeichnet noch immer die Elmbewohner. Auswande-
rungstrieb und was damit zusammenhängt, findet sich deshalb
nur im geringen Grade. Der freundliche Leser hat wohl nicht
unbemerkt gelassen, wie die leibliche Erscheinung der Elmkinder
noch ein gut deutsches Gepräge zeigt. Kräftige Gestalten mit
natursinnigem, klarem Angesichte begegnen dem Wanderer über-
all. Die Augen blicken sanft und tief, die Stimmen aber sind
klangreich wie der Wald, in dem sie sich bildeten. Im Durch-
schnitt hat der Elmbewohner einen heiteren Sinn, liebt den
Scherz und die neckende Rede, die sich oft zum drastischen
Knittelverse gestaltet. Im gewöhnlichen Verkehr ist der Aus-
druck knapp und häufig durchwebt mit kernigem Sprichwort,
dessen Quelle im Walde liegt.
Die Bevölkerung scheidet sich, abgesehen von den 3 Städten,
den Eigentümern der Rittergüter und den Domänenpächtern,
in größere Hofbesitzer, Kleinhöfner mit wenigem Lande, soge-
nannte Anbauer und kleine Leute, oft ,,lüttje Mann“ genannt,
die zur Miete wohnen. In den Händen der ersten beiden
Klassen befindet sich vorzugsweise der Betrieb des Ackerbaues;
die letzteren beiden treiben besonders Handwerk und Waldarbeit,
oder dienen um Tagelohn in den Steinbrüchen und auf den
Feldern, besitzen aber in der Regel auch etwas Pachtacker, auf
dem sie die nötigsten Lebensbedürfnisse erzielen. In den ersten
beiden Klassen findet sich nicht selten bedeutende Wohlhaben-
heit, und auch die letzteren erlangen bei regem Fleiß ihr gutes
Auskommen. Drückende Armut gehört zu den Ausnahmen.
Allen aber gewährt der Wald einen Hintergrund, von dem
aus die Verhältnisse sich gestalten. Wenn die Arbeiten in Wiese

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und Feld beseitigt sind, dann finden die größeren Hofbesitzer
und die Kleinhöfner, welche häufig statt mit Pferden mit Kühen
ihren Acker bewirtschaften, in der Abfuhr des Elmholzes und
der Bruchsteine eine ergiebige Nahrungsquelle. Vom November
an bis tief in den Frühling hinein schallen die Äxte und Sägen
der zahlreichen Waldarbeiter durch den Elm. In den vielen
Steinbrüchen, Kalk- und Gipsöfen finden Jahr aus Jahr ein
viele einen sauren, aber guten Verdienst. Maurer und Zimmer-
leute treffen überall gutes Material für ihr Gewerk im Über-
flusse an. Die zahlreichen Weber und alle Handwerker, die
sonst mit ihrer Arbeit ins Haus gewiesen sind, ziehen häufig
in den Wald zur Holzlese und fahren und tragen reichlich zu-
sammen, damit ihnen die Poesie des warmen Ofens nicht
mangelt. Weib und Kind aber des ,,lüttjen Mannes“ sind die
bevorrechtigten Holzsammler und tragen nebenbei manchen ge-
würzhaften Bissen fürs Zicklein nach Hause. Karawanenartig
ziehen sie hinauf und wieder herab, und im ersten Frühlinge
prangt an jeder Tracht ein Sträußchen Märzröschen oder
Schlüsselblumen. Um die Zeit der Maiblumen gibt’s für die
Kinder manchen kleinen Verdienst, und wenn die Erdbeeren und
Himbeeren wohlgeraten, so wimmelt der Wald von fleißigen
Händen. ,,Sitzt Buch“, dann gibt’s im Herbste ein lustiges
Waldleben. Das klopft und purzelt und siebt an allen Enden.
Es ist unglaublich, welche Mengen von Bucheln dann zu-
sammengelesen werden. Da gibt’s für den Winter lustig
flackernde Lampen und fette Kartoffelkuchen. Der Elm läßt
sein Völklein nie im Stich und auch für die Tage der Krank-
heit reicht er kräftige Heilkräuter, von denen Finkenkraut,
Odermennig, Heidecker, Grundheil und Tausendgüldenkraut be-
sonders allen wohlbekannt sind und reichlich gesammelt werden.
Wir sind aber während des Gespräches schon in die Nähe
des Waldrandes gelangt. Jetzt treten wir hinaus. Da liegt
der Harz in seiner imponierenden Majestät. Aber der Elm ist
doch auch wunderschön und einzig in seiner Art! Kehre der
freundliche Wanderer bald wieder und bringe einen guten
Freund mit, dem auch das Herz noch weit wird im Wald.
               Also: Auf Wiedersehen im Elme!

29



Auf Wanderers Spuren mit dem OSM-Route-Manager im Elm unterwegs

 

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13 14 15 16 17 18
19 20 21 22 23 24
25 26 27 28 29 30
31 32 33      

 

 

 

 

 

Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.


Braunschweigisches Magazin
32tes Stück.
Sonnabends, den 10ten August 1861.

Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.

Seit 1856 ist bei Lucklum ein Kalktuffbruch im Betriebe, der nicht blos dem Geologen,
sondern auch dem Historiker reiche Veranlassung zu den interessantesten Beobachtungen darbie-
tet. Die folgenden Zeilen wünschen dem genannten merkwürdigen Erdaufbruche eine. allge-
meinere Beachtung zu verschaffen und halten sich für diesen Zweck besonders an die histori-
schen Momente.
    Unser Kalktuffbruch hat bis dahin einzelne Partien des Wabebeckens auf dem rechten
Ufer des Flusses, nördlich von Lucklum, aufgedeckt. Nicht eine einzige der in Angriff genom-
menen Localitäten führt einen Namen, der auf die interessanten Ueberbleibsel hindeutete, welche
sich reichlich in ganz geringer Tiefe fanden. Man öffnete den Bruch westwärts in der »gro-
ßen Mühlenbreite« und ging dann in östlicher Richtung durch die »Allee« (Weg zwischen
 Lucklum und Gr.-Veltheim) in die »kleine Mühlenbreite« und den »großen Garten«. Ge-
genwärtig ist die »große Breite« in Angriff genommen *). Man sieht, daß die heutige Be-
nennung der genannten Flächen von deren Lage, Größe und Benutzung hergenommen ist.
Dieser Umstand wirft einiges Licht auf die entdeckten Ueberbleibsel, wie weiterhin sich ergeben
wird. Letztere bestehen vorzugsweise aus einer großen Menge menschlicher Gebeine, zahlreichen
Todtenurnen und vielen verschütteten, aber nach ihrem ganzen Umfangse leicht zu erkennenden
Vertiefungen. Es wird zweckmäßig sein, vorstehende Eintheilung dem Nachfolgenden zu
Grunde zu legen.
    Die  m e n s c h l i c h e n  G e b e i n e  fanden sich besonders häufig in der »großen Mühlen-
breite«.Diese Fläche dehnt sich zwischen Lucklum und dem im Jahre 1800 angelegten neuen
Kirchhofe aus. Seit Menschengedenken ist in ihr hier und da nach »Scheuersand« gegraben.
Die Sage berichtet hier, daß man über solcher Arbeit auch einmal auf ein menschliches Gerippe
in einem Harnisch gerathen sei. Gewiß ist; daß sich in den Scheuersandgruben zu alten Zei-
ten, und wo sie auch in der genannten Fläche geöffnet wurden, allerlei menschliche Gebeine
fanden. Diese zeigten sich denn ebenfalls sehr reichlich, als die »Gr.-Mühlenbreite« im Jahre
1856 zur Gewinnung von Kalktuff in Angriff genommen wurde. Auch unter dem Wege
in der »Allee« fand man Spuren von Gebeinen. Die Westseite der »Kl.-Mühlenbreite«

—————
*) Im Ganzen bis jetzt 20 Morgen geöffnet. Davon kommen auf die »Gr.-Mühlenbreite«
    7, »Kl.-Mühlenbreite« 9, »Allee« 1, »Gr.-Garten« 1, »Gr.-Breite« 2 Morgen.

314  Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.

zeigte eine große Menge derselben. Im »großen Garten« fand man nur zwei sehr defecte
Gerippe.
    Die fraglichen Gebeine fanden sich durchweg, mit geringen Ausnahmen, in. einer Tiefe
von 1½ bis 2 Fuß. In der Regel lagen 3 — 4 Gerippe sehr nahe bei einander. An
einer Stelle wurden zwei derselben über einander liegend angetroffen. Mit Ausnahme der
beiden Gerippe im »großen Garten« befanden sich die übrigen sämmtlich in der sogenannten
»heiligen Linie«, die Schädel nach Westen gewendet. Die erstern lagen in der entgegen ge-
setzten Richtung. Neben einem Gerippe in der »großen Mühlenbreite« fand sich ein stark
oxydirtes Stück Eisen, einer Lanzenspitze ähnlich. Uebrigens traf man keinen Gegenstand,
der auf die Geschichte der Gebeine den geringsten Lichtstrahl werfen könnte. Es muß noch
bemerkt werden, daß hier und da in der aufgedeckten Fläche sich auch Pferdeschädel zeigten.
    Die menschlichen Gebeine bestanden vorzugsweise in Schädeln und Schenkelknochen.
Letztere waren von bedeutender Länge und Dicke. Die Schädel zeigten in der Regel lücken-
lose Zahnreihen. Die Zähne selbst hatten den schönsten Schmelz bewahrt. Leider kann nicht
berichtet werden, ob unter den Gebeinen sich auch solche fanden, an denen gewaltsame Kno-
chenbrüche wahrzunehmen waren. Auch die Anzahl der Gerippe ist nicht genau zu be-
stimmen, da man versäumte, die aufgefundenen Schädel zu zählen.
    Wenden wir uns nun zu den entdeckten  T o d t e n u r n en.  Daß dergleichen an der Ost-
seite des Elmes in der Nähe von Lelm schon in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhun-
derts entdeckt und in nicht unbedeutender Anzahl ausgegraben sind, ersieht man aus einer
höchst interessanten Schrift unter dem Titel: »Beiträge zur deutschen niedersächsischen Ge-
schichte und deren Alterthümern.  Von  J o h a n n  C h r i s t i a n  D ü n n h a u p t, Pastor zu
Lelm und Langeleben im Braunschweigischen. Helmstedt. Gedruckt bei der Witwe Schnorrn.
Univ. Buchdr. 1778. 309 S. und 1 Kupfertafel«. So viel aber bekannt, hat man früher
an der Westseite des Elmes noch keine Todtenurnen aufgefunden.. Ich bemerkte vor 16 Jah-
ren im sogenannten »Westhölzchen«, östlich von Erkerode, an einer Stelle, wo Lehm gegra-
ben wurde, Urnenspuren. Ebenso begegneten mir dergleichen in einem Hügel auf dem Anger
zwischen dem  R e i t l i n g e  und dem  B u r g b e r g e. Leider war weder an dem einen noch am
andern Orte eine unversehrte Urne zu gewinnen Beim Reitlinge fand ich in dem genannten
Hügel ein stark oxydirtes 6 Zoll langes Stück Eisen, das ich für einen Dolch halte. Vor
12 Jahren entdeckte ich ferner an der Südostseite der »kleinen Mühlenbreite« eine unverkenn-
bare Urnenspur. Das Vorbemerkte veranlaßte mich zu der Hoffnung, es werde das Fort-
schreiten im Kalktuffbruche auch zur Entdeckung von Todtenurnen führen. In der »kleinen Mühlenbreite« erfüllten sich meine Erwartungen in überreichem Maße. Eines Tages im
Frühlinge von 1858 besuchte ich den Steinbruch und traf in einem Haufen abgeräumter
Erde Urnenspuren. Sie zeigten eine schiefergraue, auch schwarze Farbe, und die Wanderungen
waren kaum ¼ Zoll dick. Auf meine Nachfrage, woher die Erde genommen sei, wurde mir
eine Stelle gezeigt auf welcher die verticale Wand der noch unberührten Erdschicht sichtbares
Zeugnis lieferte, daß sich hier früher eine künstliche Vertiefung müsse befunden haben. Die
Schichtung über dem Kalktuff ist sonst eine durchweg wollige, an der bezeichneten Stelle
zeigte sich aber auf der Durchstichsfläche ein scharf abgegränztes Rechteck von etwa 4 Fuß
Höhe und 8 Fuß Länge Die Füllung bestand auf der Sohle der Vertiefung aus unver-
kennbarer Asche mit Kohlenspuren durchsetzt. Hier und da zeigten sich auch kleine Urnen-
scherben. Je weiter der Erdaufbruch in der »kleinen Mühlenbreite« fortgefürt wurde, desto
mehr Vertiefungen der angegeben Art deckte man auf. In allen zeigte sich auf der Sohle
Asche, mit Kohlen, Knöchelchen und Urnenspuren vermischt. Wo diese Vertiefungen begannen,

315  Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.

da endete das Vorkommen menschlicher Gebeine. Leider wurde eine unversehrte Urne nicht
aufgefunden. Etwa in der Mitte an der Südseite der »kleinen Mühlenbreite« , kaum 20
Schritte vom Wege ab, wurden zwei trichterförmige Vertiefungen entdeckt, die sich noch
1½ Fuß in den Kalktuff senkten. Von diesen später.
    Gegen den Herbst 1859 waren die Arbeiten im Steinbruche bis in die Gegend vorge-
rückt, wo ich vor 12 Jahren Urnenspuren entdeckt hatte. Ein längeres Unwohlsein verhin-
derte mich, gerade um diese Zeit meine Aufmerksamkeit den Ausgrabungen zuzuwenden. Als
ich zum erstenmale den Steinbruch wieder besuchte, mußte ich zu meinem Bedauern erfah-
ren, daß man beim Abräumen an der bezeichneten Stelle über 30 Urnen aufgefunden, aber
als nutzlose »alte Töpfe« theils zerschlagen, theils in den Schutt geworfen hatte. Nur einige
Seherben fand ich noch. Die bezeichneten Urnen hatten sämmtlich nahe bei einander unge-
fähr ¾ Fuß tief unter der Oberfläche gestanden. Form, Farbe und Dicke derselben erinner-
ten an die früher entdeckten. Obgleich nun der köstliche Urnenschatz unwiederbringlich verloren
war, so hatte doch ein Arbeiter aus einem »Topfe« einen Gegenstand gerettet, dem ich einen
großen Werth beilege. Soweit meine Kenntniß reicht, ist kein ähnlicher auf irgend einem
heidnischen Begräbnißplatze in Norddeutschland aufgefunden. Es besteht dieses Unicum aus
zwei zusammengehängenden Körpern, die aus Thon geformt sind. Der eine stellt eine Kugel
dar von der Größe einer starken Wallnuß. Durch denselben führen drei Oeffnungen von
der Weite eines Gänsekieles, die sich rechtwinkelig im Centrum durchschneiden. Der andere
Körper gleicht einem Trompeten-Mundstücke und paßt genau auf die bezeichneten Oeffnungen
des ersten. Waren diese Körper Cultusgeräthe, Schmuck oder Kinderspielzeug?
    In dem »großen Garten«, der im Jahre 1859 in Angriff genommen wurde, zeigten
sich sogleich künstliche Vertiefungen, die Asche, Kohlenspuren, Urnenscherben und hier und da
Knöchelchen enthielten. Auch zwei trichterförmige Gruben entdeckte man. In der einen fand
sich eine kleine, gelbliche Urne. Sie ist, einen Ausbruch am Rande abgerechnet, wohl erhal-
ten. Im weiteren Verfolge der Brucharbeiten fanden sich außerordentlich viel Urnenscherben,
die aber wesentliche Unterschiede zwischen den hier und in der ·»kleinen Mühlenbreite« vergra-
benen Urnen erkennen ließen. Die ersteren müssen von bedeutender Größe gewesen sein, zum
Theil 1½ Fuß hoch und 1 Fuß im Durchmesser. Auch der Stoff ist ein anderer. Die
Dicke ist·gleichfalls viel bedeutender. An vielen Urnenspuren zeigten sich Henkel. Ein Stück
ist aufgefunden, an dessen Außenseite man eine Art von Glasur und Verzierungen bemerkt.
Die meisten Spuren zeigen an der Außenwand einen roh ausgestrichenen Ueberzug, der viel
Katzengold enthält. Es hat nicht gelingen wollen, in der genannten Localität eine einzige
Urne unverletzt zu gewinnen. Die ausgegrabenen Spuren deuteten auf eine große Menge
einst hier vergrabener Todtentöpfe.
    In der »großen Breite«, wo gegenwärtig gearbeitet wird, fanden sich bis jetzt wenig
Urnenspuren. Ebenso stieß man auf keine künstlichen Vertiefungen von der Art, wie in den
vorgenannten Localitäten. Vor kurzer Zeit traf man auf zwei Stellen, die wieder Urnenspu-
ren enthielten. Die eine ist abgeräumt. Sie hatte die Form eines Gewölbes und enthielt
neben außerordentlich viel Urnenscherben (es fand sich ein Bodenstück, an welchem ein Rand
von circa ¼ Fuß Höhe) auch Kohlenspuren und menschliche Gebeine. Ich bemerkte ein
Schlüsselbein, viele Rippen, Schenkelknochen und einige Lendenwirbel. Die auf einer Durch-
stichsfläche sich zeigende zweite Stelle ist in der Form der ersten ganz gleich. Ueber ihren
Inhalt müssen die fortgesetzten Arbeiten weitere Auskunft geben.
    Ich erlaube mir, in Beziehung auf das Vorkommen von Urnenspuren an der Westseite
des Elmes resp. im Reitlingsthale, hier noch einiges anzumerken. Ostwärts von Erkerode

316 Hundertjährige Käse.

liegt auf dem rechten Wabenufer eine Stelle, die unter dem Namen »wüste Kirche«, bekannt
ist. Hier wurden in Folge der Separation im Frühlinge d. J. Erdarbeiten vorgenommen,
bei welchen man auf Mauerwerk stieß. Ich erfuhr davon im Laufe der Zeit und begab
mich im Juni an Ort und Stelle. Man hatte, da die »wüste Kirche« sich südlich an einem
sehr tiefen Hohlwege befindet, den vorgefundenen Schutt zur Ausfüllung in letzteren gestürzt.
Da lagen Mauersteine, Mörtel und Ziegel wild durch einander. Die Ziegel waren von ganz
ungewöhnlicher Form. Sie glichen durchschnittenen Cylindern und hatten  3 — 4 Zoll lange
nasenartige Haken. Ich untersuchte die Wand des Hohlweges, auf welcher sich noch unan-
getastetes Mauerwerk befand, genauer und entdeckte eine Menge von Urnenstücken. Die
»wüste Kirche« lag also über einem heidnischen Begräbnißplatze *). Man bauete bei der Chri-
stianisirung Norddeutschlando vorzugsweise auf solche Plätze die ersten Capellen.
    Etwa in der Mitte zwischen der »wüsten Kirche« und dem Reitlinge wurde auf dem
rechten Wabenufer ebenfalls in Folge der Separation ein Hügel durchstochen, in welchem ich
früher schon Urnen vermuthet hatte. Vor einiger Zeit durchforschte ich die Durchstichsflächen
und bemerkte zu meiner Freude sehr interessante Urnenscherben. Sie zeigen auf dem Durch-
bruche viel Katzengold, während die Ueberreste unter der Grundmaner der »wüsten Kirche«
denen gleichen, welche ich in der »kleinen Mühlenbreite« gefunden hatte.
(Der Schluß folgt).

321
Braunschweigisches Magazin.
33tes Stück.

Sonnabends, den 17ten August 1861.
Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.
(Schluß)


Ich habe jetzt noch von den an verschiedenen Stellen aufgefundenen künstlichen Vertie-
fungen zu berichten. Sie traten, wie oben bemerkt, erst da auf, wo menschliche Gebeine
nicht mehr gefunden wurden. Nach ihrer Form lassen sie sich in vier Classen scheiden; trich-
terförmige, grabenartige, solche deren Bodenfläche Rechtecke, die Wandungen aber verticale
Flächen bilden und gewölbeartige.
    Von den trichterförmigen wurden zwei in der »kleinen Mühlenbreite«, zwei andere da-
gegen im »großen Garten« entdeckt. Sie enthielten sämmtlich oben etwa 12 Fuß im Durch-
messer. Die Tiefe kam dieser Ausdehnung fast gleich. Unten betrug der Durchmesser etwas
über 2 Fuß. Sie waren fast ganz mit Asche, Kohlenspuren, kleinen Knochen und verschiede-
nen Rollsteinen angefüllt. Letztere kamen jedoch nicht häufig vor. Sie waren von der Art,
wie man sie im Alluvium am »Veltheimer Berge« häufig antrifft. In dem einen Begräb-
nißtrichter des »großen Garten« stand unten auf dem Boden die oben erwähnte gelbe Urne.
    Die einzige grabenartige Vertiefung fand sich in der »großen Breite«. Sie zeigte bei
4 Fuß Breite eine etwas größere Tiefe. Die Länge kann ich nicht angeben, weil diese Ver-
tiefung nicht ganz aufgedeckt wurde. Der blosgelegte Theil war über 24 Fuß lang. Die
Füllung bestand größtentheils aus Asche, in welcher fast gar keine Kohlenspuren auftraten.
Die dritte Art der Vertiefungen zeigte verschiedene Größenverhältnisse. Die Tiefe war bei
allen fast dieselbe. Sie überschritt selten 5 Fuß. Die Grundfläche und die Wandungen zeig-
ten stets die oben angegebene Form. In der »kleinen Mühlenbreite« bestand die Füllung zu
einem großen Theile aus Asche, Kohlenspuren, kleinen Knochen, zerbrochenen Urnen und eini-
gen Rollsteinen. Im »großen Garten« wurde eine Vertiefung aufgedeckt, die 20 Fuß lang,
16 Fuß breit und 5 Fuß tief war. An der südlichen Längenseite ihrer Bodenfläche zog sich
eine weitere Einsenkung von 1 Fuß Tiefe und Breite hin. Die Füllung bestand durchweg
aus Dammerde, ohne eine Spur von Asche oder Kohlen. Auf dem Boden fand man einen
4 Zoll langen zugespitzten Knochen, der wohl erhalten war und von häufigem Gebrauche zeugte.
Ich halte ihn für ein Priestergeräth. Die übrigen Einsenkungen im »großen Garten« enthielten größ-
tentheils außerordentlich viel Urnenscherben, Asche, Kohlenspuren und Rollsteine. Einige dagegen
zeigten in ihrer nordöstlichen Ecke auf der Bodenfläche einen Raum, der mit Stücken Muschelkalk
fast kreisförmig umstellt war. In diesem Raume fanden sich Asche und Kohlenspuren. Die Boden-

322 Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.

fläche war auf diesen Stellen 3 — 4 Zoll tief ganz hart gebrannt. In einer dieser Vertiefungen
fand sich, tief im Scheuersande steckend, das Nagelglied eines Pferdes. Auf einer andern
Stelle wurde eine Stange von einer Rehkrone nebst entsprechender Schädelplatte gefunden *).
    Von den gewölbeartigen Vertiefungen sind bis jetzt nur zwei entdeckt. Das Nöthige
über dieselben ist oben gesagt.
    Eine Regel, die beim Gruppiren der bisher anfgedeckten Einsenkungen beobachtet wäre,
habe ich bis jetzt nicht entdecken können. Das einzig Gesetzmäßige besteht darin, daß die Ver-
tiefungen in ihrer Längenerstreckung stets der Richtung von Westen nach Osten folgen. Doch
vermuthe ich, daß jene 20 Fuß lange Einsenkung im »großen Garten« gewissermaßen einen
Mtttelpunct bildet.
    Wie soll nun aber die Muse der Geschichte die in den Kalktuff geschriebenen Züge deu-
ten **)? Versuchen wir mit aller Behutsamkeit, einige ihrer Winke zu beachten, da, wie ein
hochgeachteter vaterländischer Geschichtsforscher klagt, »gleichzeitige Schriftsteller nur dürftig
belehren«.
    Nach meinem Dafürhalten ist von den Localitäten, in welchen sich hier Urnen finden,
bis jetzt nur ein geringer Theil aufgedeckt. Die Hauptfundörter liegen jedenfalls, theils un-
ter dem Orte Lucklum selbst, theils in den noch unberührten Partien des »großen Gartens«
und im »Schmidekampe«, da man bei geringer Aufmerksamkeit in der Ackerkrume der letzt-
genannten Flächen sogleich Urnenspuren entdeckt. Aber wenn auch nur die aufgebrochen
Flächen nach ihrem Urnengehalte angesehen werden; so wird man zu der Ueberzeugung ge-
drängt, Lucklum sei in grauer Vorzeit ein Hauptbegräbnißplatz der Um-
wohner gewesen. Neben diesem Platze lagen, wenigstens im Wabenthale östlich hinauf,
verschiedene kleinere Begräbnißplätze. Die Menge der Urnen weiset zugleich auf die damals
starke Bevölkerung an der Westseite des Elmes hin.
    Aber welches Volk der Vorzeit verbarg denn hier die Asche seiner Todten? Diese Frage
ist mit Sicherheit aus den entdeckten Ueberbleibseln schwer zu beantworten.
    Die Art der größesten Mehrzahl unserer Urnen weiset auf cheruskischen Ursprung
hin. Die Cherusker hatten nämlich vorzugsweise ungebrannte und unbedeckte Urnen,
die sie unter sehr flachen Hügeln, etwa 2 — 3 Fuß hoch, verbargen ***). Dazu kommt,
daß sich bis jetzt weder Waffen, noch sonstige bedeutsame Gegenstände in oder neben den Ur-
nen gefunden haben. So begraben aber die Cherusker ****). Auch der Name »Lucklum«
weiset auf cheruskischen Ursprung hin. Man sehe darüber namentlich: »Ueber Benennung
und Ursprung aller Oerter des Herzogthumes Braunschweig-Wolfenbüttel. Von Johann
Heinrich Reß. Wolfenbüttel. 1806. S. 20 ff.«
   Der Stand- und Fundort unserer Urnen bietet kein Moment dar, wornach man
entweder für diese oder für eine andere Völkerschaft sich entscheiden könnte. Die bisherigen
Aufgrabungen verwirren vielmehr in diesem Puncte das Urtheil, als daß sie es feststellen
 
————
*) Auf dieser Stelle fand sich auch in einer nicht unbedeutenden Tiefe ein Topf mit Bracteaten.
Der Topf ist sofern höchst interessant, als er eine sächsische Todtenurne zu sein scheint. Ueber
diesen Fund vielleicht später.
**) Die germanische Alterthumswissenschaft ist bis zum heutigen Tage noch nicht weiter gediehen,
als höchstens im Materiale selbst ein Kriterium des Alters der aufgefundenen Gegenstände zu
erkennen. »Ueberblick des Entwickelungsganges der Kirchen-Architektur. Von Dr. Carl Schil-
ler. Braunschweig. Leibrock.  1855.  S. 63«
***) Dünnhaupt, Beiträge zur deutschen niedersächsischen Geschichte. S. 241.
****) Dünnhaupt in d. angef. Werke S. 219.


323 Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.

könnten. Es bleibt eine räthselhafte Erscheinung daß die überwiegende Mehrzahl der· Urnen
sich zerbrochen, oft den Fuß nach oben gekehrt, in beinahe 5 Fuß tiefen Einsenkungen vor-
fand.
    Die Henkelurnen, so wie die gebrannten Urnen deuten auf thüringischen und sächsischen
Ursprung *). Sachsen und Thüringer deckten außerdem ihre Urnen auf verschiedene Art und
umstellten sie mit einem Kranze von Steinen. Es ist sehr merkwürdig, daß gebrannte und
Henkelurnen nur auf der Seite nach Erkerode vorkamen. Dieser Ort ist nach Reß thürin-
gischen Ursprungs **).
    Soweit jetzt das Urnengebiet von Lucklum aufgedeckt ist, scheint der Befund zu der An-
sicht zu drängen, daß hier eine Hauptbegräbnißstelle der Cherusker war. Hiernach hatte
die Mehrzahl der Urnen ein Alter von 1800 — 1900 Jahren. Daß nachher Katten ***),
Thüringer und Sachsen die Asche ihrer Todten ebenfalls hier der Erde übergaben, beweisen
die betreffenden Urnenreste. Spätere Ausgrabungen belehren hierüber vielleicht noch aus-
führlicher.
    Sollten die seither beschriebenen Vertiefungen übrigens zum guten Theile Wohnun-
gen gewesen sein, dann mußte angenommen werden, daß eine Partie unserer Urnen·vielleicht
gar aus cimbrischer Zeit herstammte. Die Cherusker und ihre Nachfolger pflegten nicht mehr
in die Erde·zu dauen ****), was bei den Cimbern durchweg Sitte war. Ich weiß nicht, in
wie weit die einst bei Harbke ausgegrabenen Urnen den unsrigen ähnlich sind. Die ersteren
sollen cimbrischen Ursprungs sein.
    Wo unsere heidnischen Vorväter bedeutende Begräbnißplätze hatten, da hegten sie auch
in der Nähe ihre Götzenheiligthümer, die in der Regel aus dunkeln Hainen bestanden. Es
steht also der Annahme Nichts entgegen, daß Lucklum selbst, oder doch ein Ort in
nächster Umgebiing, müsse ein hochverehrtes Heiligthum gewesen sein. Ich
ließ bei Erwähnung der 20 Fuß langen Höhle im »großen Garten« schon durchblicken, daß
ich dieselbe für eine Priesterwohnung halte. Einzelne Vertiefungen, z. B. auch zwei von den
trichterförmigen scheinen Opferzwecken gedient zu haben. Ich erinnere ferner daran, daß rings
um Lucklum her Localitäten sich befinden, deren Namen an altgermanischen Opfercultus er-
innern. Zwischen Lucklum und groß Veltheim liegt ein Osterberg. Ein gleichnamiger in-
teressanter Hügel findet sich auf Volzumer Feldmark, westlich von hier. Oestlich von Luck-
lum erhebt sich der sogenannte »Hahnberg«, gewiß ursprünglich Hainberg genannt. Im
Reitlingsthale findet sich auf der Nordseite der Heinekenstoot, was wahrscheinlich sowiel als
»Seite oder Ausgang des Haines« heißen soll. In den Schriften des »Stryckers« eines
Scribenten aus dem 13. Jahrhundert findet man Heinic für Hain. Stoot aber ist jeden-
falls Stoß. Dieses Wort bedeutet aber auch »Seite eines Schachtes, Ende eines Stol-
lens« ). Vielleicht war hiernach Lucklum ehemals der Mittelpunkt für
den Cultus der Ostera. Daß gerade auf hiesigem Gebiete die einzelnen Localitäten ge-
———
*) Dünnhaupt, in d. angef. Werke. S. 234.
**) Reß, in d. angef.· Werke. S. 85 ff.
***) Für die Anwesenheit der Katten in hiesiger Gegend spricht das nahe gelegene Cremlingen. Die
Ortschaften auf  i n g e n  deuten auf kattischen Ursprung. Reß. S. 57 ff.
****) Es ist mir nicht unbekannt, daß Tacitus behauptet, die alten Germanen hätten für den Win-
ter und zur Aufbewahrung ihrer Vorräthe Höhlen in die Erde gegraben und mit Dünger be-
deckt.
) Man vergleiche »Sprachvergleichendes Wörterbuch der deutschen Sprache«. Von Dr. Kalt-
schmidt. S. 733


324 Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.

wöhnlich nicht mit bedeutsamen Namen auftreten, finde ich in der Geschichte des Ortes und
des deutschen Ordens begründet. Dieser, der Preußen den Banden des Heidenthumes entris-
sen, duldete gewiß auf seinem Territorio am Elme keine Benennungen, die an den finstern
Götzencultus erinnerten. Einzelne historische Anklänge haben sich jedoch auf dem Lucklumer
Gebiete in den Benennungen der Localitäten erhalten, z. B. »Wolerberg, Wolengrund,
Windal(? ?) *), Allen  rc.«.
    Irre ich nun in Vorstehendem nicht, so ergiebt sich damit vielleicht ein brauchbarer Er-
klärungsversuch über die in der »großen und kleinen Mühlenbreite« anfgefundenen menschli-
chen Gebeine. Sie gehören auf keinen Fall einer geschichtlich sichern Vergangenheit an.
    Man könnte etwa denken, die Belagerung Lucklums unter Heinrich Julius im
Jahre 1605 sei so hitzig gewesen, daß recht viele Menschenleben darauf gegangen **). Aber
woher sollte der Comthur  H a n s  v o n  L os s a w  die Streitkräfte genommen haben, mit wel-
chen er in des Herzogs Reihen solche Verwüstungen anrichten konnte?  Eben so wenig kön-
nen die Gebeine aus den Scharmützeln herrühren, welche von Zeit zu Zeit zwischen Söldnern
der Stadt Braunschweig und verschiedenen Gegnern an der Westseite des Elmes statt fanden,
da keines derselben in unmittelbarer Nähe von Lucklum vorfiel, oder eine Bedeutung hatte,
die den fraglichen Knochenresten entspräche.
Es ist auch nicht wahrscheinlich, daß die frühere christliche Gemeine Lucklum hier sollte
begraben haben. Der Ortskirchhof befand sich vor 1800 im Orte selbst, ostwärts von der
»großen Scheune«, und hatte eine solche Größe; daß er die Gestorbenen sehr wohl fassen
konnte. Auf ihm befand sich unter der Benennung »Tempel« eine eigenthümliche Capelle,
deren sich viele alte Leute in hiesigem Orte noch sehr wohl erinnern ***). Es muß aber in
frühester Zeit sich auch ein Gottesacker in der Nähe der jetzigen .Kirche befunden haben, da
bei Anlage einer Ausfahrt an der Nordseite der Kirche eine Menge ordnungsmäßig begrabe-
ner Gebeine angetroffen wurde. Vielleicht liegt ein Theil dieses Gottesackers unter dem so-·
genannten »Mauergarten« und wurde seiner Bestimmung im Jahre 1316 entzogen, in wel-
chem Jahre der Bischof  A l b e r t  v o n  H a l b e r s t a d t  dem Orden erlaubte, »einen Theil des
Chores der Kirche in dem von den Einwohnern verlassenenen (weshalb?) Dorfe Lucklum ein-
zureißen und einen Theil des Kirchhofes zu benutzen ****). Nach diesen Angaben wird man
gewiß nicht annehmen können, daß noch eine dritte Begräbnißstelle in der , »großen und klei-
nen Mühlenbreite« in Gebrauch gewesen wäre. Am allerwenigsten aber wird man zugeben
wollen, das mitten durch einen Gottesacker hin ein Verbindungsweg zwischen zwei Ortschaf-
ten sollte gelegt sein. Dies wäre hier aber geschehen, da man, wie oben erwähnt, auch un-
ter der »Allee« Gebeine gefunden hat. Sodann muß noch darauf hingewiesen werden, daß
die Beschaffenheit der fraglichen Knochen durchaus auf ein und dasselbe
Begräbniß-Datum für alle deutet. Alle angeführten Momente weisen darauf hin,
daß die aufgefundenen Gebeine in sehr früher Zeit ihre Ruhe hier müssen gefunden haben.
————

*) Ein Ort, wohin das Gewitter geschlagen, hieß bei den Alten »Bidental« (Windal ?). Es war
locus fulmine tactus et expiatus ove; a bibentibus seu hostiis duos dentes altiores habenti-
bus. Solche Orte nahm man besonders gern für den Cultus in Anspruch. S. Dünnhaupt
in d angef. Werke. S. 123.
**) Rehtmeiers Chronik Tom. II. Pag. 1154.
***) Nachdem ich die Grundform der heutigen Kirche, welche vielfache Umbauten erfahren hat, ent-
deckt habe, bin ich im Zweifel, ob der »Tempel« oder jene den Platz andeutet, wo die ehema-
lige Gemeinekirche von Lucklum stand.
****) C. Bege, Geschichten. S. 129. Urkunde in einem Lucklumer Copialbuche.


325 Wanderung durch den Kalktuffbruch bei Lucklum.

Bedenkt man nun noch, daß die Bodenbeschaffenheit in den genannten Localitäten der Erhal-
tung der Knochensubstanz sehr günstig ist; so können wir mit unsern Vermuthungen üder die
Zeit, in welcher die fraglichen Gebeine dem Schoße der Erde mögen übergeben sein, unbedenk-
lich in die weiteste Ferne zurückgreifen.
    Es würde die Annahme nicht unstatthaft sein, daß jene Gebeine stumme Zeugen eines
blutigen Kampfes zwischen Katten und Cheruskern, oder den späteren Thüringern und einem
andern Volksstamme wären. Für diesen Fall hätte man aber gewiß neben den Gebeinen ir-
gendwo auch die von der siegenden Partei vergrabenen Waffen des überwundenen Feindes an-
getroffen. »Es war sonst der alten Deutschen Gewohnheit, die dem Feinde abgenommenen
Waffen in die Erde zu verscharren« *).
    Vielleicht könnte man auch annehmen, daß in der Gegend von Lucklum die Wahlstatt
wäre, wo im Jahre 938 ein Theil des Ungarheeres »zwischen die Besatzungen der Burgen
Hebesheim und Werla gerieth und niedergehauen wurde **). In dieser Beziehung ist es von
Bedeutung, daß auf Volzumer Feldmark, nahe am Lucklumer Gebiete, ein »Königskirchhof«
liegt, von dem die Sage berichtet, daß dort ein König in hartem Kampfe gefallen und sofort
begraben sei. Die Knechte, welche das Begräbniß besorgten, wurden sämmtlich enthauptet und
um die Königsleiche her in aufrechter Stellung begraben. Offenbar ein Stück aus der Etzelsage.
    Doch ich kann mich für obige Annahme nicht entscheiden. Mir scheint der Umstand
wichtig, daß die fraglichen Gebeine nur bis dahin sich finden, wo die Urnenspuren aufzutreten
beginnen. Sodann bringe ich auch das Umkehren und Verschütten der Urnen in einen sach-
lichen Zusammenhang mit den aufgefundenen Gebeinen. Ich will jetzt meine Gedanken hier-
über der Prüfung anheim geben.
    Geschichtlich sicher ist es, daß Karl der Große im Herbste des Jahres 784 mit einem
starken Kriegesheere am Elme stand. Schöningen namentlich wird als ein Quartier des
Kaisers genannt ***). Nun ist es doch mehr, als wahrscheinlich, daß ein Hauptsitz sassischen
Götzendienstes, was Lucklum damals gewiß war, den mit Feuer und Schwert missionirenden
Kaiser zu nachdrücklichem Kampfe herbeirief. Und eben so plausibel ist es, daß die Führer
der Sachsen an diesem Punkte ihre Hauptmacht dem andringenden Karl entgegensetzten.
Ohnehin bot die Gegend selbst für die damalige Kriegsführung den Sachsen große strategische
Vortheile. Da nun Karl als Sieger aus dem Zusammenstoße hervorging; so erscheint es
sehr natürlich, wenn er die Heiligthümer der Besiegten, soweit das nur zu erreichen stand,
durch sein Heer verwüsten ließ. Die gefallenen Franken begrub man in christlicher Weise
(heilige Linie) auf der oben bezeichneten Stellen. Vielleicht ließ Karl auch, nach seiner Weise,
in der Gegend von Lucklum die überwundenen Sachsen taufen ****). Und eben so wird es
seine Sorge gewesen sein, auf der Stelle heidnischen Götzengreuels eine christliche Capelle zu
————

*) Dünnhaupt in dem angef. Werke. S. 270.
**) Der Elm mit seiner Umgebung. Von Dr. W. J. L. Bode. Braunschweig, 1846, S. 11
***) Im Saxo kommt bei Gelegenheit der Schilderung von Karls Thaten die Stelle vor:
Jnde Thuringorum per agros iter egerat atque
Saxonum campos, quos Albia vel Sala tangunt
Amnes vicini, lustrans villas ibi plures
Tradiderat flammis, donec pervenit ad illum.
Qui veteri locus est Schaningi nomine dictus.
S. Dünnhaupt in d. angef. Werke. S. 289. Auch Br. Magazin von d.J. S. 352 in der Note.
****) Die klar und reichlich sprudelnde »Lutwelle« (vielleicht von luo = abwaschen) in·dem nahen
Erkerode bot eine schöne Taufstelle. Der »Heerberg« dicht vor Erkerode erinnert vielleicht eben-
falls an den erwähnten Kriegeszug Karls.


326 Verbreitung von Gellert‘s Oden und Liedern in der Schweiz.

errichten. Es steht urkundlich fest, daß in Lucklum schon in frühester Zeit eine Parochial-
kiche mit bedeutendem Kirchengute sich befunden hat.
    Ich schließe hier für dasmal mit dem Wunsche, daß meine Mittheilungen ein Geringes
zur Aufhellung der Geschichte eines interessanten Punctes im Vaterlande beitragen mögen.
Lucklum, im September 1860.
                                                           J. H. Ch. Schmidt.






Dr. G. Merkel 1820 zur Entstehung der Leibeigenheit

 

Die freien Letten und Esthen.

Eine Erinnerungsschrift zu dem am 6ten Januar 1820. in Riga gefeierten Freiheitfeste, von Dr. G. Merkel. Riga, 1820. bei C. J. G. Hartmann.

 

Vorrede.

Ein unumschränkter Monarch, blos von dem tiefem Gefühl für Recht und Gerechtigkeit und wahrer Menschenhuld geleitet, erhebt mit väterlicher Hand zwei Völker von dem Boden, in den sie eine lange, lange Vorzeit gleichsam hineingetreten hat; Er stellt sie, ermuthigt und veredelt durch eigenthümliche Rechte, selbst in die Reihe freigeborner Nationen,

 

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IV

 

und öffnet ihnen die Laufbahn zu Allem, was man als das Höchste und Schönste erkennt. – So seltne Wunder bedürfen wahrlich keiner Erinnerungsschrift!

 

Die merkwürdige Begebenheit wird durch edel-sinnvoll geordnete Feste begangen: doch auch die erhabenste Feier, wenn sie einem so großen Gegenstande gilt, wird von ihm selbst zu sehr in Schatten gestellt, um länger zu fesseln, als man sich durch ihre Gegenwart ergriffen und begeistert fühlt, und diese vermag keine Beschreibung zu erreichen. – Auch dem im Titel genannten Feste gilt diese Schrift nicht.

 

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V

 

Was soll sie denn? Die große Verhandlung, die in politischer Hinsicht durch jenes Fest vollendet wurde, gleichsam auch in literarischer abschliesen: eine summarische geschichtliche Uebersicht geben von dem Aeltern, und über das Neueste, Aktenstücke.

 

Der Verfasser glaubte sich vor Allen zu dieser Arbeit berufen, sogar verpflichtet. Kennte er einen Andern, der eine ältere Vertrautheit mit dem Gegenstandes besäße und reichere Quellen, als die ihm mit ehrenvoll auszeichnender Güte, in Rücksicht der neuesten Zeit geöffnet wurden, er wäre schweigend zurückgetreten. –

 

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VI

 

Aber mit fliegender Feder niedergeschrieben und mehr als zweihundert Meilen vom Wohnort des Verfassers gedruckt, wird diese Schrift wahrscheinlich selbst solche Fehler in Menge besitzen, die er ihr in andern Verhältnissen hätte ersparen können. Er bittet um Nachsicht dafür. –

 

 

 

Vorbericht.

Wenn, was einer langen, langen Vorzeit eine unerschütterliche Felsenmauer schien, plötzlich erbebte, schwankte und verschwände, wie ein Gewölk, das der frische Morgen wind vor sich her aufrollt: das erste Gefühl aller Augenzeugen wäre ohne Zweifel tiefes Erstaunen; aber die Denkenden unter

 

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VIII

 

ihnen würden bald zur Prüfung des Gesehenen und seiner Ursachen übergehen.

 

Unsere Tage haben ein wirkliches Ereignis, das jenem blos gedachten Wunder, der Erscheinung nach, sehr ähnlich ist. Die uralte Leibeigenheit des Bauernstandes in unsern Provinzen, vor sechs hundert Jahren gestiftet, von der Macht fesselloser Leidenschaften, die selbst die Rücksicht auf Gesetze nicht kannten, furchtbar ausgebildet; sogar von dem Willen großer und weiser Regenten in verschiedenen Zeitaltern vergeblich bestritten, – sahen wir durch wenige Maßregeln, die kein auf wahres Recht gegründetes Interesse verletzen, mildern, dann völlig vernichten.

 

 

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Diese große Begebenheit in allen ihren Theilen zu beleuchten, ist der Zweck gegenwärtiger Schrift. sie wird, wenn sie gelingt, mitwirken, das bloße Anstaunen zu jener gedankenvollen Bewunderung zu steigern, welche die einzig würdige Huldigung ist, wo etwas wahrhaft Erhabenes geschah.

 

Sie wird erzählen, wie die Leibeigenheit in Liv- Esth- und Kurland entstand, welche Gestaltung diese im Lauf der Zeiten annahm und was für mannigfache Versuche früher ohne Erfolg gemacht wurden, sie aufhören zu lassen. Sie wird den entscheidendern Gang schildern, welchen die große Angelegenheit unter Alexanders

 

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Regierung nahm; eine Reihe von Aktenstücken über ihre glorreiche Vollendung beifügen, und dann von einer Prüfung der Hauptzüge in der neuen Bauernverfassung Cur-, Liv- und Esthlands, den frohen Blick in die Zukunft werfen. – Glücklich der Geschichtschreiber, dessen Laufbahn zu einem solchen Ziele führt! Glücklicher derjenige, der sie auf eine ihrer würdige Weise zurückzulegen vermöchte! –

 

Seinen alten geprüften Ansichten der wahren Geschichtschreibung treu, und ihren eigenthümlichen, von jenen der Geschichtforschung durchaus verschiedenen Zwecken nach, hat der Verfasser in der folgenden Einleitung, wie in seinen frühern historischen Arbeiten,

 

 

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XI

 

es vermieden, durch häufige Citate den Leser zu stören und dem Hauptzweck der Erzählung Eintrag zu thun, Man hege deshalb kein Mißtrauen gegen die Thatsachen, die er aufstellt. In seinen jüngern Jahren hat er für die Geschichte Livlands nicht nur aus allgemein verbreiteten Quellen mit Sorgfalt geschöpft, sondern auch aus den weniger bekannten, welche die öffentlichen Bibliotheken zu Kopenhagen, Dresden und Weimar fast ausschließend darbieten; in diesem Augenblicke aber liegt eine Reihe wichtiger archivalischer Aktenstücke vor ihm. Es könnte also wohl seyn, daß er in der kurzen Skizze, mit welcher diese Schrift anfängt, mehr von dem,

 

 

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was man historische Gelehrsamkeit nennt versteckt habe, als manche andere sorgfältig zur Schau gelegt haben würden. Er wird indeß zufrieden seyn, wenn man ihm auf sein Wort glaubt, daß er nur nach treuer Prüfung erzählt, und gewiß ist, in keiner wichtigen Thatsache der ältern Geschichte geirrt zu haben. Welcher Autorität er bei der neuern und der neuesten folgt, fällt von selbst in die Augen.

 

 

 

Historische Einleitung.
Erstes Buch. Entstehung und Ausbildung der Leibeigenheit der Esthen und Letten, bis zur Auflösung des Ordensstaates, 1562.

 

In der Mitte des zwölften Jahrhunderts finden wir die große Länderreihe von der Narowa bis zum Ausfluß des Kurischen Haffs, von Völkerschaften des uralten Finnischen und des neuern, aber weit verbreiteten, und zahlreichern Witen-Stammes besetzt.

 

Zu den erstern gehörten die Esthen, Liven und Kuren. Die Esthen kannte Tacitus schon, wiewohl an der jetzigen Preußischen Küste; die Liven nennt Ptolemäus zuerst.

 

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Beide, so wie auch die Kuren und Litthauer, nennt Nestor unter den Völkern, die Rurik beriefen.

 

In dem frühern Mittelalter des skandinavischen Nordens spielen die Esthen eine glänzende Rolle. selbst der Herkules desselben, der hundertarmige (d. i. sehr mächtige) Störkoder, der herumzog, Bedrängte zu retten, und Riesen und Tyrannen zu stürzen, und einst, als Feldherr der Finnen und Schweden, die Dänen in einer großen schlacht besiegte, war ein Esthe, wie Saxo Grammaticus *) erzählt, der zugleich den Inhalt von Liedern anführt, in welchen der Held selbst seine Thaten besungen haben soll. Noch im zwölften Jahrhundert aber eroberten und verbrannten die Esthen das für jenes Zeitalter glänzende Sigtuna in Schweden, und waren gefürchtete Feinde der Handelsschiffe auf dem Baltischen Meere.

 

Ihr Hang zum kriegerischen Seeleben

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*) Saxo starb 1204, also ehe der Unterjochungskrieg der Deutschen gegen die Esthen angefangen war.

 

 

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scheint sie übrigens an die Küsten gefesselt zu haben. Das Innere der bezeichneten Länder ließen sie leer; nur längs dem Düna-Strom und dem meerähnlichen Peipussee hatten sie sich tiefer hinein angesiedelt, hier aber unterlagen die Seehelden den schon zu größern Volksmassen gesammelten ackerbauenden Russen, die ihnen Tribut abfoderten, und dort, wo jetzt Dorpat liegt, eine Festung angelegt, vielleicht nur eine eroberte Esthnische Burg erweitert und befestigt hatten.

 

Die Sitten der Esthen und ihrer Stammesbrüder, der Liven an der Küste des Rigischen Meerbusens, und der Kuren, waren, wie ihre Lebensgeschäfte, rauh und kriegerisch. Ihre Verfassung war republikanisch. sie sonderten sich in kleine Distrikte, in denen ein Aeltester (Wannem) mehr Richter und Heerführer, als Regent war, und aus denen sich zu nationalen Berathschlagungen alle Männer versammelten. Der Hauptplatz zu solchen war Rangola in der Nähe des jetzigen Reval.

 

 

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Ihre Religion scheint ein kühnes, phantasiereiches Gemisch Finnischer, Skandinavischer und eigenthümlicher Mythen gewesen zu seyn, ungeordnet, doch aber wohl nicht ohne einen Gottesdienst mit herkömmlichen Riten. In Esthland hatten sie ein vorzügliches National-Heiligthum, den Hayn des Torapita; und der Name Thoraida, den eine Gegend, im Gebiet der Liven führte, scheint anzudeuten, das dort sich etwas Aehnliches vorfand.

 

Südlich stieß das Gebiet dieser Völkerschaften an die weiten Länder der Witen, die, so viel ich weiß, Jornandes zuerst nennt (Vidioarier). Dort, wo Tacitus die Aestier, Esthen, sah, in Preußen, hatte Widewut – den der historische Pedantismus, der nur eine verbriefte Geschichte anerkennt, vergebens in das Reich der Fabel zu verweisen gesucht – diesen Stamm aus eben jenen Aestiern und aus Gothen und Slaven, die sich zu ihnen eingedrungen, gebildet, indem er ihnen eine gemeinschaftliche Verfassung und Religion gab,

 

 

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und den Ackerbau zum Lebensgeschäft machte. Unter der Obhut einer theokratischen Verfassung, und nur mit Beil und Spaten erobernd, hatte sich das neue Volk nicht nur über Preußen und Litthauen verbreitet; auch in das Innere der Länder, deren Küsten jene Finnischen Völkerschaften besetzt hatten, waren ihre Kolonien vorgedrungen. Hinter den Kuren wohnten die mächtigen Semgallen; hinter den Liven die Lettgallen, die Väter der jetzigen Livländischen Letten. Die Verfassung dieser vom Preußischen Hauptstamm weit vorgestreckten Zweige, scheint von der patriarchalisch- republikanischen der Liven und Esthen wenig verschieden gewesen zu seyn, doch sind Spuren da, daß auch zu ihnen die Waidelotten, die geistlichen Machtboten des Ober-Krihwe in Preußen, kamen, um zu waideln, das heißt, zu opfern, zu wahrsagen und zu schlichten, wenn sich ein Streit im Innern dieser Kolonien entsponnen hatte.

 

 

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Unterjochung der Liven.

Lange schon hatte der Deutsche und Wendische Seehandel durch den übrigen Theil der Ostsee seine Bahnen, vorzüglich nach Wisby, gezogen, als 1158 zum ersten Mal ein Bremisches Schiff in den Rigischen Meerbusen einlief und in der Mündung der Düna landete, also im Gebiet der Liven. Nach dem ersten kriegerischen Empfange knüpfte sich ein Handel an. Beide Theile müssen bedeutenden Vortheil bei demselben gefunden haben, da die Deutschen jährlich häufiger wiederkehrten, die Eingebornen ihnen aber bald erlaubten, sich Magazine zur Aufbewahrung ihrer mitgebrachten und eingehandelten Waaren zu bauen, und Aufseher bei denselben, die den Handel das ganze Jahr hindurch fortsetzen könnten, zurück zu lassen.

 

Wahrscheinlich mit Rücksicht auf die geistlichen Bedürfnisse dieser kleinen Deutschen Hansdels-Kolonie, kam etwa zwanzig Jahr später

 

 

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ein Holsteinischer Mönch aus dem Kloster Segeberg, Namens Meinhard, nach Livland. Sein freundliches Benehmen gewann die Liven, und er fing an, den Missionar zu machen. Um zu diesem Geschäfte eine gewisse, von dem guten Willen der Liven unabhängige Autorität zu haben, bat er den Russischen Fürsten zu Polozk, dessen Verhältnisse zu den Liven übrigens nicht klar sind, um Erlaubnis, oder vielmehr Schutz, zur Bekehrung der Eingebornen und zur Erbauung einer Kirche. Sein Gesuch wurde ihm leicht gewährt: die Russen waren selbst schon Christen, und ahneten die Unterthanen-Verhältnisse schwerlich, in welche die katholischen Neubekehrten zum Römischen Stuhle geriethen.

 

Die Liven selbst beredete Meinhard, sich von ihm zwei steinerne Schlösser bauen zu lassen, an denen aber die Deutschen, angeblich wohl zur Sicherung ihrer Waarenvorräthe, einigen Antheil haben sollten. Indeß er zum Bau eine große Zahl von Deutschen

 

 

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aus Wisby kommen ließ, sendete er an seinen Vorgesetzten, den Erzbischof zu Bremen, einen Bericht über das Gedeihen der christlichen Kirche in Livland. Hartwig belohnte ihn dadurch, daß er ihn zum Bischof der Liven ernannte, und so hatten diese, ohne es nur zu ahnen, in den Augen des christlichen Europa ihre nationale Freiheit verloren, und noch dazu an einen Oberherrn, für dessen Rechte die ganze katholische Christenheit verpflichtet werden konnte zu kämpfen.

 

Meinhard selbst kannte die gewonnenen Vortheile sehr wohl. Als Herr des Landes berief er eine Volksversammlung, und da die Liven darüber spotteten statt sich einzustellen, wollte er nach Deutschland reisen, um sich eine bewaffnete Macht zu holen. Man verhinderte ihn daran; aber heimlich schickte er einen von den geistlichen Gehülfen, die der Erzbischof ihm gesendet hatte, mit Gothländischen Schiffen ab. Dieser, Namens Dietrich, brachte bald den ganzen christlichen Norden

 

 

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in Bewegung, und ging dann nach Rom, auch vom Papst Hülfe zu erbitten. Wie schwedische Geschichtschreiber sagen, that schon 1197 der schwedische Feldherr Birger Jarl II., zur Unterstützung des Christenthums, einen verheerenden Einfall in Esthland; und, nach Dänischen Schriftstellern, gleich darauf auch Canut VI. In demselben Jahre starb Meinhard. Welche zeitliche Segnungen dieser erste Bischof zurück ließ, hat man gesehn. –

 

Zu seinem Nachfolger ernannte der Erzbischof einen Abt von Lockum, Namens Berthold. Dieser versuchte bei seiner Ankunft die Liven durch Gastmähler zu gewinnen; aber nach geendigtem Feste foderte er Abgaben von ihnen, als Oberherr. sie antworteten ihm, wie einst Meinhard, durch Spott; als sie auch Drohungen hinzufügten, hielt er es für gut, zu entfliehen. In Deutschland predigten er und der Erzbischof das Kreuz, und mit einer Schaar Bewaffneter kehrte er nach Livland zurück. Am 24. Jul. 1198

 

 

 


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kam es am Ufer der Düna, zwischen den Deutschen und den Liven, die Bertholds Ansprüche auf Herrschaft mit Selbstgefühl verwarfen, zur ersten Schlacht. Er selbst nahm so eifrig Theil am Gefecht, daß ihn sein wildes Pferd mitten in die Reihen der Feinde trug, und er von einem Liven, Namens Ymanta, erschlagen wurde: Die Deutschen siegten indes, verheerten das Land der Liven weit umher, und zwangen diese dadurch zu einem Vertrage, in welchem sie sich verpflichteten die Oberherrlichkeit eines Bischofs anzuerkennen, Geistliche in ihre einzelnen Distrikte aufzunehmen, und von jedem Pfluge eine Abgabe an Getreide zu erlegen. Dies war das Heil, das die Liven ihrem zweiten Bischof verdankten.

 

Zum dritten ernannte der Erzbischof von Bremen einen seiner Vettern, den Bremischen Domherrn, Albert von Apeldern, einen Mann von mächtigem, verderblichen Geiste. Die erste Maßregel desselben war,

 

 

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nach Gothland zu segeln, wo damals der nordische Weltmarkt war, dort das Kreuz wider die Heiden in Livland zu predigen, und 500 Streiter mit demselben zu bezeichnen. Dann reiste er an den päpstlichen und den kaiserlichen Hof, um die ganze Christenheit zu seiner Hülfe aufzubieten, und wirklich bezog er sein Bisthum an der Spitze eines Heeres und einer Flotte. Er lud die Häupter der Liven zu einem Gastmahl, nahm sie gefangen und zwang sie, sich durch Auslieferung von dreißig Knaben, als Geisseln, zu lösen, die er in Deutsche Klöster vertheilte, wo sie zu Mönchen erzogen wurden. Er bauete eine Stadt, Riga, im Lande der Liven, und steuerte sie unter andern Privilegien, auch mit dem aus, daß bei Strafe des Bannes und der Confiscation kein Schiff einen andern Landungsplatz in der Gegend besuchen dürfe. Er legte den Liven Zehnten auf, theilte das unterjochte Gebiet der Liven in Kirchspiele, und zwang jedes derselben einen Geistlichen zu ernähren.

 

 

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Er setzte Deutsche Vögte ein, welche in den einzelnen Distrikten Recht sprechen sollten, und raubte den Liven so die Gerichtsbarkeit in ihrem eignen Lande. Er

 

belehnte Kreuz-Pilger, die er in Livland zu seiner Unterstützung ansiedeln wollte, mit einzelnen Distrikten des Livischen Gebietes, und stiftete so die Leibeigenheit.

 

Er legte sich, durch einen religiös kriegerischen Orden, den der Schwertbrüder, ein stehendes Heer zu, und belehnte auch dieses mit einem Drittel alles Landes, das er schon besaß.

 

Nun war er stark genug auch die andern Völker dieses Landes anzugreifen, neue, ihm untergeordnete Bisthümer zu stiften u.s. w. Um seinen Einrichtungen vollgültige Kraft zu geben, bewirkte er, daß diese Länder für eine Provinz des Römischen Reiches erklärt; 1224 sogar, das er und sein Bruder Hermann,

 

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als Bischof von Dorpat, zu Reichsfürsten erhoben wurden.

 

Die Abgaben an Getreide allein, welche er den unterjochten Liven auflegte, betrugen nach wenigen Jahren schon 20 Proc. vom Ertrage ihrer Aecker. Sie mußten ihn bei allen seinen Kriegszügen mit ihrer ganzen wehrhaften Mannschaft begleiten, und wenn die andern Völker seine Streifzüge erwiderten, trafen die Verheerungen und Metzeleien immer nur die Liven, indes die Deutschen, durch ihre Schlösser, gegen jeden Ueberfall gesichert waren. Daher waren die Liven, als Albert 1229 starb, zwar noch nicht ganz ausgerottet, aber doch zu einer solchen Unbedeutendheit zusammen geschmolzen, daß sich ihre armen Ueberreste bald ohne Unterscheidung unter die andern Völkerschaften verloren.

 

Das war das Schicksal, das sie ihren dritten Bischofe verdankten.

 

 

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Unterjochung der Letten.

Bei einem Hülfszuge, den Wladimir von Polozk zur Rettung der Liven 1205 unternahm, foderte er auch die im Innern Livlands angesiedelten Lettgallen auf, ihn zu unterstützen. Sie lehnten es ab, weil die Deutschen sie noch nicht beleidigt hätten. Im folgenden Jahre kam der Priester Alobrand, der mit Vertheilung des Livischen Gebietes in Kirchspiele, beauftragt war, auch zu ihnen, und ladete sie ein, sich taufen zu lassen und ein Bündnis mit den Christen zu schließen. Sie nahmen um des letztern willen auch die erstere an, und foderten bald hernach ihre neuen Bundesgenossen zu einem Rachekrieg gegen die benachbarten Esthen auf, von denen die Letten bisher mancherlei Bedrängnisse ausgestanden hatten. Die Deutschen waren sehr bereitwillig dazu, und der furchtbarste Krieg in dieser Gegend, der mit den Esthen, begann.

 

 

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Als die Letten durch ihn geschwächt und unauflöslich an die Deutschen geknüpft waren, wies Bischof Albert ihr Gebiet dem Schwertorden als das ihm verhießene Landesdrittel an, und sie mußten sich sofort zu allen den Verhältnissen und Leistungen hinunter schmiegen, welche die Liven zu Boden drückten. Da ihre Unterwerfung wenigstens ohne Menschenverlust geschehen war, und der Krieg mit den Nachbarn doch nur von Zeit zu Zeit ihre Gränze betrat, entging dieser Volksstamm indes nicht nur der Ausrottung, sondern besetzte auch nach und nach, freiwillig oder auf Befehl ihrer Gewaltigen, die Gegenden, in welchen die Liven ausgestorben waren; und so wurde Livland allmählig ganz mit Letten bevölkert.

 

 

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Unterjochung der Esthen.

Die Esthen bildeten die stärkste und streitbarste Volksmasse dieser Länder; der Krieg mit ihnen, bei dem sie von den Oeselern und Kuren häufig unterstützt wurden, nahm daher oft eine für die Deutschen bedenkliche Wendung. In den ersten Jahren erwiderten sie jeden Einfall in ihr Land, mit einem gleichen in die Provinzen der Letten und Liven. 1212 erzwangen Hunger und Pest, die beide Theile drückten, einen dreijährigen Waffenstillstand. Die Deutschen erneuerten sodann zuerst wieder den Krieg, und da der Zug glücklich ausfiel, schritt Bischof Albert sofort auch wieder zur Theilung des Landes zwischen sich, dem Orden und einem schnell von ihm ernannten Bischof von Esthland. Die Esthen sammelten indeß bald hinlänglich Kraft, um alle drei aus ihrem Lande zu verjagen, und brachten es dahin, daß Albert an ihrer Unterwerfung durch seine Macht verzweifelte:

 

 

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das heißt, er suchte eine mehr vermögende, die sie für ihn vollenden sollte. Er forderte die Dänen auf, das Christenthum dorthin zu verpflanzen. Waldemar der Zweite kam 1217. mit einem mächtigen Heer, eroberte einen großen Theil Esthlands, baute Schlösser und Städte darin, und theilte an seine Vasallen Lehen aus. Das war es nicht, was Albert und der Orden beabsichtigt hatten. Auch sie rissen Theile des Landes an sich und geriethen mit den Dänen in den heftigsten Zwist. Die Esthen benutzten dies 1221. zu einem neuen kräftigen Versuch, das dreifache Joch abzuschütteln, und brachten es auch wirklich dahin, daß den Dänen bald nichts mehr übrig war, als Reval; aber die immer neu aus Deutschland verstärkte Macht des Bischofs und des Ordens war dem durch so langes Unheil geschwächten Volke zu groß. Nach mehrern für dasselbe unglücklichen Schlachten, belagerten, eroberten und zerstörten die Deutschen, die Russische Stadt Jurjew, das jetzige Dorpat,

 

 

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wohin die Esthen die letzten Reste ihrer Kraft und ihrer Wohlhabenheit gesammelt hatten. Albert weihte die Stadt sofort zum Sitz eines Bischofs, seines Bruders, dem er zugleich den dritten Theil des eroberten Landes anwies.

 

Die Eroberung von Dorpat macht Epoche in der Geschichte der Eingebornen. Wie die Esthen zur Vertheidigung, hatten die Liven und Letten ihre letzte Volkskraft zur Unterstützung des Angriffs erschöpft, und von dieser Zeit an wurden sie alle bei den öffentlichen Verhandlungen und bei der Benutzung des Landes, als völlig rechtlos behandelt.

 

Die Dänen gewannen dabei nichts. Im Gegentheil nahm der Orden ihnen 1227. auch Reval, und wenn das Gelingen seiner Pläne den Bischof Albert über den Karakter derselben noch in der Sterbestunde verblenden konnte, so mag er 1229. mit der Freude gestorben seyn, daß auch die Unterjochung der Esthen

 

 

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so gut als die Ueberlistung der Dänen, gelungen war.

 

Eben das aber, wodurch er die Letztern auf immer von Esthland ausschliesen wollte, führte sie bald wieder dorthin zurück. Er hatte auf die Verbindung seines Schwert-Ordens mit dem Deutschen Orden angetragen. Nach weitläuftigen Unterhandlungen, bei welchen die verrufene Bösartigkeit der Schwertritter eine vorzügliche Schwierigkeit machte, hatte jene Vereinigung 1237, also acht Jahr nach Alberts Tode, wirklich Statt, aber nur auf die Bedingung, daß Esthland, mit Ausschluß des Bisthums Dorpat und des Distrikts, in dem Pernau liegt, den Dänen wieder gegeben wurde. Waldemar nahm 1238. wieder Besitz und vollendete seine ehemals begonnenen Maßregeln, unter andern auch durch ein eignes Ritterrecht, das er seinen dortigen Lehnsleuten gab. Ueber hundert Jahr war Esthland eine der wohlhabendsten Dänischen Provinzen gewesen, da ließ eben jene hochbegünstigte

 

 

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Vasallenschaft, – wahrscheinlich durch ihre ungemessene Gewalt über die Bauern über ihre wahre Macht getäuscht, – sich es einfallen, sich von Dänemark trennen und eine unabhängige Republik bilden zu wollen. Die Esthen sahen richtiger, und kaum schien jene Lossagung entschieden, so erhoben sie sich 1343. einmüthig, zerstörten alle Rittersitze, erschlugen einen großen Theil der Besitzer, und belagerten Reval und Hapsal. Man wandte sich um Hülfe an den Livländischen Heermeister. Er zog mit einem furchtbaren Heere heran. Die Esthen schickten ihm Abgeordnete entgegen, durch welche sie sich erboten, sich dem Orden zu unterwerfen, und ihm jährlich einen großen Tribut zu erlegen, wenn sie nur keine fremden Güterbesitzer mehr unter sich dulden dürften. Der Heermeister ließ sich bereden, den Antrag zurück zu weisen, und unter den Mauern von Reval kam es zu einer blutigen Schlacht, in welcher das ganze Esthnische Heer, 9000 Mann stark, niedergemetzeltwurde.

 

 

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Die Unruhen, die in den einzelnen Distrikten, vorzüglich in Oesel, noch fortdauerten, wurden dann mit geringerer Mühe, aber eben so blutig, unterdrückt. Esthland unterwarf sich dem Orden, der aber die Verfassung der Ritterschaft und der Städte bestätigte, die Ueberreste der Esthnischen Nation dagegen der vorigen Willkühr des Adels überließ.

 

 

 

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Unterjochung der Kuren.

Sobald der Krieg mit den Esthen angefangen worden, hatten sich die Kuren, zur Unterstützung ihrer Stammesgenossen, hinein gemischt, waren oft mit Kahnflotten in die Düna und den Aa-Flus gelaufen, und hatten verheerende Einfälle bis vor Riga gemacht. Als das Schicksal der Esthen sich daher seiner traurigen Entscheidung näherte, waren sie der Rache der Deutschen bloßgegeben. Sie wehrten sich indes so tapfer, daß selbst bei Alberts Tode ihre Unterwerfung noch nicht entschieden war, und jetzt schien ihr Geschick eine freundlichere Wendung zu nehmen.

 

Nach dem Absterben Alberts hatte das Domkapitel ihm einen Nachfolger gewählt, der Erzbischof von Bremen aber einen andern ernannt. Um den Streit zu entscheiden, schickte der Papst einen Prälaten nach Riga, Namens Balduin (Bischof?) von Alna. Nach geschehenem Ausspruch, zum Besten des vom Kapitel Ernannten

 

 

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übernahm Balduin auch die Friedensunterhandlung mit den Kuren, und wußte diese durch menschenfreundliches Benehmen zu einem Vertrage zu bereden, durch den sie sich zwar unterwarfen, aber mit Vorbehaltung ihrer persönlichen Freiheit und ihrer Eigenthumsrechte. Um die Erfüllung des Vertrages von seiten der Deutschen zu sichern, schloß Balduin den Orden von allem Besitz in Kurland aus, und theilte die Oberherrlichkeit zwischen dem neuen Bischof von Kurland, der von ihm eingesetzt wurde, dem Bischofe von Riga und dem Rathe dieser Stadt. Der Orden klagte bei dem Papste; aber Balduin rechtfertigte sich durch die Karakteristik des Ordens: der Papst bestätigte seine Anordnung und den Bischof Engelbert, den er für Kurland ernannt hatte.

 

Die Habgier Engelberts selbst aber zerrüttete jene Anordnung. Er bedrückte die Kuren so sehr, daß sie 1244. ihn nebst allen Deutschen im Lande erschlugen. Eine neue

 

 

 

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Entscheidung Wilhelms von Modena trat nun dem Orden die beiden Drittel ab, welche Balduin Riga und dem Rigischen Bischofe gegeben hatte, mit der Bedingung, das Bisthum Kurland oder Pilten zu schützen. Wieder begann der Austilgungskrieg, in welchem die Kuren von den Litthauern und Semgallen vergebens unterstützt wurden, und endigte erst 1284. durch die völlige Unterjochung der Kuren, wobei ihnen indeß immer noch manches von den Punkten des ersten Vertrages übrig blieb, selbst die bis auf die neuern Zeiten fortdauernde persönliche Freiheit einiger Familien, die von ihren Landsleuten Könige genannt wurden.

 

 

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Unterjochung der Semgallen.

An der Spitze des Lettischen Volkes, welches den südlichen, sich weit nach Osten hin ausdehnenden Theil des jetzigen Kurlandes besaß, - der Semgallen, stand in jenen Zeiten ein Mann von ausgezeichnetem Karakter und Geist. Ein Livländischer Annalist nennt ihn Westhard. Sein Gang veredelt diesen Namen, der übrigens wohl nicht richtig seyn kann.

 

Schon als Meinhard den Liven steinerne Schlösser baute, sahe Westhard dies als gefährlich für die Freiheit seines Volkes an, und machte einen Versuch, sie zu zerstören. Er mißlang und Westhard, der die Ueberlegenheit der Deutschen kennen gelernt, schloß einen Frieden und einen Handelsvertrag, wie es scheint, mit ihnen. Als aber Bischof Albert die Schiffahrt nach allen andern Landungsplätzen, als Riga, verbot, also kein Schiff mehr in den semgallischen Fluß, die Musse, einlaufen durfte, brach Westhard mit

 

 

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seinem Volke auf, um eine Aenderung zu erzwingen. Er fand die Deutschen schon viel mächtiger als ehemals aber an der Spitze seines nicht überwundenen Heeres schloß er einen zweiten Frieden, und selbst ein Bündnis gegen die Litthauer, die ihm ihre Hülfe versagt hatten. Er beredete die Deutschen sogar zu mehrern Kriegszügen gegen die Litthauer, und begleitete sie mit einem abgesonderten Heere: aber die Deutschen machten die Erfahrung, daß sie von jedem solchen Zuge mit großem Verlust, die Semgallen aber ganz wohlbehalten zurückkehrten, und entsagten dem Kriegsbunde. Ueber den Frieden und dessen Bedingungen dagegen scheinen beide Theile mit jener eifersüchtigen Aufmerksamkeit gewacht zu haben, die einem geachteten Feinde gegenüber natürlich ist.

 

Erst im Jahr 1217. als Albert die Dänen gegen die Esthen aufgehetzt, dachte er daran, die Muße des Ordenheeres gegen die Semgallen anzuwenden. Er fing damit an,

 

 

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sich zu schaffen, was die Kirche damals gerechte Ansprüche zu nennen pflegte. Er ernannte einen alten Grafen von der Lippe, der nach Livland gezogen war, seine Jugendsünden abzubüßen, zum Bischofe von Semgallen, wo er keinen Fußbreit Landes besaß und es noch keine Christen gab. Das hielt ihn aber nicht ab, die Hauptburg des Landes, Mesothen, zum künftigen Sitz des Bischofs zu bestimmen, und seine Stadt, Riga, mit einem großen Theil von Semgallen zu beschenken. Bis Mesothen erobert werden könnte, wies er dem neuen Bischofe die den Litthauern abgenommene Festung Selburg zum Sitze an. Bald darauf machte er, mitten im Frieden, einen Versuch, sich der Burg Mesothen durch List und Gewalt zu bemächtigen: aber Westhard schlug das dazu abgeschickte Ordensheer, und nun begann ein Krieg, der mit so wechselndem Glücke geführt wurde, daß der Legat Wilhelm von Modena, der 1225. nach Riga kam, um Zwistigkeiten zwischen dem Bischof

 

 

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und dem Orden beizulegen, auch einen Frieden mit Westhard zu vermitteln suchte. Er ließ den alten Helden zu einer persönlichen Unterhandlung einladen; aber auch in dem Vertrage, der dadurch zu Stande kam, verstand dieser sich zu nichts weiter, als Missionarien in Semgallen zu dulden, und Mesosthen abzutreten, das die Deutschen schon erobert hatten.

 

Als Balduin von Alna die Kuren zur Unterwerfung beredet hatte, ernannte ihn der Papst zum Bischofe von Semgallen, und wenn er dort keine Christen fand, gewann er wenigstens die Freundschaft der Semgallen. seine Maßregeln, auch hier den gewaltthätigen Orden von allem Besitz auszuschließen, zogen ihm eine neue Anklage zu. Er rechtfertigte sich wie das erste Mal: aber zwei Schutzbriefe vom Papst und vom Kaiser für die Eingebornen, so wie eine neue Sendung des Legaten Wilhelms nach Livland, die seine Schilderungen bewirkt zu haben scheinen, sind die

 

 

 

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letzten spuren, die der Verfasser in der Geschichte von ihm aufzufinden vermochte. –

 

Als nach dem großen Aufstande der Kuren. Wilhelm von Modena 1247. zu Lyon mit Zuziehung zweier Kardinäle, ihr Land von neuem theilte, hob er das Bisthum in Semegallen auf, und warf die Provinz mit in die Theilungsmasse, von welcher der Orden zwei Drittel erhielt. Auch diesem furchtbaren Gegner widerstanden die Landsleute des Helden Westhard, bis 1272. Fast 120 Jahr nachdem die Deutschen Livland zuerst betreten hatten, gelang es also den Rittern, dies thatkräftige, freiheitliebende Volk dahin zu beugen, daß es sich durch die Taufe Frohndienste aufbürden lies, – nicht aber Leibeigenheit, wie der folgende, aus dem Plattdeutschen ins Hochdeutsche übersetzte, im Original vorhandene Traktat beweist.

 

Wir, Albrecht von Gottes Barmherzigkeit, Erzbischof der heiligen Kirche zu Riga,

 

 

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Johann von derselben Gnade ein Propst derselben Kirche, Bruder Walter von Stortike (Nordeck), Meister der Brüder des deutschen Hauses der heiligen Maria über Livland, entbieten allen denen, die diesen Brief sehen oder lesen hören, Heil in demjenigen, welcher Allen hilft, die auf ihn hoffen.

 

Nachdem das Land Semgallen durch Gottes Gnade den Irrthum des heidnischen Glaubens verlassen und wiederum den christlichen Glauben empfangen hat, den es vormals angenommen, aber wieder verlassen hatte, und Wir, die wir Oberherren waren, die Aeltesten des Landes vor Uns gefordert, und auf beiden Seiten viel Unterhandlungen über ihren Zins und ihr Recht zwischen ihnen und uns gehabt hatten; gefiel ihnen zuletzt mit gemeinschaftlichem Rathe und Einwilligung, ihren Zins und ihr Recht also zu mäßigen, daß sie anstatt des Zehenden als pflichtmäßige Gewohnheit, und zum geistlichen Behuf auf ewige Zeiten von jedem Haaken zwei Loof rigisch Maas zu geben

 

 

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schuldig seyn sollen, nämlich einen an Roggen und einen an Gerste.

 

Ferner sollen sie Frohndienste thun, zwei Tage im Sommer und zwei Tage in dem Winter; jedoch also, daß sie in diesen vier Tagen von jedem Haaken eine Fuhre stellen sollen, und zu führen was wir bedürfen; und alle und jede andre Personen, die so alt sind, daß sie arbeiten können, sollen Uns mit ihrer Handarbeit dienen, als Heu zu schlagen, oder Holz zu tragen und zu hauen, wenn es nöthig ist.

 

Auch ist ihnen erlaubt, vorbenanntes Korn, wenn sie Mangel haben sollten, mit billiger Bezahlung zu ersetzen, nämlich für jeden Loof zwei Artiger rigisch Silber zu bezahlen, oder zwei Marder oder acht Grauwerkfelle und man soll ihnen mit nichten eine größere Bezahlung abdringen. Ueberdem sollen sie sich zum Bau der Schlösser, die Wege zu machen und zu Reisen bereit und willig finden lassen.

 

 

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Und die Vögte sollen dreimal des Jahres ihr Gericht halten, und sie sollen nach dem Rechte und der Gewohnheit in Lettland und Esthland richten, die Parten fordern und das Recht pflegen.

 

Zu größerer Bekanntmachung und ewiger Aufrechthaltung haben Wir ihnen gegenwärtige Schrift mit unsern Insiegeln gegeben, und überdieses sie mit dem Bilde (Siegel) der Stadt Riga befestiget.

 

Gegeben in dem Jahre unsers Herrn tausend, zweihundert, zwei und siebenzig, in der Woche der Apostel Peter und Paul.

 

(Aus der Kurländischen Urkundensammlung)

 

 

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Gestaltung der Leibeigenheit.

Die vorstehende historische Skizze war nothwendig, um den Gegenstand dieser Schrift seiner ganzen Natur nach, und vorzüglich von der Seite des Völker-Rechtes, übersehen zu lassen.

 

Auch die nordischen Völker, welche das römische Reich zerstörten, hatten in mehrern Provinzen desselben Leibeigenheit gestiftet, aber ihr Sieg war der der heidnischen Rohheit über Kultur und Christenthum, und schlug nur diejenige Volksklasse in härtere Fesseln, die er schon in milderer Dienstbarkeit fand. Auch die Bekenner des Korans verbreiteten ihren Glauben mit dem Schwert: aber wer ihn annahm, wurde dadurch ihr freier Genosse für alle Rechte auf der Erde, wie aller Hoffnungen für das Paradies. Albert der Bischof hingegen mißbrauchte die heilige Religion der allgemeinen Bruderliebe, zum Vorwande und zur Form, die höhere Kultur

 

 

 

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seiner Nation aber zum Mittel, über fünf freie Völker in Masse das Loos der härtesten Leibeigenheit zu verhängen. Denn eine nackte Proklamation der Leibeigenheit waren die Belehnungen, die er gleich nach der Begründung Riga's einzelnen Kreuzpilgern, und ein Paar Jahre später dem Schwertorden zu ertheilen wagte, – sowohl nach der damaligen Form der Lehnsverfassung in Deutschland, als durch die Pflichten, die er seinen Vasallen auflegte, und die Rechte, die er ihnen dem zufolge über die Eingebornen einräumte.

 

Befugnis dazu hatte er, selbst nach dem damaligen rohen Staatsrechte Deutschlands, nicht. Erst mehr als zwei Jahrzehnte später, 1224 ertheilte ihm der Römische König Heinrich VII. zu Nürnberg die Fürstenwürde, und nur mit dieser war die Gewalt verbunden, Lehen zu ertheilen.

 

Eben so wenig autorisirte ihn der Auftrag oder nur die Beistimmung des Oberhauptes der Römischen Kirche oder des Römischen Rechts dazu.

 

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Zwar erhielt er öfter von beiden die Bestätigung seiner Einrichtungen, aber zwei kostbare Documente beweisen, daß dabei ausdrücklich vorausgesetzt wurde, die persönliche Freiheit und die Eigenthumsrechte der Eingebornen würden durch diese Einrichtungen nicht gekränkt. Papst Gregor IX, sagt in der Instruction, die er dem Legaten Wilhelm von Modena zu seiner zweiten Sendung nach Livland im Jahr 1238 ertheilte:

 

"Aus deinem Berichte sehe ich, daß die Heiden (in Livland) vor ihrer Taufe frei vom Joche der Knechtschaft gewesen, das aber die Hospitaliter-Ritter und andere Religiosen sowohl als Weltliche Geistliche und Layen, die Getauften, in Knechtschaft zu bringen suchen und ihnen ihre Habe rauben. Damit es ihnen aber als Christen nicht schlimmer ergehe als damals, da sie Heiden waren, befehle ich dir, nicht zu leiden, daß die Neubekehrten belästigt werden, und die es thun, mit Kirchenstrafen zu belegen. Sollten sie widerstreben,

 

 

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so werde ich sie nicht nur aller ihrer Privilegien berauben, sondern ihnen auch befehlen, ganz Livland zu räumen *)."

 

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*) Ich glaube, die ganze Urkunde mittheilen zu müssen.

 

"Lit. Pontif. Gregorii IX. ad Guilelm. Mutin. Liv. Legatum.

 

Exparte tua fuit propositum coram nobis, quod, licet pagani, quos lux illa, quae illuminat omnem hominem venientem in hunc mundum, vocat de tenebris ad admirabile lumen suum, ut relicto gentilitatis errore fidem Domini nostri Jesu Christi recipiant per Baptismum, nullo ante Baptismum iugo servitutis aliquatenus premerentur, Fratres tamen Hospitalis sanctae Mariae Theutonicorum, et nonmulli alii tam religiosi, quam saeculares, Ecclesiastici et Laici, non adtendentes quod Christi fideles effecti iam non sunt ancillae filii, sed liberae, utpote quos renatos ex aqua, et Spiritu Sancto ipse Unigenitus Dei Filius liberavit a jugo peccati, quos vetusta servitus detinebat. cos sub servitute. redigere moliuntur, nec permitiunt ipsos possidere libere bona sua. Ne igitur deterioris conditionis existant Christi charactere iusigniti, quam fuerant membra diaboli existentes, mandanus, quatemus hujusmodi in Neophytos non permitas ab aliquibus super praemissis aliquatenus molestari, molestatores hujus modi per censuram Ecclesiasticam appellatione postposita compesceudo, indulgentia, seu privilegio aliquo non obstante. Quodsi forsan aliqui praedictorum Unigenito Dei Filio fuerint sic ingrati, ut se in hoc opponere dampnabili temeritrate praesumant, non solum eos privahimus privilegiis, et indulgentiis, si quae in partibus ipsis haberent, verum etiam ipsos de tota Liveaia compellemus exire. Datum Laterani VIII. Idus Martii Anno undecimo. (1238.)"

 

 

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Noch kräftiger drückte Kaiser Friedrich II. sich in einem Schutzbriefe für die Unterdrückten aus, den er ungefähr zu gleicher Zeit mit jener päpstlichen Instruction erlies, und die Goldast, und nach ihm H. L. Schurzfleisch, im Anhange zu seiner Historia Ensiferorum, aufbehielten. Er sagt:

 

"Wir haben erfahren, daß die Bewohner Livlands, Esthlands, Preußens, Semgaliens und anderer benachbarten Provinzen, von dem Uebertritt zum Christenthum durch die Furcht zurückgeschreckt werden, nach der Annahme des Glaubens könnte ihre Freiheit von den Herren des Landes in Sklaverei verwandelt werden. Diesem zuvorzukommen, nehmen Wir alle und jede, die sich von ihnen zum christlichen Glauben bekennen, mit ihrem ganzen Vermögen unter unsern und unsers Reiches Schutz und besondre Vertheidigung, und

 

 

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ertheilen und bestätigen durch die Autorität dieses Schreibens, ihnen und ihren Erben auf immer vollkommene Freiheit und alle Rechte, deren sie genossen haben, ehe sie zum Glauben bekehrt wurden. Wir entnehmen sie ferner aller Dienstpflicht und aller Gerichtsunterthänigkeit gegen Könige Herzoge und Fürsten, Grafen und andre Magnaten, und setzen durch gegenwärtiges Edikt fest, daß sie nur der heiligen Mutter Kirche und dem Römischen Reiche unterworfen seyn sollen, wie andre Freie des Reiches. Niemand wage, gegen diese Erklärung des Schutzes, der Vertheidigung, der Verleihung und Bestätigung, sie anzugreifen, zu belästigen, zu beleidigen, oder ihre Ruhe zu stören. Wer sich dessen unterfängt, wisse, daß er unsern und des Reiches schweren Zorn auf sich ziehe *).“ u. s. f.

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*) Die Ueberschrift dieser sehr merkwürdigen Urkunde heißt bei Schurzfleisch: Friderici II. Imperatoris Augusti Constitutio de libertate Li vonis, finitimisque gentibus

 

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Spätere Schriftsteller haben die Stiftung und Ausbildung der Leibeigenschaft in diesen Provinzen mit dem Geist jener Zeit entschuldigen wollen,

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ad Catho1icae fidei unitatem conversis — Folgendes sind der Anfang und die oben angeführten Hauptstellen:

 

Fridericus Dei gratia Romanorum Imperator semper Augustus, et Rex Siciliae, Regibus, Ducibus, Principibus, Marchionibus, et universis Christi fidelibus etc. — — — — — — — Ad nostram nuper ex veridica fidelium insinuatione noticiam pervenit, quod quaedam gentes in Septentrionalibus partibus constitutae, videlicet in Livonia, Escovia, Prucia, Semigalia et in aliis provinciis convicinis — — — — — — ad veri Dei cultum, et Catholicae fidei unitatem accedere sunt parati : ob illius tantum (sicut dicitur) id facere differentes timorem, ne post susceptionem fidei per Principes Orbis libertates eorum ad servitutis onera deducantur. — — — —— — — Et ecce, quod universos et singulos eorum , ad susceptionem Catholicae fidei venientes, post susceptam fidem cum omnibus bonis eorum, sub nostra et Imperii protectione et speciali defensione suscepimus, et praesentis scripti auctoritave plenam eis et haeredibus eorum,intuitu susceptae fidei, comcedimus et confirmamus perpetuo libertatem, nec non omnes immunitates, quibus uti consueverunt, priusquam converterentur ad fidem. Eximimus insuper, eos etiam a servitute et jurisdictione Regum, Ducum et Principum, Comitum et ceterorum Magnatum, praesenti sancientes edicto, ut non nisi sacrosanctae matris Ecclesiae ac Romano Imperio, quemadmodum alii liberi homines imperii, teneautur. Nullusque eos contra praesentis protectionis, defensionis, concessionis et confirmationis nostrae paginam impetere, molestare, offendere, vel eorum quietem turbare praesumat. Quod qui praesumpserit, indignationem nostram et Imperii se noverit graviter incursurum etc. etc.

 

 

 

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aber eben das ist das Empörendeste in Alberts Verfahren, daß es dem bessern Geiste seiner Zeit so schauderhaft widersprach. Der Hauptzug der Europäischen Staatengeschichte, schon während des ganzen zwölften Jahrhunderts, ist das Bestreben fast aller Regierungen der Lateinischen und Germanischen Länder, das Joch der Lehnsverfassung dem Volke abzunehmen, und die untern Stände durch Freisprechungen und Rechte der mannichfachsten Art zu erheben und zu veredeln, und so die Staaten mächtiger, die Regenten von ihren Vasallen unabhängiger zu machen. Man erinnere sich unter tausend Zügen nur, daß in diesem Zeitraum die meisten Deutschen Reichsstädte ihre Freiheit erhielten, daß wenn in England die Charta libertatum, 1101 unterzeichnet wurde,

 

 

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in Deutschland selbst sogar die Fischer zu Worms in eine bevorrechtete Zunft verbunden, und 1112 den Leibeigenen zu Speier das Recht ertheit wurde, freie Bürger zu werden. Und aus eben diesem Lande zog Albert, fast hundert Jahr später, hin, fünf Völker, die er frei und glücklich fand, durch alle List, deren sein verschmitzter Geist fähig war, durch Gewaltthätigkeiten und Metzeleien, in das tiefste Elend der Leibeigenheit hinabzustürzen. *).

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*) Eben so wenig als Albert, kann der Geist ihrer Zeit denjenigen zur Entschuldigung dienen, welche in den folgenden Jahrhunderten das ausbildeten und mißbrauchten, was er gestiftet hatte. Jeder Annalist oder andre Schriftsteller jener Jahrhunderte, der in oder über Livland in jenem Zeitraum schrieb, und der Lage der Eingebornen erwähnt, bricht in fast unwillkürlich scheinende Ausrufungen über die Barbarei aus, mit der sie behandelt würden: ein unwidersprechlicher Beweis, daß diese Behandlung nicht im Geist der Zeit war, sondern ihn empörte. "Unsre Hunde, ruft Cranz aus, haben es besser als jene armen Menschen." Russow macht wehmüthige Schilderungen von ihrer Recht - und Hülflosigkeit; ja der Dörptsche Geistliche Kelch, wenn er in seiner Chronik die schauderhaften Grausamkeiten beschreibt, mit welchen die gefangenen Livländischen Ordensritter und Edelleute in Moskau 1560 hingerichtet wurden, setzt hinzu: "so mußten sie aus göttlichem Verhängnis büßen, was sie und ihre Vorfahren an den armen Livländischen Bauern verschuldet hatten." – Aber im achtzehnten Jahrhunderte war es wieder ein Mann desselben Standes, Baron Schulz von Ascheroden, der den ersten praktischen Schritt that, jene Verschuldungen aufhören zu lassen; und jetzt dürfen wir sie als abgethan betrachten.

 

 

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Selbst die ärmliche Entschuldigung bleibt für ihn nicht übrig, daß er nicht vorausgesehen, wohin seine Belehnungen führen mußten: er selbst zeichnete in der Weise, wie er die ersten derselben in Kraft setzte, durch empörende Gewaltthätigkeit den Charakter vor, den diese Veranstaltung annehmen mußte. Kunz von Meindorp zog 1204 mit einem Haufen Bewaffneter nach Ykeskole, seinem Lehn. Die Liven, die das Schloß gerade besetzt hatten, ließen ihn friedlich ein: er rief die Aeltesten der Gegend zusammen, und kündigte ihnen an, Albert nahe sich mit seinem Heere, um sich mit ihnen väterlich zu berathen. Vom Schrecken darüber ergriffen, nahmen sie die Flucht. Der Bischof ließ, mitten im Frieden, ihr Getreide in seine Magazine bringen, verbrannte ihre Dörfer und verfolgte sie nach

 

 

 

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Leenwoerden, wo er die Burg überrumpelte und sie seinem zweiten Vasallen übergab, die Gegend behandelte, wie die von Ykeskole, und die Flüchtigen nach Ascheroden verfolgte, das er erstürmen und verbrennen ließ. – Hier endlich erklärte er den Ueberfallenen, Geplünderten, Mißhandelten, was die Absicht seines Räuberzuges sei, nämlich, sie sollten außer dem Zehnten, den sie ihm schon von ihrem Getreide zollten, eine ähnliche Abgabe seinen beiden Vasallen bezahlen, und diesen, als ihren Herren, gehorchen. – Ein andermal, da er eine Vergrößerung seiner Stadt beschlossen, zog er eines Morgens in geistlicher Procession aus, in ein anstoßendes Livisches Dorf, weihete die Stelle desselben ein und befahl den Eigenthümern, ihre Häuser abzubrechen und sonst wohin zu bauen. "Er wies ihnen andre Ländereien an," sagt eine von einem Mönch geschriebene Chronik, um den Glauben zu erwecken, er habe sie entschädigt. Hatte er denn hier Land anzuweisen, das nicht den

 

 

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Liven gehörte? Und was entschädigte sie für die Mühseligkeiten und die Einbußen des neuen Anbaues? –

 

Unrettbar durch irgend eine Kunstwendung der Sophistik oder historischer Dialektik, steht Albert der Bischof in der Geschichte da, als Urheber, als vorsätzlicher, sich des Charakters seiner That bewuster Urheber der Leibeigenheit in unsern Provinzen, und alles dessen, was durch sie geschah. Die Nachwelt zolle seinem Andenken, was er verdient hat!

 

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Es ist weder ein dankbares, noch ein anziehendes Geschäft, aus der Asche der Vorwelt Beweise aufzulesen, die wider sie zeugen; aber um nur einigermaßen begreiflich zu machen, wie das, was Albert gepflanzt hatte, sich so vollständig ausbilden, das werden konnte, was uns die unten folgende Uebersicht aufstellen wird, ist es nothwendig, auch den

 

 

 

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Orden zu charakterisiren, der sich bald von den Bischöfen unabhängig machte, und sie endlich unterdrückte. Es soll indeß nur durch ein Paar historische Züge geschehen, bei denen ich die Betrachtungen und Schlußfolgen, zu denen sie führen, den Lesern überlasse.

 

Als der Schwertorden dringend um die Vereinigung mit dem Deutschen Orden nach suchte, entschloß sich der Hochmeister des letztern endlich, zween seiner Ritter nach Livland zu senden, um die Lage der Dinge dort kennen zu lernen. Sie kehrten nach einem Jahre zurück, und statteten zu Marpurg in vollem Kapitel und in Gegenwart zweier Schwertbrüder selbst, den Bericht ab: "Die Besitzungen der Schwertritter seyen ansehnlich und wohlgelegen, ihre Schlösser in gutem Stande, sie selbst aber so lasterhafte, schwelgerische halsstarrige Menschen, daß von ihnen nichts Gutes zu erwarten sei." Zur Ehre seines moralischen Gefühls, war das Kapitel nun der Meinung, daß alle Unterhandlungen mit solchen Leuten abgebrochen werden müßten.

 

 

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Der Hochmeister war indeß mehr Politiker, und die Vereinigung geschah. (Am 4. May 1237 zu Rom, im Gemache des Papstes.)

 

Der ganze spätere Gang der Geschichte beweist, daß die Eingebornen bei dieser Veränderung nicht gewannen, vor allen aber schreiend ist folgender Zug.

 

Als die Kuren nach ihrem großen Aufstande 1244 sich zuerst wieder hatten unterwerfen müssen, war eine Bedingung des Vertrages, daß ihre streitbare Mannschaft das Ordensheer auf seinen Kriegszügen begleiten sollte. Während eines solchen, im Jahre 1264, wahrscheinlich nach Semgalen, war ein Litthauisch-Preußisches Heer in Kurland eingefallen, und hatte das flache Land völlig ausgeplündert. Bei Durben begegnete ihm das rückkehrende Ordensheer. Indes sich beide Theile zur Schlacht rüsteten, flehten die Kuren den Heermeister, Burchard von Hornhusen an,

 

 

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er möge ihnen nach erfochtenem Siege, ihre von den Litthauern gefangenen Weiber und Kinder wieder geben: Er antwortete: "Es solle mit ihnen nach Kriegsgebrauch verfahren werden," das heißt, sie sollten als Beute vertheilt werden. - – Die Kuren erwarteten von den Feinden mehr Menschlichkeit, und gingen mitten in der Schlacht zu ihnen über. Der Heermeister selbst und 150 Ordensritter büsten ihre raubsüchtige Hartherzigkeit mit dem Leben.

 

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Auch der tyrannischesten Habsucht fehlt wenigstens die Vermessenheit, Buch über ihre Verbrechen zu führen, und ihr zu folgen ist unmöglich, wo sie auf tausend Punkten zugleich fortschreitet, ohne andres Gesetz, als die Willkühr des Augenblicks. so kann es denn keine Geschichte geben, welche die Ausbildung der Leibeigenheit erzählt *).

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*) Ohne Namen des Verfassers, des Verlegers und des Verlagsortes, erschien im Jahr 1786 eine "Geschichte der Sklaverei und Charakter der Bauern in Liv- und Esthland." sie macht ihrem Verfasser, der längst bekannt ist, in vielfacher Rücksicht Ehre, aber sie leistet nicht, was der Titel verheißt, weil das nicht geleistet werden konnte. Daß sie hier zu Rathe gezogen ist, versteht sich von selbst.

 

 

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Nur ihre Elemente lassen sich anführen, und die Hauptzüge ihrer Vollendung.

 

Alberts Belehnungen konnten keinen andern Sinn haben, als daß die Vasallen verpflichtet seyn sollten, die Eingebornen in Unterwürfigkeit gegen den Bischof zu erhalten, und von ihnen zu erheben, wessen er und seine Kirche bedurften; – dafür aber auch berechtigt, von eben diesen Eingebornen gleiche Unterwürfigkeit gegen sich selbst, und die Befriedigung auch ihrer Bedürfnisse zu erzwingen. Aber dieser Bischof strebte mit immer wachsenden Ansprüchen zum Fürstenhut und zur Unabhängigkeit empor, und erlangte beides: seine Bedürfnisse mußten sich jährlich vergrößern. Um ihn her sproßte ein ganzer kirchlicher Staatshaushalt auf, von Domherren, Klöstern, Weltgeistlichen; von Aebten,

 

 

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und, wie sich die Grenzen der Unterjochung erweiterten, auch von mehrern Bischöfen, die zum Theil mit ihm wetteiferten. Viel schwerer aber als die neue Last, die daraus auf die Eingebornen, die das Ganze erhalten mußten, herabsank, wog der Umstand, daß seine Vasallenschaft schnell zu einem stehenden Heer anschwoll, und zwar zu einem Heer von Rittern, deren bald auch gefürsteter Feldherr gleichfalls eine glänzende Hofhaltung hielt, und seinem Stellvertreter in Livland und den Gebietigern unter diesem, dasselbe in jedem Maß verstattete, das sie zu erreichen vermochten; – indeß die weltlichen Vasallen in Ansehen und Aufwand nicht hinter den ritterlichen zurückstehen wollten. Allem diesem gegenüber ohne Schutz, so bald ihnen ihr eignes Schwert aus der Hand geschlagen war, standen die neubekehrten Völker. So kannten denn die Erpressungen, denen sie preis gegeben waren, bald keine Grenzen, als die, jenseit welcher die Verzweiflung zu fürchten war;

 

 

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und nur zu oft überschritt der Trotz auf Uebermacht auch diese. –

 

Der Beschaffenheit des Gegenstandes nach, von dem ich eine Uebersicht zu geben habe, sondert diese sich in die Anführung der Abgaben, dann der persönlichen Leistungen, welche die Leibeigenen während der Dauer des Ritterstaates zu tragen hatten; – endlich in die Schilderung der staatsbürgerlichen Geltung, die ihnen dabei bleiben konnte. Hätte ich von einem Volke zu sprechen, bei dem Freiheit der Person geherrscht, so müßte die Ordnung der Materien gerade umgekehrt seyn: aber die gesetzlose Leibeigenheit geht in jedem Punkt wider die Natur.

 

Die erste Abgabe, welche schon gleich nach dem Tode des Bischofs Barthold den überwundenen Liven auferlegt wurde, war ein halbes Talent Getreide vom Pfluge, das heißt, von jedem arbeitsfähigen Mann. Albert verwandelte diese Abgabe in den Zehnten, und als er seine Vasallen einsetzte, fügte er zum Besten derselben

 

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jenes halbe Talent wieder hinzu. Ein sehr einsichtsvoller Schriftsteller berechnet, was die Liven jetzt schon bezahlten, auf zwanzig Procent ihrer Ernte; man braucht sich aber nur zu erinnern, daß der Zehnte von der ganzen Ernte genommen wurde, der wahre Ertrag eines Ackers aber in dem Gewinne nach Abzug der Saat und der Arbeit besteht, um zu sehen, daß jener Anschlag viel zu gering ist. Daran liegt hier aber sehr wenig, da die Forderungen an die Eingebornen bald jede Form verloren. Der Gedanke stand fest, sie müßten ihre Herren und den ganzen Staat erhalten: jedes neue Bedürfnis, das man fühlte, galt daher auch für ein Recht zu einer neuen Forderung, bis die allgemeine Behauptung, die selbst in neuern Zeiten einer ausdrücklichen Verneinung durchs Gesetz bedurft hat, ausgesprochen wurde: "die Bauern haben gar kein Eigenthum. Alles was sie besitzen, gehört eigentlich ihrem Herrn." Nachdem dieser also

 

 

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die üblichen hohen Abgaben im Herbst von ihnen erhoben hatte, schickte er ihnen noch sein Schlachtvieh zur Mast zu; ließ, wenn er etwa einen unvermutheten Besuch erhielt, sich das fetteste Stück ihrer Heerde abholen; fuhr im Winter zu ihnen herum, um sich traktiren und beschenken zu lassen; setzte sie nach Willkühr ganz aus dem Besitz ihrer Häuser, ihrer Aecker und Habseligkeiten; verbot ihnen, ihre gewonnenen Producte in die Städte zum Verkauf zu bringen, und nahm sie ihnen zu beliebigem Preise ab; zog auch wohl nach ihrem Tode ihre ganze Verlassenschaft an sich, und überließ es dem Zufall, ob ihre Kinder genug erbettelten, um zu erwachsen, und dann die Last zu tragen, welche das Loos ihrer Aeltern gewesen war.

 

Die ersten persönlichen Leistungen, zu welchen sich die Neubekehrten verstehen mußten, bestanden darin, daß sie ihre heiligen Besieger als Hülfsstreiter zu fernern Eroberungen begleiten mußten. Von andern sprechen

 

 

 

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die frühesten Nachrichten selten, aber wohl nur deshalb, weil sich das Uebrige von selbst verstand. Schlösser, Kirchen, Städte und Klöster erhoben sich in allen Gegenden, und das war doch wohl nur durch die ungemessenen Frohnleistungen der Eingebornen möglich. Auf ihre Kriegsdienste that man später hin Verzicht; und da man wiederholte Erfahrungen darüber gemacht hatte, wie gefährlich die Verzweiflung eines bewaffneten Volks ist, verbot man ihnen sogar, Gewehre irgend einer Art zu besitzen. Ihre Herren waren indeß selbst Landwirthe geworden, und bald galt nun auch in Rücksicht der persönlichen Leistungen der Grundsatz, der Bauer müsse so viel geben, als der Herr nöthig habe. Auch dies hat sich bis auf neuere Zeiten erhalten, da nämlich der Bauer nach dem Werth seines Grundstücks sogenannte ordentliche Arbeiten, außerdem aber so viele außerordentliche thun mußte, als der Gutsbesitzer gerade brauchte. Die Eingebornen bearbeiteten die Aecker,

 

 

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die er für die seinigen erklärte, verführten oder verbrauten vom Getreide derselben, so viel er für gut fand, baueten seine Häuser, hüteten seine Heerden und schickten ihm so viele ihrer Söhne und Töchter zu, als er zum Dienst und Wohlleben in seinem Hofe zu halten für gut fand.

 

Die staatsbürgerliche Geltung endlich der Eingebornen mußte sich, gleichsam nach einem Naturgesetze, in immer engere Schranken zusammenziehn, wie sich die Leistungen weiter ausdehnten, und als diese keine Grenzen mehr kannten, völlig verschwinden. (Wirklich trat eine Zeit ein, in welcher man den Bauern nur noch das Recht der Nothwehr allenfalls zugestand, das heißt, ihr Leben gegen vorsätzlichen Mord zu vertheidigen.)

 

Es sind Spuren vorhanden, daß Albert der Bischof im Anfange seiner Herrschaft die Neubekehrten mit dem Anschein getäuscht habe, als erkenne er in ihnen Mitherren ihres eignen Landes an; daß er mit ihnen dem Scheine

 

 

 

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nach über die Kriegszüge zu Rathe gegangen, die er wollte unternehmen lassen, und daß er ihnen die Hoffnung gegeben habe, auch sie sollten einen Theil der Provinzen beherrschen, die sie gemeinschaftlich erobern würden. Selbst gegen das Ausland gab er sich gelegentlich den Anschein, als wenn er sie nicht als unbedingt Unterworfene betrachte, sondern als Bundesgenossen. Als der König von Dänemark, bald nach dem Anfange der Zwistigkeiten über den Dänisch-Esthnischen Krieg, einst die Lübeker hart bedrohte, wenn sie den Bischof mit den neuen Kriegspilgern, die er jährlich in Deutschland anwarb, nach Livland hinüber führen würden, segelte Albert nach Dänemark, und trat dem Könige ganz Esthland ab, "insofern die Liven und Letten darein willigen würden." Es versteht sich, daß sie, wohl auf seinen Befehl, ihre Zustimmung verweigern mußten, ungeachtet vorher der eroberte Theil von Esthland zwischen den Bischöfen und Rittern getheilt worden war,

 

 

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ohne daß der Liven und Letten auch nur Erwähnung geschehen.

 

Seit der Eroberung von Dorpat (1224) war, wie schon oben erwähnt, von keinen Volksrechten der Eingebornen weiter die Rede, die persönlichen dauerten aber länger, ja, in der theoretischen Anerkennung, die darin liegt, das sie bei vorkommenden Anlässen amtlich erwähnt wurden, hörten sie nie auf; aber im täglichen, praktischen Leben kamen sie bald außer Gebrauch. Hatte der Eingeborne Rechte des Eigenthums und gültige Formen sie zu seinem Schutze anzuwenden, so unterwarf er sich nicht ungemessenen Forderungen: die Gerichtsbarkeit ging also an die Herren über, allmälig so ganz, daß jeder über Leben und Tod richten konnte bei Vergehungen, die in seinem Gebiete vorfielen. Er bewahrte sogar den vollesten Schein des streng beobachteten Rechtes dabei, wenn er die alte Form beobachtete, Mitrichter zu wählen. Ferner: behielten die Eingehornen das Recht über ihre Person,

 

 

 

 

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sich einen Aufenthalt zu wählen, so mußte man eine Entvölkerung hart behandelter Distrikte, vielleicht eine allgemeine Auswanderung nach Finnland von Seiten der Esthen, nach Litthauen aus Liv- und Kurland, befürchten: sie wurden daher als verpflichtet angesehen, ihren Wohnort nicht zu verlassen, das heißt, sie wurden glebae adscripti, und ausgeliefert, wenn sie entflohen. Da auch dies Verhältnis nicht durch Gesetze in bestimmte Schranken beschlossen wurde, mußte nun wohl von selbst der folgende Schritt geschehn, daß sie als bloße Sklaven betrachtet wurden. Man denke sich nun den Fall, daß der Besitzer eines menschenleeren Distrikts dem eines volkreichern das Ansinnen machte, ihm seinen Ueberfluß abzutreten; oder das ein Aermerer unter seinen Bauern einen talentvollen, wenigstens in irgend einer bestimmten Arbeit vorzüglich geschickten Menschen besaß, und ein Reicherer diesen zu erhalten wünschte: wurden sie Handels einig,

 

 

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so war kein Gesetz vorhanden, das ihn zu vollstrecken hinderte. Wirklich finden wir, daß die Eingebornen im Fortschritt der Zeit bloße Waaren, und zwar so sehr nur Sache wurden, daß man es fast nicht rügte, wenn ein Ritter oder anderer Gutsbesitzer einen seiner Bauern tödtete. Als der Rath zu Reval einst einen solchen Mörder hinrichten ließ, zwang der darüber erbitterte Adel die Stadt, das Thor, unter dem es geschehen, vermauern zu lassen. - Nur die Nothwehr, wie schon oben erwähnt, wurde nicht als ganz sträflich betrachtet.

 

Ein auch als Geschichtsforscher sehr hochachtungswerther Schriftsteller der neuesten Zeit *), hat aus Chroniken und Urkunden eine an sich große, für den umfaßten Zeitraum vor 1200 bis 1630 jedoch kleine, Zahl von Stellen gesammelt, in welchen von Rechten der Eingebornen gesprochen wird; aber es ist ihm nicht gelungen, den Namen einer

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*) Sonntag, in den Jahresverhandlungen der kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst. Bd. 1.

 

 

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Autorität aufzufinden, deren Geschäft es gewesen, über die Beachtung dieser Rechte zu wachen, oder ein Beispiel, daß eine Verletzung derselben geahndet worden. Wenigstens hat er keine solche Stelle angeführt. So möchten jene sehr vereinzelt dastehenden Aeußerungen doch nicht mehr beweisen, als daß das Gefühl des Rechts nie bei allen Zwangsherren völlig erstorben war, und daß es zuweilen bei den Versammlungen derselben laut genug aufschrie, um Gehör zu erzwingen, wenigstens für die Zeit der Versammlung. Die Menschen sind immer viel gutartiger als der Mensch; (aus derselben psychologischen Ursache, warum der Einzelne in der Regel energischer und talentvoller ist, als eine Versammlung.)

 

Mit Flammenzügen, die bis zur Verletzung des Sehenden hell beleuchten, gibt dagegen das berühmte achtzehnte Blatt der Chronik, welche der Revalsche Prediger Rüssow 1577 und zum zweiten Mal 1583 (in Quart) drucken lies,

 

 

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eine Schilderung, die zwar nur kurz ist, aber mehr für die wirkliche Gestaltung der Verhältnisse beweist, als alle Archive für diejenige, die bestehen sollte.

 

Er fängt damit an, die Zusammensetzung des Landgerichts in Esthland zu erzählen, von dessen Aussprüchen keine Appellation Statt fand, aber als wenn er sogleich der Ansicht vorbeugen wolle, dieses Gericht habe einige Ordnung im Lande bewirkt, setzt er hinzu:

 

"Die vom Adel, in Gesammtheit und einzeln, hatten Macht und Gewalt, das jeder in seinem Hause und seinen Gütern einem Todtschläger gegen jedermann, auch gegen seine eigne Obrigkeit, Sicherheit zusagen und gewähren konnte. Dazu hatte jeder vom Adel in seinem Hofe ein eignes Hofgericht an Hals und Vermögen zu richten, und wenn ein Missethäter auf dem Gute eines Edelmanns ergriffen worden, ist derselbe nicht der Obrigkeit, sondern dem Edelmann, in dessen Markung

 

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und Grenzen er ergriffen, überantwortet worden." Nachdem Rüssow die Bildung eines solchen Gerichts aus eingeladenen Freunden und einigen Bauerältesten beschrieben, zerstört er wieder durch die Schilderung der Ausbildung, jede bessere Erwartung, welche die Form, ich meine die Theilnahme der Bauern an dem Gerichte, erwecken könnte.

 

"So herrlich, sagt er, die Edelleute in Livland privilegirt waren, so elend waren die armen Bauern in diesem Lande mit Gericht und Gerechtigkeit versehen und versorgt. Denn ein armer Bauer hatte nicht mehr Recht, als sein Edelmann oder Vogt nur selbst wollte; und der arme Mann durfte sich bei keiner Landes-Obrigkeit über irgend eine Gewaltthätigkeit oder ein Unrecht beklagen. starb ein Bauer mit seinem Weibe und ließ Kinder nach, so wurden diese so bevormundet, daß der Herr die ganze nachgelassene Habe der Eltern an sich nahm, die Kinder aber

 

 

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mußten nackt und bloß an den Feuerstätten (in den Bauernhütten) des Edelmanns herum liegen, oder in den Städten betteln, und auf ihr väterliches Vermögen verzichten. Alles was ein armer Bauer besaß, war nicht sein, sondern Eigenthum der Herrschaft. Beging er ein kleines Vergehen, so wurde er wider alle Barmherzigkeit und menschliches Gefühl, von seinem Junker oder Landvogt nackt emporgespreizt, und ohne Schonung für sein Alter, mit langen scharfen Ruthen gestäupt. – – Auch fanden sich Manche unter dem Adel, die ihre armen Bauern und Unterthanen gegen Hunde und Windspiele verkauften und vertauschten. Solchen und dergleichen Uebermuth, Unbill und Tyrannendruck hat die arme Bauerschaft, ohne irgendeine Einmischung der Obrigkeit hier im Lande, von dem Adel und den Landvögten leiden und dulden müssen."

 

Mit eng beklemmter Brust wirft wohl jeder Besserfühlende von einer solchen Gestaltung

 

 

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ängstlich die Blicke umher, um irgend eine mildernde, wenigstens wider das Aeußerste schützende Gewalt zu entdecken. Die Geschichte weist keine nach; wenn sie nicht etwa aus dem folgenden Umstande hervorgeht, den Rüssow als einen Beweis der von den Deutschen vernachlässigten Rohheit der Eingebornen anführt. Er sagt: "Wurde ein Bauer erschlagen und entleibt, so brauchten seine nächsten Verwandten ihr eignes Recht, und machten den Mörder nieder, wo sie ihn fanden, ohne Urtheil und Henker, und ohne Rücksicht, daß er vielleicht eine Nothwehr gethan. Und wenn der eigentliche Mörder nicht ergriffen wurde, mußte oft sein nächster Verwandter, ja sein Kind in der Wiege für ihn büßen." Hier also war die furchtbare Schranke: Blutrache hieß sie. – Zwar sagt Rüssow nur, daß die Bauern sie unter sich übten; aber es gibt Beweise, daß sie im gerechten Schmerz nicht auf Stand und Nation sahen, und

 

 

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wenn sie zu schwach waren, sie selbst zu üben, sie von den Gesetzen der nächsten Stadt forderten, dem Mörder dort, "das Geleit beschlugen."

 

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Historische Einleitung. Zweites Buch. Versuche zur Milderung der Leibeigenheit unter monarchischen Regierungen bis zum Jahre 1804.

 

Die Eingebornen von der Narowa bis an die Memel waren zu Heloten herabgewürdigt; aber ihre Bedrücker verloren bald die entfernteste Aehnlichkeit mit den Spartanern. So bald der Kampf mit den Eingebornen entschieden war, versanken sie in die üppigste Schwelgerei, die nur durch die Rohheit ihrer Genüsse weniger entnervend wurde, und, uneingedenk daß ihr Staat doch immer nichts als eine schwache Kolonie in einem Küstenlande sey, die sich nur durch Einigkeit und beständige

 

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Unterstützung aus dem Mutterlande erhalten konnte, strebten sie, sich von diesem ganz unabhängig zu machen, und suchten einander selbst zu unterjochen. Das Erste mußte ihnen bei ihrer Entfernung von Deutschland leicht gelingen, besonders da dieses selbst, als Staat, an so großer Unförmlichkeit und Spaltung litt, und keine deutsche Regierung ein wahres Staatsinteresse dabei hatte, daß diese Länder den Reichsgesetzen gehorchten. Die Reformation zerknickte in Deutschland die letzte Feder, welche dort ins Spiel gesetzt werden konnte, um den katholischen Halbpriesterstaat in Esth- Lief- und Kurland zu unterstützen, und da sie diese Provinzen selbst erreichte, gebar sie täglich neue Zwistigkeiten und trieb sie über alle Möglichkeit der Versöhnung hinaus.

 

Vier verschiedne Massen, in ihrem Innern selbst mannigfach gespalten, sehen wir zu jener Zeit in diesen Ländern einander immer mit Eifersucht bewachen, nicht selten bekriegen:

 

 

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und doch gründete sich ihre ganze Macht darauf, das die fünfte, die bedeutendste von allen, in stumpfer Unterthänigkeit fröhnte. Fünf Bischöfe und zwei Aebte kämpften durch Intriguen, zuweilen auch durch Waffen mit dem Orden um den Vorrang; die nichtgeistlichen Vasallen beider Theile forderten wenigstens im Bezirk ihrer Güter und im Innern ihrer Schlösser unabhängig zu seyn, und wandten sich deshalb bald dieser Partei zu, bald jener; die Städte endlich, meistentheils von hanseatisch-republikanischer Verfassung, erkannten in dem Orden und den Bischöfen nur beschränkte Schutzherren, die sie nicht selten mit dem Schwert in ihre Gränzen zurückwiesen *).

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*) Einen interessanten, und in mancher Rücksicht selbst wichtigen Blick auf die Verhältnisse dieser Massen, gibt folgendes:

 

Memorial an den Fürsten Radzivil 1562.

"Demnach Ew. Durchlaucht über die Verfahrungsweise bei unsern Landtagen einen Bericht verlangen: als ist es seither also gehalten worden."

"Wenn die Auctoritäten und die Stände der Provinz sich versammelt hatten, so wurde ihnen

 

 

 

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Indes diese Spaltungen in den Küstenprovinzen sich zur Unheilbarkeit erweiterten,

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öffentlich durch den Kanzler des Herrmeisters gedankt, daß ein jeder, dem Willen seines Fürsten gemäß, sich zu dem Landtage unbeschwert eingefunden. Die Landes-Auctoritäten ersähen daraus den schuldigen Gehorsam und die Treue gegen die Obrigkeit, und wie man das Wohl des Vaterlandes allem Uebrigen vorziehe."

 

"Hierauf wurden die Puncte vorgelegt, über welche in der Versammlung berathschlagt werden sollte, von welchen sodann jeder Stand sein besonderes Exemplar erhielt. Nach reifer Erwägung und Erörterung derselben, wurde an einem bestimmten Tage eine Generalversammlung gehalten, und was nach Gebrauch und zum Nutzen des Staates zu thun sey, durch Stimmen-Sammlung festgesetzt."

 

"Bei der Berathung und Abstimmung wurde diese Ordnung beobachtet, daß der Erzbischof, nebst den Bischöfen von Dorpat, Oesel, Kurland und Reval, nebst den Aebten von Falkenau und Padis, den einen Stand ausmachten und gemeinschaftlich berathschlagten. Nach ihnen folgten der Herrmeister mit den Gebietigern und Rittern des Ordens, welche den zweiten Stand bildeten, und über ihre Stimme gleichfalls sich vereinigten. Die dritte Stelle hatte der Adel des gesammten Livlands, mit welchen die Rathe der Fürsten, als Eingeborne und Pfleglinge der Provinz, sich vereinigten, welche nun auch wie der unter sich die Stimmen sammelten, und so ihre Meinung abgaben. Den letzten Platz hatten die Städe Riga, Dorpat, Reval, Pernau, Wenden, Wolmar, Narva , Fellin uud Kokenhusen, mit denen zusammen auch die Schloßhauptleute stimmten." (Von hieran folgen Rathschläge, was bei dem Landtage 1562 zu beobachten seyn möchte. – Das Lateinische Original befindet sich in einem Convolute gleichzeitiger Concepte und Copien im Rigischen Rath-Archiv, bezeichnet: Caps. Aul. Polon. N. 34. (P. IV. N. 5.) Acta Conv. gener. ord. Liv. Rig.)

 

 

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waren in dem Binnenlande hinter ihnen ganz entgegengesetzte Veränderungen vorgegangen. Ansehn und Religion des Krihwe waren zwar der Macht und der Kirche des Papstes erlegen, und die Gränzstämme der Witen in Preussen, Kur- und Livland der Eroberungssucht der Deutschen, aber die Hauptmasse der Nation, in Litthauen, durch Heere von Flüchtlingen aus jenen Provinzen verstärkt, hatte sich zu einem mächtigen monarchischen Staate ausgebildet, dessen Regent sogar einst vom Papste selbst eine

Königskrone erhielt, und dessen ganze Macht sich wahrscheinlich bald vernichtend auf das zerstoßene Rohr an der Küste geworfen hätte, wenn nicht Anfangs die Feindseligkeiten, dann die Verbindung mit Polen, diesem damals immer zerrütteten Staat, seine Thätigkeit nach jener Seite gehindert hätte.

 

 

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Noch sehr viel wichtiger für den ganzen Norden wurden die Umgestaltungen, die in Rusland eingetreten waren. Das Tatarische Joch war zerbrochen, die vielen kleinen Fürstenthümer zu Einem furchtbaren Reiche zusammengefaßt, die großen Interessen der Selbstständigkeit mit den Nachbarn durchgefochten, manche der Letztern sogar unterworfen. – Auch Staaten haben ihren Naturtrieb, der sie, selbst ohne Verfeinerung der Politik, erkennen läßt, wessen sie zum Fortdauern und Fortschreiten bedürfen. Den Russen befahl der ihrige, nach dem Besitz der Küsten ihres weiten Vaterlandes zu streben, um der Segnungen des offenen Handels zu genießen, und den gebührenden Rang unter den Nationen einzunehmen. Daher die Jahrhunderte lang sortgesetzten Angriffe auf Ingermannland, Esthand und Livland, die immer erneuert wurden, so oft Rußland im Innern Ruhe, und einen energischen, einsichtsvollen Monarchen an seiner Spitze hatte.

 

 

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Nicht die Einzelnheiten derselben, nur ihre Resultate sind dem Gegenstande dieser Schrift wichtig. Das erste war, daß Reval und das nördlichste Esthland, da sie entschieden sahen, daß der Orden sie nicht beschützen könne, sich 1561. unter die Hoheit Schwedens begaben, dessen Monarch, Erich, die alten Dänischen Privilegien der Städte und des Adels bestätigte. Hierdurch über seine wahre Lage vollends aufgeklärt, und mißtrauisch gemacht gegen seine Nebenregenten untergab der Herrmeister, Gotthard Kettler, 1562. Livland und das übrige Esthland, der Herrschaft Polens und wurde dafür mit Kurland, als einen Herzogthume, mit Semgallen als einer Grafschaft, unter Polnischer Hoheit belehnt, und zugleich mit der für ihn und seine Nachkommen immerwährenden Statthalterschaft in Liv- und Esthland. Diese letzte Würde hätte für die Fortdauer der Ueberreste des alten Staates, deren Privilegien auch der König von Polen bestätigte, sehr

 

 

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wichtig werden können, aber die Eifersucht der durch die Säkularisirung des Ordens in Livland entstandenen weltlichen Ritterschaft beraubte sie dieses Vortheils. Sie beschwerte sich nach wenigen Jahren, daß der neue Herzog die Lehen und Aemter in Livl- und Esthland nur an seine Vasallen und Freunde vertheile, und baten um einen Polnischen Statthalter. Man weiß nicht, und es ist nicht wahrscheinlich, daß sich Herzog Gotthard diesem Ansuchen lebhaft widersetzte. Es wurde denn auch um so bereitwilliger erfüllt, da es die Plane begünstigte, auf welche die Polnisch Litthauische Regierung durch ihre ursprünglichen Verhältnisse zu diesen Provinzen geleitet werden mußte.

 

 

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Maßregeln Stephan Bathory's gegen die Leibeigenheit in Livland.

 

Wenn nehmlich die Deutschen, aus langer Gewohnheit der Herrschaft, und durch, die Unbeschränktheit ihrer Gewalt über die Eingebornen berauscht, sich gleichsam für natürliche Herren dieser Länder ansehen mochten, und ihre Anerkennung der Polnischen Hoheit als einen freiwillig eingeräumten Vorzug, der ihnen durch Sicherung in dem Besitz ihrer bisherigen Vortheile, und durch Gleichstellung mit den vornehmsten ihrer neuen Mitbürger, nicht zu hoch bezahlt würde, erschienen sie und ihre Aufnahme in den Polnischen Reichskörper, den Polen, und vorzüglich den Litthauischen Magnaten, ganz anders. Diese erinnerten sich sehr gut, daß die Leibeigenen dieser Länder ihre Stammesbrüder seyen, und waren noch zu sehr der Kämpfe um die Freiheit derselben eingedenk, als daß sie in den Deutschen aller Stände etwas anders erblickt hätten,

 

 

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als gewaltthätige Fremdlinge, deren verderbliche Macht nun gebrochen sey, und die man vertreiben müsse. Auch dem Blick der Polnischen Regierung konnte es nicht entgehen, das sicherste, wenn nicht das einzige Mittel, diese werthvollen Provinzen ganz und zuverlässig ihrem Reiche einzuverleiben, sey, die Fremden, was ihnen die Deutschen waren, zu entkräften, und dagegen ihre eignen Stammesverwandte, die Eingebornen, wieder zu erheben.

 

Diese Ansichten und Plane sprachen sich schon unter den schwachen Regierungen von Sigismund August und Heinrich von Valois auf mannigfache Weise aus, indem man jeden Anlaß ergriff, ehemalige Domänen der Bischöfe und Herrmeister, die in den letzten Zeiten verlehnt worden, zurückzunehmen; indem man selbst Schlösser, welche jederzeit, Privatpersonen gehört hatten, wenn sie den Russen abgenommen wurden, nicht ihren alten Eigenthümern wiedergab; sondern im Namen

 

 

 

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der Regierung besetzt hielt; endlich auch indem man, so viel sich's thun ließ, die Befehlshaberstellen mit Polen besetzte. Als der Held Bathory zum Könige erwählt war, und mehr Energie in die öffentlichen Maßregeln brachte, traten auch jene Absichten deutlicher hervor.

 

Im Jahr 1582. am 12ten März kam er nach Riga, wo er den Bürgern die Jakobskirche entriß und sie den Jesuiten einräumte; einen Polen als einen Burggrafen zur obersten Policeiverwaltung einsetzte, dem Rath das Recht nahm, über adelige Verbrecher Urtheile zu fällen; am Ausfluß der Düna eine Festung zu bauen befahl, die nöthigenfalls den Handel hemmen und aus Deutschland kommende Hülfe zurückweisen konnte; übrigens aber die Privilegien der Stadt bestätigte. Jetzt bat auch der Landadel um die Bestätigung seiner Vorrechte und Untersuchung seiner Beschwerden. König Stephan verwies ihn mit beiden Gesuchen an den Reichstag;

 

 

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dagegen aber lies er eine Anzahl Bauern vor sich fordern, und ihnen ankündigen: "Ihr elender Zustand schmerze ihn. Er sey entschlossen, sie aus ihrer Sklaverei zu befreien, und als erste Bürgschaft dafür, wolle er verbieten, sie künftig bei etwanigen Vergehungen zu geisseln: sie sollten nur mit Geldstrafen oder Gefängnis belegt werden können *). Der Gedanke dieser Aenderung war ganz im Geist des obenerwähnten Planes. seine Ausführung hätte mit Einem Zuge den Eingebornen wieder Standesrechte ertheilt und zugleich den wichtigsten Punkt der Adelsprivilegien vernichtet, denn es verstand sich wohl von selbst, daß man diejenigen, die man nicht mehr geisseln durfte, noch weniger zum Tod verurtheilen konnte, und waren die Bauern erst der Furcht vor dem Richtschwerte und der Staupe entnommen, so ließ sich erwarten,

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*) Man hat den Vorgang bezweifelt, weil keine Akten darüber zu finden sind. Es war ja aber nur eine mündliche Aeußerung bei einer Audienz.

 

 

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daß sie auch in Rücksicht andrer Punkte, die Hülfe selbst suchen würden, die man ihnen zu leisten nur den Anlaß wünschte. Sie waren indeß allzusehr gebeugt, um den Muth zu haben, die dargebotene Gnade anzunehmen. Man versichert wenigstens, sie hätten den König angefleht, sie mit dieser Neuerung zu verschonen. –

 

In demselben Jahre machte der Polnische Gesandte zu Stockholm, Warschewitz, dem Könige Johann den Antrag, sich mit Stephan zur völligen Vertreibung der Deutschen aus Esth- und Livland, zu verbinden, – sagt Kelch; aber Johann wies den Antrag zurück, und machte ihn bekannt.

 

Auf dem Reichstage, an den der Livländische Adel verwiesen worden, wurden seine Deputirte mit unverkennbarer Geringschätzung behandelt. Ihre Gesuche wurden auf den nächsten in Livland selbst zu haltenden Provinzialtag verschoben, und die einzige Bestästigung ihrer Privilegien, die sie erhalten konnten,

 

 

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war ein Schreiben, worin der König erklärte, er wolle die Belehnungen bis zum letzten Erzbischof, Marggraf Wilhelm, und die Bestätigungen des Königs Sigismund August, für gültig erkennen. Der letzte Erzbischof und die letzten Herrmeister waren nämlich, willig oder gezwungen, sehr freigebig an Belehnungen mit Gütern gewesen, da sie den Untergang des Staates so nahe vor sich sahen; die Rücknahme dieser Belehnungen mußte den Deutschen Adel schwächen, und Gelegenheit geben, ihn mit Polen und Litthauern zu vermischen. Einigen Livländischen Edelleuten, die dem Könige große Dienste geleistet zu haben behaupteten, wurden auf ihre Forderungen zwar Güter in ihrem Vaterlande geschenkt, als sie sie aber in Besitz nehmen wollten, zeigte es sich, daß sie zum Theil wüste Landflecken waren, zum Theil schon Andern gehörten, welche der Polnische Statthalter selbst in ihrem Besitz schützte.

 

In dem königlichen Beschlusse eines in

 

 

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Livland zu haltenden Provinzialtages heißt es ausdrücklich:

 

"Da wir hören, daß das Landvolk in Livland bisher außerordentlich (miris modis) gedrückt worden, finden wir es nöthig, Maßregeln zu ergreifen, das sein Zustand erträglicher werde."

 

Eine Vorbereitung auf diesen Provinzialtag war es, daß Stephan, 1583, in Livland die Polnische Verwaltungsform einführte, einen Polen zum Bischofe von Wenden ernannte, in Wenden, Dorpat und Pernau Polnische Castellane zur Justizverwaltung einsetzte und eine allgemeine Gerichtsordnung erließ: ein Beweis, daß der Kleinmuth der Bauern ihn nicht in seinem Plane irre gemacht. Auf dem Landtage selbst erklärte der Cardinal Radzivil, als Gouverneur, im Namen des Königs, alle Güterverleihungen des letzten Erzbischofs, des letzten Herrmeisters und des ersten Polnischen Gouverneurs, Chodkiewicz, für ungültig; forderte, das alle Edelleute

 

 

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ihre "Schlösser und feste Häuser" schleifen, und sich begnügen sollten, ihre Wohnhäuser mit einer Palisade zu umgeben; verordnete endlich eine Revisionscommission, vor der alle, die Güter in Livland besaßen, das Recht auf dieselben beweisen sollten.

 

Die Antwort, welche der Adel ertheilte, gehört nicht hieher, wohl aber, daß die erwähnte Commission sogleich gebildet, und für jeden Kreis ein königlicher Beamter und ein Livländer zu Gliedern derselben ernannt wurde. Kurz nachher forderten die Litthauer eine dreißig Meilen lange Strecke von Kurland zurück, das heißt, den größesten Theil von Semgallen, als einen ehemaligen Theil von Litthauen. Der König Stephan ernannte eine Commission, die aus Polnischen Großbeamten bestand, zur Untersuchung der Forderung. Sie blieb indes unentschieden, wahrscheinlich nicht so wohl weil der Herzog protestirte, als weil gerade damals wegen des Piltenschen Stiftes große Streitigkeiten zwischen Polen und Dänemark

 

 

 

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entstanden waren, und mit den Einwohnern des Stiftes gefochten wurde.

 

Im Jahr 1584. kam König Stephan nach Wilna. Der Livländische Adel hatte ihm dorthin Deputirte entgegen geschickt, um ihm seine Beschwerden vorzutragen. In ihrer Gegenwart begrüßte ihn, zum Empfange, der zehnjährige Sohn des Litthauischen Großschatzmeisters mit einer zierlichen Lateinischen Rede, worin er, unter andern, den König dringend beschwor: "Die Transmariner, die sich in Livland gesammelt hätten, auszurotten oder übers Meer zurückzujagen, und diese alte Provinz Litthauens ihrem Mutterlande wieder zu geben." Darauf antwortete Stephan freilich nichts, aber die Bitten der Livländer um Bestätigung ihrer Lehnbriefe bewirkten nur einen Befehl an seinen Revisions-Commissär Pekoslawsky, einige wahrscheinlich nicht hinlänglich begründet gefundene Lehnbriefe sogleich zu cassiren, und die Schlösser, auf die sie lauteten, militärisch zu besetzen,

 

 

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was auch sofort mit Kokenhusen und vielen andern Besitzungen geschah.

 

Im Jahr 1586. scheint der König die Angelegenheiten in Livland zu einem entscheidenden Schlage für reif gehalten zu haben. Er sammelte um Riga, das sich seinen Unwillen durch die Hinrichtung zweier ihm ergebenen Rathsherren und andre eigenmächtige Schritte zugezogen hatte, viele Truppen. Dann befahl er dem ganzen Livländischen Adel, bei Verlust seiner Habe und Güter, mit aller Rüstung, die er noch besaß, am 13ten November bei Neuermühlen zu diesen Truppen zu stoßen. Der Adel gehorchte. Der erste Befehl des Polnischen Feldherrn Fahrensbach – der einzige Livländer, der seine alten Güter nicht nur, sondern auch bedeutende neue erhalten hatte,– war, der Adel solle hier, im Spätherbst, im Felde stehen bleiben, und darüber wachen, daß der Bau der neuen Festung am Ausfluß der Düna durch nichts gestört würde. Bald traf auch Pekoslawsky ein, der

 

 

 

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Woywode von Sendomir und Marienburg, und kündigte an, hier, wo der Adel mit allem Kriegsvermögen, das ihm übrig war, sich zwischen mehrern Seen, von Polnischen Truppen umringt sah, solle sogleich ein Landtag gehalten werden. Die Anträge, mit denen er diesen eröffnete, entsprachen den drohenden Anstalten zu demselben.

 

Er warf dem Adel vor: "Daß die Bauern von ihrer Herrschaft so jämmerlich unterdrückt, und mit so grausamer Knechtschaft und Strafe belegt würden, daß dergleichen in der ganzen weiten Welt, auch bei Heiden und Barbaren nie erhört gewesen. Die Pflicht des Königs sey, für seinen niedrigsten Unterthan zu sorgen, wie für den vornehmsten: so fordre er denn, daß die Ritter- und Landschaft von einem solchen Verfahren abstehen, und ihren Bauern nicht mehr Last auflegen sollten, als die in Polen und Litthauen trügen."

 

Für den Fall, daß dieser erste Antrag Widersetzlichkeit erzeugen sollte, scheint der

 

 

 

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zweite berechnet gewesen zu seyn. Er lautete: "Der König habe gerechte Ursache zu klagen, daß viele unter dem Adel sehr wankelmüthig und ihm und der Krone Polen nicht so treu wären, als Eid und Pflicht ihnen vorschrieben. Die Ritterschaft solle sogleich Anstalten treffen, diese Glieder von sich auszustoßen." Hier war also schon das Urtheil der Widersetzlichen gesprochen.

 

Die übrigen Anträge betrafen unter andern Gegenständen von geringerer Bedeutung, auch eine neue Gerichtsordnung. Der versammlete Adel scheint die Gefährlichkeit seiner Lage lebhaft gefühlt zu haben, denn was uns eine Chronik von seiner Antwort aufbehalten hat, athmet eine ungewöhnliche Nachgiebigkeit. In Rücksicht des ersten Punktes sagte er: die Ritterschaft könne freilich nicht verbürgen, daß einer und der Andere mehr an seinen Bauern verübe, als billig, solche möchten es vor Gott und Sr. Majestät verantworten. E(s wurde also das

 

 

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Recht des Königs anerkannt, die Bauern gegen ihre Erbherren zu schützen.) Uebrigens wäre doch erweislich, daß die meisten Edeleute ihre Bauern zur Zeit der Noth mit Ochsen und Pferden und andern Bedürfnissen unterstützten." – – In Rücksicht des zweiten Punktes baten sie, man möchte die Schuldigen nennen, und einen Proceß gegen sie instruiren.

 

Mit diesen Antworten und einer Deputation der Stadt Riga, worin sie sich gegen den Argwohn, sie gehe mit einem Abfall um, vertheidigte, und bat, den Bau der Festung einzustellen, einige ihrer Bürger aber, welche der König in die Acht erklärt hatte, frei zu sprechen, sandte Pekoslawsky einen Courier nach Grodno, wohin sich König Stephan begeben hatte, vermuthlich um den Gang der Angelegenheiten, wenn es nöthig würde, schnell persönlich leiten zu können. Der König er widerte den Deputirten in öffentlicher Audienz am 26. Nov.: "Er erkläre hiermit alle Transacte und Privilegien der Stadt für null und nichtig.

 

 

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Wenn die Stadt sich nicht, ohne irgend eine Ausnahme, auf Gnad' und Ungnade unterwürfe, würde er sie schon zu demüthigen wissen, und sie solle aller Hoffnung auf Gnade entsagen." –

 

Diese Botschaft erfüllte Riga mit Schrecken, und den versammleten und umzingelten Adel wohl nicht weniger, da sich aus ihr abnehmen ließ, was auch er zu erwarten habe. Unerwartet aber lief bald darauf die Nachricht ein, der König sey, sechs Tage nach jener Erklärung, am 2ten December, durch den Irrthum eines seiner Leibärzte. *), gestorben. – Die Polnischen Generale, welche die versammleten Truppen befehligten, kamen selbst in die Stadt, um des Königs Ableben anzuzeigen, und forderten und erhielten die üblichen Versicherungen der Fortdauer der Treue. Mit ähnlichen Förmlichkeiten benachrichtigte

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*) Simonius hieß der Mann. Bei einem Anfall von Krämpfen, der den König traf, hatten die andern Aerzte ihm den Wein verboten, Simonius aber angerathen.

 

 

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und entließ Pekoslawsky den versammleten Adel, der am 22sten December vom Rande des Unterganges nach Haus zurückkehrte. –

 

Durch Stephan Bathory's Tod war die größeste Gefahr abgewendet, welche jemals den Deutschen Adel in Livland bedrohete, und bei den Verwirrungen, in welche jetzt Polen selbst, durch die Streitigkeiten über die Besetzung des Throns, gerieth, scheinen alle Plane auf Livland beseitigt worden zu seyn. Aus den 24 Jahren, während welchen dieses noch unter Polnischer Hoheit blieb, sind blos einzelne Acten übrig, welche den Zustand der Bauern beleuchten und beweisen, daß wenigstens der Gedanke, er müsse verbessert werden, nicht unterging.

 

Der König Siegmund schickte im Jahr 1597 eine neue General - Revisions-Commission nach Livland, welche die Rechte der Güterbesitzer untersuchen sollte, und nebenher den Zustand des Landmannes. Diese erließ an

 

 

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alle Verwalter königlicher Domänen ein Verbot bei Cassation, den Bauern keine nicht vorgeschriebene Abgaben aufzulegen, oder sie daran zu hindern, daß sie ihre überflüssigen Produkte zum Verkaufe abführen. "Nach diesem Beispiel versprach der zum Landtage versammlete Adel (am 15ten Jan. 1598) "bei adlichen Ehren seine Unterthanen hinführo, all ihr übriges Korn und andre Waaren, das sie über ihre Gerechtigkeit und Schuld bauen, frei und ungehindert nach den Städten bringen und ihre Nothdurft dagegen aus denselben holen zu lassen." Das also war ihnen noch nicht erlaubt gewesen! –

 

In dem Berichte, welchen die Revisions Commission 1599. nach Warschau schickte, sagt sie, sie habe in manchen Gegenden die Bauern in einem bejammernswerthen Zustande gefunden. Die Aecker seyen ihnen ungleich nach bloßem Gutdünken zugetheilt. Ihre Herren bedienten sich beim Empfange der Abgaben

 

 

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und Schuldenbezahlung eines großen Maßes, bei Ertheilung der Unterstützungen aber eines kleinern. Sie und ihre Verwalter verhängeten nach Willkühr Geldstrafen, und sönnen sich neue ungewöhnliche Dienstleistungen aus."

 

Dieselbe Commission befahl einem Rigaischen Rechtsgelehrten, Namens Hilchen, ein Gesetzbuch zu entwerfen, das sie unterschrieben haben soll. Er konnte nur von dem ausgehen, was er vorfand; und so bezeugt sein "Livländisches Landrecht," daß noch im Jahr 1599.

 

"Jeder Edelmann in seinem Gute, seinen Marken und Gränzen volle Gerichtsbarkeit über jeden eines Verbrechens Angeschuldigten hatte, der dort ergriffen wurde, – auch, was sich daraus schließen läßt, das Recht seine Auslieferung zu verweigern *);

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*) Eigentlich sagt die Stelle B. 1. Tit. 9. Der Edelmann solle "das Recht mittheilen," das heißt, nicht mehr, wie ehemals, Verbrechern eine Freistatt gewähren.

 

 

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Jeder Edelmann unbeschränkter Herr über den Bauer und dessen Vermögen war *);

 

Jeder Edelmann auch Todesurtheile auf seinem Gute fällen konnte, wenn er einige adlige Nachbaren zu Beisitzern des Gerichtes einlud (B. 2. Tit. 17.).

 

Aus einer Unterlegung, welche der Livländische Landtag zu Wenden schon 1601. dem Herzoge von Südermannland machte, erhellt indeß, daß jene Polnische Revisions-Commission auch darauf angetragen habe, es möge den Bauern freistehen ihre Kinder in die Schule zu schicken, und diejenigen Söhne, die zur Bestellung des väterlichen Landstückes nicht nöthig wären, ein Handwerk lernen und ausüben zu lassen; – daß der Adel dieses aber abgelehnt habe.

 

*) Die Stelle B. 2. Tit. 10, heißt: "Die Erbbauern und welche von ihnen geboren worden, ingleichen auch ihre Haab und Güter, sind in ihrer Herrschaft Gewalt; und können ohne derselben Wissen und Vollwort nichts veräußern."

 

 

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Bald nachher brach der Krieg zwischen Polen und Schweden aus, der erst 1629. und zwar mit der Abtretung Livlands an Schweden, endigte.

 

 

 

 

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Bemühungen schwedischer Monarchen, die Leibeigenheit in Esth - und Livland zu mildern.

 

Einen Plan, die Deutschen ganz aus Esth- und Livland zu vertreiben, durfte der Adel von der schwedischen Regierung freilich nicht befürchten; doch um ihre Herrschaft in diesen Provinzen festzusetzen, konnte auch sie keine bessere Maßregel finden, als die innere Verfassung derselben nach der Schwedischen zu modeln. Aber Schweden kannte nur einen ganz freien Bauernstand, der selbst auf den Reichstagen nicht selten die entscheidende Rolle spielte! –

 

Daher hatte der Herzog Carl von Südermannland 1601. kaum die kleinern Städte und das flache Land bis in die Gegend von Riga eingenommen, als er auch schon eine Versammlung des Livländischen Adels nach Wenden ausschrieb, und neben der Aufforderung, sich Schweden zu unterwerfen, Vorschläge zum Besten der Bauern that.

 

 

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Ein großer Theil des Adels stellte sich ein, huldigte der Krone Schwedens, doch in Rücksicht des Verlangens,

 

"daß die Bauerkinder Schulen besuchen und Handwerke lernen dürften,

 

erklärte er: das habe schon der König Stephan Bathory gewünscht und vor zwei Jahren die Revisions-Commission zu Riga gefordert, aber beide seyen durch das Betragen der Bauern, durch ihre Bitte um Beibehaltung der Leibesstrafen und durch die Nachricht, welche Greuel die Bauern bei ihren Aufrühren (nehmlich vor 160 Jahren, und nicht in Liv- sondern in Esthland,) begangen, überzeugt worden, daß sie gar nicht zur Freiheit taugten. Er müsse dies Ansinnen also auch jetzt ablehnen. Sollte sich indeß irgend ein guter Kopf unter ihnen finden, so könnte ihm ja wohl seine Herrschaft erlauben, irgend etwas Nützliches zu lernen. – Auf die Bemerkung, daß den Bauern kein "rechtmäßiger Proces" offen stehe, setzte der Landtag

 

 

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aus einander, wie die Gutsherren seit Alters her bei der Gerichtshegung über ihre Bauern verführen. Der Herzog mochte indeß wohl gemeint haben, daß diese gegen die gerichtshegenden Gutsherrn selbst keine Rechtshülfe hätten. –

 

Bald nachher nahm der Krieg in Livland eine nachtheilige Wendung für Schweden. Wahrscheinlich erinnerte dies den Herzog, daß es unpolitisch sey, die innern Verhältnisse der Provinz zu berühren, ehe man sicher sey; nicht von außenher in ihrem Besitz gestört zu werden. Es finden sich keine Anzeigen, daß die schwedische Regierung wieder etwas für die Bauern that, als bis Livland 1629. ihr förmlich abgetreten war.

 

Gleich nachher verordnete König Gustav Adolph, ohne vorhergehenden Antrag bei dem Adel, daß auch Bauernkinder in das von ihm gestiftete Gymnasium aufgenommen werden sollten, und daß in demselben auch Lettisch und Esthnisch gelehrt werden sollte.

 

 

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Im folgenden Jahre 1630. verordnete er bestimmte Markttage, an welchen es den Bauern freistehen solle, ihre Produkte öffentlich und selbst in den Städten zu verkaufen, indem er zugleich den Edelleuten und Pächtern strenge verbot, sie daran zu hindern.

 

1632. nahm er dem Adel nicht nur die peinliche Gerichtsbarkeit über seine Bauern, sondern ertheilte diesen auch das Recht, ihre Herren selbst bei dem Hof- und dem Landgerichte zu verklagen.

 

Zu gleicher Zeit ging auch eine vom Könige verordnete Revisions-Commission durchs Land, nicht um, wie die ehemalige Polnische, die Dokumente der Gutsbesitzer zu prüfen, sondern die Ländereien der Bauern, und die Leistungen, die sie für den Besitz derselben trügen, zu untersuchen, und Verzeichnisse darüber zu verfertigen.

 

Riesenschritte zur Verbesserung! Aus edlerer Absicht, als in welcher Stephan Bathory handelte,

 

 

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milder und wirksamer zugleich, als seine Maßregeln ! –

 

Fast ein halbes Jahrhundert verfloß aber seitdem, ohne daß die Plane Gustav Adolphs, der bald nach seiner letzten Verordnung, 1632. bei Lützen blieb, durch neue Einrichtungen kräftig wären fortgeführt worden.

 

Erst 1681. am 27. April that König Karl der Eilfte dem Adel wieder einen Vorschlag zum Besten der Bauern, und zwar geradezu, "die elende Sklaverei und Leibeigenschaft, worunter so viele Christen seufzen müßten, abzuschaffen." Der König sey gesonnen, diesen aus alten heidnischen Zeiten her eingerissenen Gebrauch" auch auf seinen eignen Gütern in Livland aufzuheben.

 

Die Verfasser der Antwort, welche der Adel darauf ertheilte, scheinen die vor achtzig Jahren dem Herzog von Südermannland gegebene, im Archive nachgeschlagen und zum Muster genommen zu haben. Denn auch sie

 

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gehen auf Stephan Bathory zurück und erzählen, er habe Kirchen und Schulen für die Bauern erbauen wollen (was, beiläufig gesagt, ungegründet ist;) aber die Bauern hätten "sich aus allen Kräften dawider gesetzt, und beim König Stephano billig angehalten, daß sie ja nicht von ihrer alten Gewohnheit abgeleitet, sondern bei ihren rauhen Sitten und Gesetzen gelassen werden möchten." Dann führen sie besonders an, daß die Bauern um Fortdauer der Leibesstrafen gebeten, und daß sie ehemals blutige Aufstände gemacht hätten; und äußern, daß die Freisprechung der Bauern das Land entvölkern und die Ritter- und Landschaft in die äußerste Lebensgefahr setzen würde: "welches von derselben abzuwenden, und diese Landesbauern insgesammt in ihrem jetzigen Zustande zu lassen, Ew. Königl. Majestät Edle Ritter- und Landschaft in Demuth anflehet, zumalen sie ja nichts mehr als die bloße Hauszucht und das Eigenthumsrecht, ohne welche kein

 

 

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Edelmann im Lande bleiben kann, über die selbe behalten."

 

Karl gab es nach dieser Vorstellung zwar auf, den Adel zur Freisprechung der Eingebornen zu bewegen, nicht aber, diese auf einem andern Wege einzuleiten.

 

Wahrscheinlich mit um den Widerspruch der Ritter- und Landschaft bei einem Gegenstande, der seinem Verstande und seinem Herzen so wichtig war, zu ahnden, ertheilte er der Kommission, welche untersuchen sollte, mit welchem juristischen Rechte denn die einzelnen Glieder dieser Ritter- und Landschaft ihre Güter besäßen, neue und strengere Instructionen. Es zeigte sich, daß bei vielen nicht die ursprüngliche Belehnung mit ehemaligen Domänen, bei manchen gar keine Fundation der Besitzung nachzuweisen, viele von der Königin Christina wider die Reichsgesetze verkauft waren; und solche Güter wurden reducirt, das heißt, meistentheils ohne Schadloshaltung, wieder in königliche Domänen verwandelt.

 

 

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99

 

Die empörende Härte dieser Maßregel zu fühlen, braucht man sich nur zu erinnern, daß wenn eine Unrechtmäßigkeit dem Besitz dieser Güter zum Grunde lag, sie zum Theil fünf Generationen weit, in die Zerrüttung der herrmeisterlichen und bischöflichen Zeiten, zurückfallen mußte; daß die meisten Güter an die gegenwärtigen Besitzer nur durch Erb- oder Kaufrechte gekommen seyn konnten, welche selbst von schwedischen Tribunälen für begründet erkannt seyn mußten, da diese Provinzen schon seit fünfzig Jahren unter schwedischer Herrschaft standen. "Das ist, ruft der stürmische, nachmals so unglückliche Patkul in einer Schrift aus, "das ist öffentlicher Treubruch, verübt von der höchsten Autorität, die allen Treubruch strafen sollte!“ – Widerlegen kann man dies nicht, aber diejenigen, welche Karls in vielfacher Rücksicht sonst so hochachtungswerthen Karakter von dieser Anklage, wo nicht ganz befreien, doch wenigstens minder beschatten lassen möchten,

 

 

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würden ihn vielleicht damit entschuldigen, daß jeder der Männer, an denen er diese Ungerechtigkeit übte, sich ja kurz vorher geweigert hatte, einer Ungerechtigkeit zu entsagen, die sie selbst an Tausenden von Mitbürgern ausübten. Sie würden außer andern politischen Gründen anführen, daß Karl nach einem sehr großen Gute für seinen Gesammtstaat gestrebt, und es immer in seiner Macht behalten habe, wenn durch die Schwächung des Adels die Freiheit der Bauern erreicht worden, die einzelnen Leidenden unter dem Adel zu entschädigen. Doch der Versuch gewisse Erscheinungen zu entschuldigen, verletzt das Gefühl fast so sehr, als diese selbst. –

 

Untadelhaft dagegen und von großer Weisheit vorgeschrieben war die Bestimmung der zweiten, der Revisions-Commission. Diese begann das Geschäft von neuem, das ihre von Gustav Adolph verordnete Vorgängerin fehlerhaft und unvollkommen ausgeführt hatte.

 

 

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Sie untersuchte den Werth der Bauerländereien auf den Kron- und Privatgütern, und bestimmte darnach, was jeder Bauer für die seinigen leisten solle. Diese billigen Bestimmungen wurden für die Krongüter auf dem Kameralhofe einzeln ausgefertigt, unter dem Namen der Wakkenbücher, und galten bald für eine allgemeine Norm, die in der Folgezeit auch für alle Privatgüter festgesetzt wurde. Eine Maßregel wie diese zeigt, daß, wenn Karl seinem unsterblichen Vorfahr Gustav Adolph an Flug des Genies und an Zartgefühl für's Recht nachstand, er ihn an Schärfe des praktischen Blickes übertraf. Was Karl ausführte, scheint Gustav Adolph nur dunkel vorgeschwebt zu haben.

 

Durch die Maßregeln der Reductions-Commission gehörten von den 6332 Haaken Landes, welche Livland ungefähr enthält, dem Adel nur noch 1021 3/8 Haaken; das übrige aber war großentheils dem ärmern, besitzungslosen Adel vom Könige verarrendirt.

 

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Man sieht, daß die Einrichtungen, welche er für die Krongüter traf, wohl für die ganze Provinz entscheidend werden mußten. Um dies zu beschleunigen, schaffte er, gleich nachdem der Proceß wider Patkul und die andern für Aufrührer erklärten Deputirten des Livländischen Adels entschieden war, den Landesstaat ab, das heißt, die Einrichtungen, wodurch die adlichen Gutsbesitzer auch außer den Landtagen als eine Corporation thätig seyn konnten. Die erst von der Königin Christina 1643. bewilligten Landräthe erklärte er für aufgehoben; bestimmte, daß nur auf Befehl des Königs Landtage gehalten, und sich nur wirklich besitzliche Edelleute auf demselben einfinden sollten; daß niemand Beschwerden auf dem Landtage anbringen, sondern wer sich gedrückt fühlte, sich an den Generalgouverneur wenden solle. Die Geschäfte der Landräthe und Adelsgerichte übertrug er königlichen Beamten.

 

Nach dieser Vorbereitung ging er dazu über,

 

 

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dem Bauernstande auch staatsbürgerliche Geltung zu geben, oder sie wenigstens vorzubereiten. "Er fing damit an, daß er den Arrendatoren – das heißt, wie wir oben sahen, den adligen Verwaltern von fünf Sechstheilen des flachen Landes, – am 20sten Nov. 1694. verbot, ihre Bauern mit Ruthenstrafe zu belegen: hätten die Bauern etwas verbrochen, so sollten sie vor Gericht gestellt werden. Er verbot den Arrendatoren ferner, bei Strafe das Doppelte erstatten zu müssen, irgend eine Abgabe von den Bauern zu fordern, die nicht im Wackenbuche vorgeschrieben wäre; oder irgend eine nicht vorgeschriebene Arbeit, bei Strafe für jeden Arbeitstag mit einem Pferde, zwei Thaler, für jeden Tag Fußarbeit, einen Thaler büßen zu müssen.

 

Im folgenden Jahre berief er dann die adligen Privatbesitzer zu einem Landtage, und der General-Gouverneur Hastfer hielt einen Vortrag

 

 

 

 

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an denselben über die Hausdisciplin des Inhalts:

 

"Es wolle E. E. Ritterschaft auf deren Güter ebenmäßig (nämlich wie es auf den Krongütern schon befohlen worden,) eine christliche und billige Moderation in der Hauszucht Ihnen anbefohlen seyn lassen, und dieselbe von allen unmäßigen Excessen, unchristlichen und unerträglichen Belastungen, sammt allen unbarmherzigen Verfahrungen, dadurch der arme Bauer um Gesundheit, Lebensunterhalt, Gebrauch seiner Gliedmaßen, ja gar ums Leben mannigmahl gebracht wird, saubern und darin so disponiren, wie Ihrer königl. Majestät heilige Intention das christliche Recht und Gebühr deren, denen Gott über andre einen Vorzug nach seiner Ordnung gegönnt hat,"

 

"erfordert, und ein jeder so wohl in foro conscientiae, als justitiae, wenn dieselbe sollte und müßte imploriret werden, zu verantworten sich getrauet. etc."

 

 

 

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Die Antwort des Landtages kenne ich nicht; aber wie sie auch mag ausgefallen seyn, es war nun von neuem festgesetzt, daß das forum Justitiae auch von den Bauern der Privatgüter, bei Uebermaß an Forderung oder an Strafe, angerufen werden konnte. –

 

Im Jahr 1696. faste die Schwedisches Regierung darauf alle zum Besten der Livländischen Kronsbauerschaft gemachten Verordnungen zu einem allgemeinen Gesetzbuche, das Oekonomie-Reglement benannt, zusammen. Einem im folgenden Jahre versammelten Landtage wurde darauf die Erklärung gethan, daß der König – im Allgemeinen – die gegenseitigen Rechte der Gutsbesitzer und ihrer Bauern durch das Oekonomie-Reglement in Ordnung gebracht habe. Die Bauern müssen indeß diese Erklärung nicht abgewartet haben, um Hülfe zu suchen, denn eine Landtagserklärung von demselben Jahre bittet schon,

 

"weiln der Bauern malitieuse unart dermaßen vielfältig ist,

 

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daß sie oft ganz ungegründete und erdichtete Klagen führen, um diese (die Gutsherrschaft) nur bei der hohen Obrigkeit in üble Opinion, zu deren höchst touchirlichem blame zu setzen,

 

so möge für solche ungegründete Klagen eine Strafe bestimmt werden.

 

In demselben Jahre starb Karl der Eilfte. sein jugendlicher Nachfolger wurde bald hernach zu dem großen Kriege gebracht, in dessen Anfange er Peter dem großen hartnäckig den Besitz eines Handelshavens an der Ostsee abschlug, und dessen Ende war, daß ganz Liv- Esth- und Ingermannland dem Reiche zufiel, dem diese Provinzen schon durch die Natur ihrer Lage zugesprochen werden, und dessen Oberherrschaft sie, nach Nestors Zeugniß, schon zu Ruriks Zeit anerkannten. Es war die politisch-natürliche, und im Laufe der Zeiten immer unausbleibliche Erscheinung, daß die Küste zu ihrem Binnenlande zurückkehrte.

 

Ehe wir den Gang betrachten,

 

 

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den die Angelegenheiten der Eingebornen bis zu der ehrenvollen und heilbringenden Entscheidung nahmen, deren Zeugen wir geworden, wollen wir einen flüchtigen Blick zurück, auf den Hauptinhalt dieser historischen Einleitung werfen.

 

Roh, aber frei und voll mannhaften Selbstgefühls, fand Mainhard die Eingebornen dieser Provinzen, – fand Bischof Albert sie noch. Durch seine, auf kein Recht oder Gesetz gestützten Belehnungen, stieß er sie in die Leibeigenheit hinab, und ließ sie zurück, preisgegeben allen Forderungen bewaffneter Selbstsucht und wilder Leidenschaftlichkeit. Nach viertehalbhundert Jahren stürzte der morschgewordene Bündel von bischöflichen, ritterlichen und Handelsstaaten auseinander. Sie unterwarfen sich fremder Herrschaft, ohne daß von Rechten der Eingebornen die Rede war. Diese kommen, wie die Bäume ihres Waldes, wie Produkte des Bodens, mit den andern Theilen des Vermögens ihrer Herren,

 

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unter die Oberverwaltung der Monarchen fremder Nationen.

 

Die Litthauischen Magnaten, eingedenk ihrer Stammverwandtschaft mit den Eingebornen, betrachten die Deutschen nur als eine gewaltthätig eingedrungene Kolonie, und fordern von ihrem Monarchen die Vertreibung derselben, aber wohl nur, wie die Verfassung ihres eignen Landes beweist, um das Volk zu ihrer Habe zu machen, nicht um es zu seiner alten Selbstständigkeit aufzurichten. Stephan Bathory, obgleich mit andern Absichten als seine Großen, bereitet sich ihre Forderungen durch Einen Gewaltstreich zu erfüllen. Im entscheidenden Augenblick stirbt er, und drei Jahrzehende hernach wird Livland Provinz eines andern Staates, dessen Nation den Leibeigenen so fremd ist, als den Erb herren.

 

Aber dieser Staat hat einen freien Bauernstand, der dem Monarchen bei der Beschränkung des Adels große Dienste geleistet hat:

 

 

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diese streben also darnach, dieselben Vortheile in Liv - und Esthland zu erlangen. Sie nehmen die Leibeigenen unter den Schutz der Gesetze, sie öffnen ihnen Wege zur Bildung bestimmen und beschränken ihre vorher ungemessenen Lasten, geben ihnen Rechte und Tribunäle diese zu schützen.

 

Wieder wechselt das Uebergewicht unter den Staaten der Nachbarschaft, und die Erbherren und ihre Leibeigene werden zusammen der Herrschaft eines dritten Staates unterworfen, dessen Nation zwar auch stammverwandt, mit der Letztern ist, dessen weite Gränzen aber eine zu große Mannigfaltigkeit von Völkern umschließen, als daß die Beschaffenheit des Ursprungs derselben politische Rücksicht werden könnte, und dessen unumschränkte Monarchen zu mächtig sind für das Bedürfnis, an dem politischen Gegengewicht der Stände zu künsteln. Weder das nächste Interesse der Regierung also, noch das der Großen, wirkte hier für die Leibeigenen,

 

 

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die selbst nicht im Stande sind, für sich zu rechten. Hier scheint alle Hoffnung für sie erloschen. Und gerade unter der Herrschaft dieser erhabnen Regierung sehen wir sie nach Verlauf von noch einem Jahrhundert als freie Staatsbürger aufgestellt.

 

Wer vermochte dies Wunder zu schaffen? – Weise Menschenhuld auf einem unumschränkten Throne, in einem aufgeklärten Zeitalter. Nicht politische Berechnung, Alexanders Seelengröße ließ den Freiheitsruf über unsre Provinzen ergehen. Aber auch hier ist Güte, die höchste Weisheit.

 

. . .

 

 

 

 

 

Quelle:

Die freien Letten und Esthen. Eine Erinnerungs-Schrift zu dem am 6ten Januar 1820. in Riga gefeierten Freiheitsfeste, von Dr. G. Merkel. Riga, 1820. bei C. J. Hartmann S. III-XII, 1-110

 

 

Das Buch wurde durch das Münchener DigitalisierungsZentrum eingescannt und ist unter folgendem Link zugänglich:

https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10783073_00005.html

 

Die freyen Letten und Esthen

Autor / Hrsg.: Merkel, Garlieb Helwig ; Merkel, Garlieb Helwig

Verlagsort: Riga | Erscheinungsjahr: 1820

Signatur: Russ. 103 b

Reihe: Die freyen Letten und Esthen

Permalink: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10783073-0

 

 

 

Für Interessierte sei ebenfalls ein Buch des Predigers zu Lais, Heinrich Johann von Jannau empfohlen, das 1786 erschienen ist, ebenfalls vom Münchener DigitalisierungsZentrum eingescannt wurde und unter folgendem Link zugänglich ist:

https://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10782432_00007.html

 

 

Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Estland

Verlagsort: S.l. | Erscheinungsjahr: 1786

Signatur: Russ. 45

Reihe: Geschichte der Sklaverey und Charakter der Bauern in Lief- und Estland

Permalink: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10782432-9

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Einführung von Georg Wihgrabs zu Garlieb Merkels "Die Letten" Riga 1924

Lettland-Bücherei

Die Letten

von Garlieb Merkel

 

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Porträt Garlieb Merkel Geb. 1769 Gest. 1850

 

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Garlieb Merkel

Die Letten

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Druckerei Gesellschaft „Salan audra“ vorm. Grotbuss)

Riga. Altstadt Nr. 8

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Garlieb Merkel

 

Die Letten

 

Nach der zweiten Fassung wortgetreu neu herausgegeben

 

Mit einer Einführung von Georg Wihgrabs

 

1924

Verlags-Akt-Ges. „Rigna“, Riga

 

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Alle Rechte vorbehalten.

Copyright 1924 by Verlags-Akt-Ges. „Rigna“ Riga

 

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Einführung von Georg Wihgrabs

 

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I.

Merkels Leben.

 

Garlieb Helwig Merkel ist am l. November 1769 als Sohn des Pastors zu Loddiger in Livland Daniel Merkel aus dessen dritter Ehe geboren worden. Daniel Merkel, geb. 1712, Pastor zu Loddiger seit 1741, stammte aus Riga, hatte im Ausland studiert und war dort zu einem überzeugten Anhänger der Aufklärungsphilosophie des XVIII Jahrhunderts geworden. Seine liebsten Schriftsteller waren Bayle und Voltaire.

 

Im Jahre 1770 wurde Daniel Merkel vom Konsistorium für amtsunfähig erklärt und zur Abdankung verurteilt. Kränklichkeit (Steinleiden, Schwerhörigkeit u. a.) hatten auf seinen schon von Natur verschlossenen und herben Charakter, einen so schlimmen Einfluss gehabt, dass er in Streitigkeiten mit seiner Gemeinde geriet und nicht mehr im Stande war, den Pflichten seines Amtes nachzukommen. Die Gemeinde musste ihm eine lebenslängliche Pension auszahlen.

 

Anfang 177] begab er sich mit seiner Familie in Kost zum Alt-Pebalgschen Pastor Linde, der früher sein Adjunkt gewesen war. Hier wuchs der kleine Garlieb auf, ganz

 

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VIII

 

allein, ohne gleichaltrige Spielgenossen. Die Kunst des Lesens und Schreibens und die ersten Grundzüge verschiedener Wissensgebiete brachte ihm sein Vater bei. Das war kein regelrechter Schulunterricht nach einem bestimmten Programm; es waren dies Gespräche und Unterhaltungen, auch Erzählungen, sowohl im Zimmer als im Freien auf Spaziergängen, in denen der Vater dem Knaben blosse Anregungen und Hinweise gab, die dieser dann allein auf Grund von selbständigem Nachdenken und Beobachten verarbeitete und die das nächste Mal durchsprochen und weitergeführt wurden. Um die Entwicklung des frühreifen und einsamen Knaben nicht in ungesunde Bahnen gelangen zu lassen, beschlossen die Eltern im Jahre 1776 ihn in Riga die Schule besuchen zu lassen. Er kam in eine kleine private äusserst primitive „Leseschule“, dann in die „Schreibschule“ des Waisenhauses, die Merkel eine „Kinderhölle“ nennt, und nach einem halben Jahr etwa auf die Domschule.

 

Des Knaben Vater, der 1778 ein Gut in Arrende übernommen hatte, starb im Dezember 1782. Infolge seines Todes

 

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IX

 

verschlechterte sich die materielle Lage der Familie so sehr, dass der junge Garlieb die Schulbildung unterbrechen und zur Mutter aufs Gut zurückkehren musste. Hier verbrachte er gegen zwei und ein halbes Jahr in völliger Abgeschlossenheit, in der Bibliothek des Vaters lebend und mit Eifer sich dem Studium der dort vorhandenen Bücher hingebend, die vorzüglich aus den Werken der Vertreter des Rationalismus bestanden. Im Jahre 1785 trat Merkel wieder in die Domschule ein. Da aber die Mittel zum Universitätsbesuch fehlten, und der Schulbetrieb dem Jüngling nur wenig zusagte, verliess er, noch nicht 17 Jahre alt, die Schule, ohne sie beendet zu haben, um sich selbständig den Lebensunterhalt zu verdienen. Er erhielt nach einiger Zeit eine Stelle als Schreiber in der Kanzlei einer Regierungsbehörde. In seiner freien Zeit widmete er sich der Lektüre und dem Studium. Doch die tote Kanzleiarbeit konnte den jungen Merkel nicht befriedigen, so dass er die Stelle aufgeben und sich mit Privatstunden durchschlagen musste. In dieser Zeit schloss er sich einer Gruppe

 

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X

 

von jungen Leuten aus der damaligen rigaschen „Boheme“, dem „Prophetenklub“, an. Es waren dies ausländische junge Gelehrte, die in Riga eine Anstellung suchten, Künstler, geistig interessierte Beamte u. a. Niemand von den jungen Leuten hatte noch seine Existenz fest begründet; fast alle lebten sie in bedrängten Verhältnissen, liessen aber unbekümmert ihren Lebensmut überschäumen.

 

Durch mehrere handschriftliche Aufsätze hatte Merkel inzwischen einige Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und so wurde er dem Pastor J. Chr. Cleemann in Pernigel (Livland) als Hauslehrer empfohlen. Hier verbrachte er vier Jahre (1788 — 1792). Stark regt sich in dieser Zeit Merkels Produktionsbetrieb: er schreibt über alles Mögliche, widmet sich aber vor allem poetischen Versuchen.

 

Hier in Pernigel macht Merkel eine Bekanntschaft, die gemäss seinen eigenen Worten die „wichtigste“ für seine „Bildung“ ist, die er „seit seiner Kindheit“ gemacht hat. Es handelt sich um Friedrich von Meck, den jugendlichen Besitzer des Gutes Pernigel, der während Merkels Aufenthalt

 

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XI

 

in Pernigel aus Deutschland nach Beendigung seiner Studien auf den dortigen Universitäten in die Heimat zurückkehrte. Meck war überzeugter Anhänger der neuen Ideen jener Zeit und einer der edelsten und vornehmsten Vertreter der wenigen fortschrittlich gesinnten Elemente unter dem damaligen livländischen Adel. Er starb jedoch bald eines frühen Todes. Durch Meck kam Merkel in einen „Gesellschaftszirkel ähnlicher Geister“, der vor allem aus Mecks akademischen Freunden bestand, von denen viele ebenfalls Hauslehrer waren, und die sich zu Weihnachten und Ostern bei Meck versammelten.

 

Im Jahre 1792 zieht Meck nach Riga; Merkel folgt ihm, kann aber in der Stadt nicht festen Fuss fassen, verbringt dort neun „verlorene“ Monate und nimmt im Jahre 1793 wieder eine Hauslehrerstelle an: Diese führt in die „abgeschlossenste, ländliche Einsamkeit” zum Kreisrichter A. von Transehe in Annenhof (Kirchspiel Nitau). Hier schreibt Merkel sein Hauptwerk, das vorliegende Buch: „Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts“. Im April 1796 verlässt

 

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XII

 

Merkel seine Stelle, begibt sich nach Riga und von dort nach Leipzig, einer ungewissen Zukunft entgegen, nur, um seine Schrift zu veröffentlichen, was in Riga natürlich unmöglich gewesen wäre.

 

Die „Letten“ erschienen in Leipzig im Herbst 1796. Auf dem Titelblatt des Buches steht allerdings das Jahr 1797 — aber das die übliche kühne buchhändlerische Vorausnahme des Kommenden. Das Buch erregte das allergrösste Aufsehen, fand in weitesten Kreisen begeisterten Beifall und machte seinen Verfasser mit einem Schlage zu einem berühmten Mann. Nachdem Merkel in Leipzig und Jena Studien obgelegen hatte, liess er sich 1797 in Weimar nieder. Im Herbst desselben Jahres erhielt er die Stelle eines Sekretärs des dänischen Finanzministers Graf Schimmelmann, die er jedoch schon im Dezember verliess, um nach Weimar zurückzukehren, wo er bis zum Jahre 1799 lebte. In dieser Zeit entstanden „Humes und Rousseaus Abhandlungen über den Urvertrag nebst einem Versuch über Leibeigenschaft, den livländischen Erbherren gewidmet“; „Die Rückkehr ins Vaterland“ ein Halbroman, und „Die VorzeitLivlands“.

 

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XIII

 

Im Herbst 1799 siedelte Merkel nach Berlin über; hier lebte er mit Ausnahme eines kurzen Aufenthaltes in Frankfurt a/O., wo er den Doktorgrad erwarb, bis zum Jahre 1806. In Berlin widmet sich Merkel vor allem der Literaturkritik und Journalistik. Der neueste Autor, der über Merkels Aufenthalt in Deutschland handelt, Müller-Jabusch, spricht sich über Merkels Berliner Zeit folgendermassen aus: „.. . in den Jahren 1799-1806 hat er (Merkel) eine Rolle gespielt, die für das Öffentliche Leben der Stadt von höchster Bedeutung war“. (Siehe: „Thersites“. Die Erinnerungen Garlieb Merkels 1796 — 1817, herausgegeben von M. Müller-Jabusch, 1921.)

 

Durch seinen Bildungsgang war es Merkel fast unmöglich gemacht worden, ein richtiges Verständnis für die damalige neue Richtung in der deutschen Literatur (Goethe, Schiller, Romantiker) zu gewinnen; er erkannte nur den schon überwundenen Klassizismus an; Wieland war ihm Deutschlands grösster Dichter. Dazu war Merkel in Weimar gleich in die Netze der Feinde Goethes geraten. In Berlin schloss er sich daher leidenschaftlich dem Feldzug gegen Weimar an.

 

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XIV

 

Dieser Kampf hat Merkel Feindschaft und Hass, Hohn und Spott eingebracht, ist geradezu zu einem Kainszeichen für ihn geworden, kann aber als vernichtend nur für den Kritiker, nicht für den Publizisten und Menschen Merkel angesehen werden. In vollem Glanze zeigten sich in Berlin Merkels journalistische Gaben. Anfang Juli 1803 gründete er die Zeitschrift „Ernst und Scherz“, die 1804 mit Kotzebues „Freimütigem“ zum „Freimütigen oder Ernst und Scherz“ verschmolz, und deren faktische Leitung in den Händen Merkels lag. Eine ganz ausserordentliche Bedeutung erwarb sich der „Freimütige“ durch seinen Kampf gegen Napoleon. Müller-Jabusch schreibt darüber: „Alle patriotischen Nachrichten und Stimmen der Zeit..... drängten sich allmählich in eine Zeitschrift zusammen: den Freimütigen“, der zur „Erhebung der ganzen Nation“, zu „allgemeiner Volksbewaffnung“ aufrief. Dieser Kampf erforderte „eine gehörige Portion Zivilkourage“. So kam denn Merkel auf die französische Proskriptionsliste und musste nach der Schlacht bei Jena und Auerstädt Deutschland verlassen. Er kehrte nach Riga zurück.

 

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XV

 

Während des Berliner Aufenthalts entstanden Merkels „Briefe an ein Frauenzimmer über die neuesten Produkte der schönen Literatur in Deutschland“ und „Wannem Ymanta“, eine lettische Sage, deren Grundstock Merkel bereits in seiner ersten Hauslehrerzeit niedergeschrieben hatte.

 

In Riga setzte Merkel den Kampf gegen Napoleon fort. Im Juli 1807 gründete er die Zeitschrift (später Zeitung) — „Zuschauer“. 1812 trägt er das seinige zur Konvention von Tauroggen, dem Uebertritt der preussischen Truppen von den Franzosen zu den Russen, bei.

 

1816 begab sich Merkel zurück nach Deutschland. Sein Versuch in Berlin die alte Stellung wiederzuerwerben misslang und 1817 kehrte er endgültig nach Riga zurück. Nach der Aufhebung der Leibeigenschaft schrieb Merkel „Die freien Letten und Esten. Eine Erinnerungsschrift zu dem am 6. Januar 1820 in Riga gefeierten Freiheitsfeste“, 1820. Das Werk war Kaiser Alexander I gewidmet, der dem Autor wegen seiner Verdienste um die Befreiung der Bauern eine lebenslängliche Pension von 300 Silberrubeln aussetzte.

 

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XVI

 

Von nun an lebte Merkel auf dem kleinen Gute Depkinshof, nicht weit von Riga, das er sich schon früher gekauft hatte. In den 30-er Jahren gab er die journalistische Tätigkeit wegen Zensurschwierigkeiten auf. In den Jahren 1839 und 1840 erschienen die autobiographischen „Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben‘. Merkel starb am 9. Mai 1850. Am Tage der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages wurde auf dem Katlakalnschen Kirchhof bei Riga von dem Rigaschen Lettischen Verein auf Merkels Grabe ein Denkmal errichtet.

 

II.

 

Die Beurteilung Merkels.

 

Die Meinungen über Merkels Persönlichkeit und sein Hauptwerk „Die Letten“ widersprechen einander auf das Entschiedenste. In der Masse der adligen Grossgrundbesitzer Livlands rief das Erscheinen des Buches die äusserste Empörung hervor. Als erster begann den Kampf gegen Merkel der „Hofrat und Ritter“ G. S. Brasch. Doch wie der nächste Vorkämpfer des livländischen Adels

 

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XVII

 

Pastor H. F. Tiebe in seinem Buch „Liv- und Estlands Ehrenrettung gegen Herrn Merkel und Petri“ 1804 zu berichten weiss, wurde es Brasch durch „höhere Befehle“ verboten, gegen Merkel zu schreiben. Andererseits erzählt wieder Merkel in seinem „Supplement zu den Letten“ 1798, dass der damalige Gouverneur, selbst ein Gutsbesitzer, alle in Riga vorrätigen Exemplare der „Letten“ konfiszierie und bloss Edelleuten gestattete, sich vom Regierungsarchivar eines holen zu lassen. In späteren Zeiten existierte die Ueberlieferung, dass „Die Letten“ in Riga aufgekauft und verbrannt worden wären. Wieviel an all diesen Mitteilungen wahres ist, lässt sich schwer ermitteln. Tatsache ist jedenfalls, dass erst im Jahre 1804, nach dem Erscheinen der zweiten Auflage der „Letten“ 1800, der Kampf gegen Merkel nachdrücklich forgesetzt wird.

 

G. F. von Fircks schreibt ein Büchlein : „Die Letten in Kurland oder Verteidigung meines Vaterlands gegen die Angriffe von G. Merkel in dessen Letten“. Ausserdem erscheint das schon angeführte Buch von Tiebe nebst einem „Nachtrag“ im Jahre 1805. Fircks spricht von „schmähsüchtigen

 

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XVIII

 

Angriffen“, „brandmarkenden Verleumdungen“ und „Unwahrheiten“. Ungleich reichhaltiger ist Tiebe. Seiner Ansicht nach ist Merkel ein „einseitiger, parteiischer, liebloser, schmähsüchtiger Tadler“, ein „arglistiger Verleumder“, „ein Lästerer“. Nach Tiebes Meinung hat „Herr Merkel wirklich triftige Ursache, nur leider nicht die, die er selbst angibt, gegen Livlands Adel und Geistlichkeit zu Felde zu ziehen“; „aus Bescheidenheit“ will Tiebe diese Ursachen „verschweigen“, um Merkel selbst und „mehr noch seinen verstorbenen Vater zu schonen“. Merkel hat „in Deutschland Aufmerksamkeit erregt, und keiner vermutet, dass er aus Rache schrieb“.

 

Im „Nachtrag“ zu seiner „Ehrenrettung“ hat Tiebe die Stimmen verschiedener livländischer Edelleute über Merkels „Letten“ gesammelt. Im folgenden eine Blütenlese des Charakteristischsten. Merkel schöpft „aus den unreinsten Quellen“ und zieht den „Unwillen“ über „fehlgeschlagene Hoffnungen“ und „aus eigener Schuld verfehlte Beförderung“ zu rate. Nicht „Menschenliebe“ entwirft „ein ähnliches Bild“, sondern „Bosheit und heftiger Hass gegen Livlands

 

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XIX

 

Adel und Geistlichkeit“, von deren einigen Merkel sich „zurückgesetzt“ glaubt, eine „zurückschreckende Karrikatur*... — „Das hiesige Publikum“ ist berechtigt zu glauben, „dass entweder Privathass, Rache oder überspannte Neuerungssucht den Verfasser verleitet haben müsse, der Sammler.... lächerlicher Anekdoten zu werden, die er in dem gehässigsten Lichte und oft falsch vorträgt, vermutlich um einen im Auslande in Achtung stehenden Adel verächtlich zu machen“. — „Livlands Gutsbesitzer sahen daher... die „Letten“ als die hämische Ausgeburt eines exzentrischen Kopfes und gallsüchtigen Herzens an“. — „Merkel genoss allerwärts Höflichkeiten, Zutrauen und die beste Begegnung von dem hiesigen Adel und Predigern, die zu seiner Bekanntschaft gehörten, wie er selbst gesteht. Der Dank dafür ist eine Lästerung“. Das Buch ist entstanden „entweder aus einem unwiderstehlichen Hange zur Schmähsucht, oder aus Feindschaft gegen einige Güterbesitzer und besonders gegen seinen Herrn Prinzipal, dessen Brot er ass..., oder aus Lust Aufsehen durch eine recht auffallende Schmähschrift über einen neuen Gegenstand

 

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XX

 

zu machen, oder aus Langeweile, da er sich keiner nützlicheren Beschäftigung widmen wollte“.

 

Und es sei schon hier gesagt: genau diese selbe Meinung über Merkel ist auch eben noch im baltischen Deutschtum herrschend — ein missratener Pastorensohn, der als Hauslehrer schlecht behandelt wurde, nimmt Rache!

 

Im Jahre 1818 schreibt G. v. Rennenkampf in seinem Buche „Bemerkungen über die Leibeigenschaft in Livland und ihre Aufhebung“ über Merkels Schriften folgendes: „Wer von uns kennt nicht jene sophistischen Schmähschriften eines ehemals mehr gelesenen Schriftstellers, welche unsere Leibeigenen als eine durchaus tyrannisierte, unglückliche Menschenklasse darstellte deren Tage nur durch eine ununterbrochene Reihe von Misshandlungen, Greuelszenen und Druck bezeichnet wird, und die den livländischen Gutsbesitzer als einen durchaus hartherzigen Tyrannen darstellt, dessen Freude — Misshandlung seiner Untergebenen, dessen Dichten und Trachten nur auf egoistisches Aussaugen der frommen getretenen Bauern gerichtet ist; Schriften,

 

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XXI

 

deren verleumderische Darstellungen um so leichter bei den Menschen Eingang finden, wann sie unter heuchlerischer Maske der Menschenliebe, mit dem Schmuck leichten Witzes erscheinen. Wir haben es verachtet, den Verleumder öffentlich zu widerlegen und ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Wer hätte es sich jemals vorstellen können, dass dergleichen Vorstellungen als Wahrheit aufgenommen werden würden; leider lehrt uns aber die Erfahrung, wie sehr man die Schmähung als Wahrheit aufnahm und welchen bösen Ruf der Heuchler uns . . allgemein bereitet hat.“ Auch Rennenkampf ist der Meinung, nur „gekränkte Eitelkeit oder Rachsucht“ könne „dergleichen Verleumdung gebären, um die Klasse der Gutsbesitzer einer ganzen Provinz ..... zu erniedrigen“.

 

Auf die Angriffe, die gegen Merkel infolge seiner literarisch-kritischen Tätigkeit gerichtet wurden und die den obigen an Kraft nicht nachstehen, gehen wir hier nicht ein.

 

Ausserhalb Livlands wurde Merkels Buch, wie schon hingewiesen, ganz anders aufgenomınen. In der damals massgebenden

 

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XXII

 

Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung “ wurden die „Letten“ äusserst günstig besprochen. In kurzer Zeit erschienen Uebersetzungen ins Französische und Dänische. Der Abbe Sieyes. 1799 französischer Gesandter in Berlin, der die „Letten“ kannte, liess einst Merkel zu sich bitten und forderte ihn auf, nach Frankreich überzusiedeln und in den Dienst der dortigen Regierung zu treten.

 

Aber auch in der Heimat fand Merkel begeisterte Anhänger unter den fortschrittlich gesinnten und von den humanen Ideen jenes Zeitalters durchdrungenen reformfreundlichen Vertretern des Grossgrundbesitzes. Elisa von der Recke, eine der gebildetsten und bemerkenswertesten Frauen ihrer Zeit, sucht Merkel in Weimar auf und korrespondiert mit ihm. Der spätere Landrat Baron K. Chr. von Bruiningk, der als Schüler des Hallischen Pädagogiums im Oktober 1797 an Merkel ein begeistertes Schreiben gerichtet hatte, schreibt im Jahre 1840 folgendes: „Wohl unvergesslich bleibend ist der Eindruck gewesen, den Ihre „Letten“ auf mich gemacht haben... Wenn ich als Jüngling Ihnen Zeugnis davon

 

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XXIII

 

ablegte, dass mein Herz für Recht und Wahrheit glühte und für Ihre Lehre empfänglich war, so darf ich — jetzt dem Greisenalter nahe — es aussprechen, dass ich diese Gesinnung treu bewahrt habe und in diesem Sinne, wenn auch mit geringen Kräften, zu leben und zu wirken, bemüht gewesen bin. Mit den Gefühlen der Hochachtung, mit welchen ich mich 1797 unterzeichnete — wiederhole ich’s als Ihr ergebenster Diener Bruiningk.“

 

R.J.L. von Samson-Himmelstjerna, der erste unter den Kämpfern für die Aufhebung der Leibeigenschaft und einer der bedeutendsten Männer Livlands, studierte 1796 in Halle und fühlte sich „lebhaft“ vom Inhalt der Letten ergriffen. „Unter den akademischen Freunden und Landsleuten,“ schreibt er 60 Jahre später, „kam eine Verbindung zu Stande, deren Zweck war, in Zukunft möglichst für die Besserung der Bauernzustände in Livland beizutragen.“

 

Gewichtig sind die Worte, die derselbe Samson im Jahre 1838 in dem Vorwort zu seiner Schrift „Historischer Versuch über die Aufhebung der Leibeigenschaft in den Ostseeprovinzen“ schreibt: „Einige dieser

 

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XXIV

 

(gegen die Leibeigenschaft gerichteten) Schriften wurden überhört und übersehen; anderen begegnete man von Anfang her mit einer Feindseligkeit, die weder Misskennen der Absicht des Verfassers, noch Geringschätzung seines Schriftstellertalentes, sondern, aufrichtig gesagt, das beschämende Gefühl der Wahrheit dessen, was er im Feuereifer geschrieben und gedacht hatte, bezeichnete.” Unter diesen letzten Autoren meint Samson Merkel. „Die Zeit der Anklagen und Fehden ist vorüber, und niemand mehr wird verdächtigt wegen seiner politischen oder patriotischen Ansicht über die Geltung des Herrn Dr. Merkel. Man hat, soviel ich weiss, keinen Tadel zu befürchten, wenn man — abgesehen von etwanigem Widerspruch — unverhohlen bekennt, dass der Herr Dr. Merkel ein grosses Verdienst um die Umgestaltung der Dinge in betreff der Bauern habe. Er sprach mit Leidenschaft, aber mit Wahrheit. Die Leidenschaft war Eifer für die gute Sache und ist daher nicht allein zu entschuldigen, sondern auch vollkommen zu rechtfertigen;.... hätte Herr Dr. Merkel nicht mit der Leidenschaft

 

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XXV

 

gesprochen...., so würde er gewiss mit seinen Vorgängern gleiches Schicksal gehabt haben. Seinem Freimut verdankten im Jahre 1796 — als die Letten erschienen — manche Jünglinge edle heilbringende Absichten für die Zukunft.“

 

Das deutschbaltische Bürgertum, speziell die literarischen Kreise Rigas, mag sich von anfang an zu Merkel wohl anders gestellt haben, als der Adel, zu dem es sich damals durchaus nicht hingezogen fühlte. Als Merkel schon 1806 nach Riga zurückkehrt, gelingt es ihm bald in der Heimat festen Fuss zu fassen und dort den zweiten Teil seines Lebens unter allgemeiner Achtung zu verbringen. Hierzu vergleiche man die nach Merkels Tode in den baltischen Presseorganen erschienenen Nachrufe. Der „Zuschauer“ z. B. schreibt in seiner Nummer vom 1. Juli 1850 über die „Letten“ folgendes: „...ein Werk, das an manchen Uebertreibungen leidet und im Farbenglanz einer jugendlichen Phantasie manche Ansichten enthüllt, die mit dem gereifteren Nachdenken des Mannes sich nicht mehr vertragen konnten, aber dennoch durch Anregung und Bekanntwerdung viele Uebelstände

 

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XXVI

 

beseitigt, mit den entschiedensten Impuls zu der erst 25 Jahre später ins Leben gerufenen Bauernfreiheit gegeben hat... Das „Inland“ (1850, Nr. 19) gibt folgende Charakteristik von Merkel: er ist „einer der bekanntesten und geschätztesten Schriftsteller Livlands, der um die Freilassung der Bauern, wie um die Geschichte der Zeit“ sich Verdienste erworben hat...; diese „sichern seinem Namen einen ehrenvollen Platz in der allgemeinen Kulturgeschichte. Die Widersacher und Spötter sind verstummt; .... Livland betrauert aber den Verlust eines Mannes, der auf seine innere Entwicklung in den letzten Jahrzehenden einen entscheidenden Impuls durch Wort und Tat geübt hat.“

 

Es ist von Interesse, hiermit das Verhalten der deutschbaltischen Presse zur 50. Wiederkehr von Merkels Todestag zu vergleichen: des Tages gedenkt bloss das „Rigaer Tageblatt‘‘ (1900, Nr. 95) und zwar, indem es — den eben erwähnten Nekrolog des „Zuschauers“ wieder abdruckt. Damals war es dem Adel bereits gelungen, das gesamte Deutschbaltentum zum Glauben zu bringen, als ob das Fortbestehen der Privilegien

 

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XXVII

 

des Adels notwendige Voraussetzung für die weitere Existenz aller baltischen Deutschen überhaupt wäre.

 

Den ersten Versuch einer ruhigen, beinahe wissenschaftlichen Bewertung von Merkels Bedeutung macht der bekannte baltische Publizist Julius Eckardt. Seine Schlussfolgerungen sind: Merkel „gebührt die Ehre am stärksten unter den Bürgern Livlands eine Empfindung für die Schmach gehabt zu haben, welche dem Lande aus der Aufrechterhaltung des entwürdigenden Zustandes der leibeigenen Letten und Esten erwachsen musste, — die Ehre, diese Empfindung auch auf die Gefahr hin, seine gesamte Existenz aufs Spiel zu setzen, zur energischen kecken Tat werden zu lassen. ….. Schlimm genug, dass dieses Verdienst nie bei uns zur vollen und freudigen Anerkennung gelangt ist.* („Erinnerungen an G. Merkel“ in den „Baltischen Provinzen Russlands“). „Das Verdienst Merkels, durch diesen Alarmruf den Anstoss zu einer Reform unleidlich gewordener Zustände gegeben und das Gewissen des deutschen Adels der russischen Ostseeprovinzen geweckt zu haben, war und blieb

 

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XXVIII

 

ein grosses und unbestreitbares.“ Als Merkels Hauptfehler bezeichnet Eckardt: „massloses Selbstgefühl, kindische Eitelkeit und rücksichtslose Rechthaberei“. (Garlieb Merkel über Deutschland zur Schiller-Goethe-Zeit 1797—1806). Andererseits stellt aber Eckardt fest, dass Merkel das Lob gebühre, „seine Ueberzeugung zu allen Zeiten mit Unerschrockenheit und ohne die Rücksicht auf die Gunst oder Ungunst äusserer Verhältnisse verfochten zu haben“ („York und Paulucci“ 1865).

 

Eckardt findet sein Gegenstück an dem baltischen Geschichtsforscher H. Diederichs. In einem in der „Baltischen Monatsschrift“ 1870, Band 19 (= N. F. Bd. I) veröffentlichten Artikel über „Garlieb Merkel als Bekämpfer der Leibeigenschaft und seine Vorgänger“ will Diederichs „eine rein geschichtliche Würdigung“ Merkels zu geben versuchen. Diese Würdigung fällt aber recht absonderlich aus. Diederichs findet, dass es damals „nicht schwer“ (!!) war, „die grelle Unnatur der herrschenden Zustände zu erkennen und zu verurteilen“. Merkels Darstellung musste „unwiderleglich erscheinen“. — „Und in gewisser Hinsicht,“

 

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XXIX

 

meint Diederichs, „ist sie es auch. — Aber furchtbar einseitig und bis zur Unwahrheit absichtsvoll zugespitzt ist dennoch das Ganze. Man darf nie vergessen, dass hier nicht bloss ein Angreifer der Sache, sondern auch ein Ankläger der Personen und des Standes spricht...“ — „Ob bei der Abfassung und Veröffentlichung seines Buches“, fährt Diederichs fort, „ihn (Merkel) auch persönliche Misstimmung gegen einzelne Personen aus dem Adel geleitet, wie man damals allgemein glaubte, lässt sich nicht beweisen, wenn es auch manche Umstände wahrscheinlich machen. .... Merkels „Letten“ geben nur ein Zerrbild der Wirklichkeit, sie sind oft mehr eine perfide und höhnische Anklageschrift, als eine wahrheitsgetreue Schilderung; alles darin ist mit gehässiger Absicht zusammengestellt und willkürlich zugestutzt. Dennoch haben sie eine heilsame Wirkung ausgeübt (!!).“ Diederichs dichtet Merkel „blinde Beschränktheit des Parteieifers“ an, der kein Mittel verschmäht „sein Ziel zu erreichen“, und muss dennoch gestehen: „für Livland waren die „Letten“ damals .. ein nicht zu überhörender Warnungsruf“.

 

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Sonderbarer Weise wertet Diederichs die Schilderung der Geistlichen durch Merkel viel höher ein; er schreibt: „Es fehlt auch hier nicht an starken Uebertreibungen und dem leidigen Generalisieren..... Aber im Ganzen spricht Merkel hier ruhiger und unbefangener und der vielfache scharfe Tadel gegen das Leben und Treiben der Geistlichkeit ist nicht ungegründet....; so gibt dieser Abschnitt eine kulturhistorische Schilderung von bleibendem Werte und ist einer der lehrreichsten des ganzen Buches.“

 

Noch einmal kommt Diederichs auf Merkel zurück und zwar in seiner Rezension des von uns schon erwähnten Buches von Julius Eckardt „Garlieb Merkel über Deutschland“ usw. „Glühenden Hasses voll hat Merkel nur einmal geschrieben..... in den Letten“; sonst kann ihm Diederichs nicht einmal dies, sondern bloss „masslose Eitelkeit und oft wahrhaft lächerliche Selbstüberschätzung“, sowie „kleinliche Scheelsucht“ zusprechen. Für Diederichs gehört Merkel „völlig der Vergangenheit“ an („Rigasche Zeitung“ 1887, Nr. 93).

 

Jegor v. Sievers lässt es sich nicht

 

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XXXI

 

nehmen, in seinem Büchlein „Zur Geschichte der Bauernfreiheit in Livland“, 1878, zu behaupten, Merkel habe „mit seinen deklamatorischen Ergiessungen ..... auf den Gang der Angelegenheiten bis 1816 verlangsamend und vielfach hemmend gewirkt“.

 

Nach Tobien („Die Agrargesetzgebung Livlands im 19. Jahrhundert“ Bd. 1, 1899) enthalten Diederichs Ausführungen „die beste Kritik der schriftstellerischen Tätigkeit Merkels“. Tobien findet, dass Merkel „Mässigung, Objektivität“, vor allem aber „Sachkenntnis“ fehlen. „Seine Leidenschaft liess ihn .... einseitig werden, verleitete ihn zu Uebertreibungen und Verallgemeinerungen und in der blinden Beschränktheit des Parteieifers wurde er ungerecht…. Wiewohl Merkels Schriften in Livland viel Beachtung und zustimmende Anerkennug gefunden, ja Begeisterung hervorgerufen haben, so kann ihnen ein wirklicher Einfluss auf den Gang der Agrarreform nicht beigemessen werden.“ In den gegen Merkel gerichteten Schriften sieht Tobien „eingehende und sachgemässe Widerlegungen.“

 

Im Jahre 1916 erscheint in den „Sitzungsberichten der Kön. Bayer. Akademie der

 

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XXXII

 

Wissenschaften“ eine kleine Schrift über den „Kampf um die Leibeigenschaft in Livland“ von Hans Prutz, Prof. emer. Über Merkels „Letten“ schreibt er folgendes: das Bild, das Merkel von den Verhältnissen auf dem Lande entwirft, „musste geradezu abschreckend wirken, zumal mancher dadurch zuerst erfuhr, was für Unmenschlichkeiten da noch im Schwange waren. Dass sein Bericht im wesentlichen der Wahrheit entsprach, ist nicht zu bezweifeln, zumal er sich nicht selten auf zuverlässige Gewährsmänner beruft. Das Buch wurde schon dadurch epochemachend, dass es zum ersten Mal scharf das Problem bezeichnete, von dessen Lösung die Zukunft Livlands abhing.... So eindringlich, ja gelegentlich heftig die Sprache war, die Merkel als begeisterter Anwalt der Letten führte, im ganzen bleibt sie doch sachlich und enthält sich über das Ziel hinausschiesenden Schmähens und Scheltens.“

 

Das neueste Buch über Merkel entstammt der Feder des Reichsdeutschen Müller-Jabusch (siehe oben S. XIII). Müller-Jabusch behandelt vor allem Merkels Aufenthalt in Deutschland. Er schreibt darüber folgendes:

 

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XXXIII

 

„…. als ästhetischen Richter müssen wir Merkel ganz und gar ablehnen. Seine Verdienste liegen auf ganz anderem Gebiete. auf politischem und auf dem des Journalismus, und zwar eines Journalismus im modernen Sinne.“ — Merkel ist zum „Vater der Theatertageskritik“ in der deutschen Zeitungspresse geworden. Aus dem „gelehrten Artikel“ machte er „das erste Zeitungsfeuilleton in ganz modernem Sinne“, in dessen Leitung er sich „als ein Journalist von glänzender redaktioneller Begabung“ erwies. Vom Merkelschen „Freimütigen“ stammen „die Familienzeitschriften sogut wie die literarischen Revuen ab.

 

Bemerkenswert ist Müller-Jabuschs Meinung über die obenangeführte Rezension von Diederichs: „Hier spricht sich klar aus, dass der Deutschbalte, der nie vergessen hat, dass der Lette, der Undeutsche, auch einmal ein Unfreier war, Merkel im Grunde seines Herzens für einen Verräter an der deutschen Sache hält. Ich brauche nicht besonders zu betonen, dass ich Diederichs grämliche Ansicht über Merkel nicht teile. .“ Interessant ist auch Müller-Jabuschs Urteil über Merkels „Letten“: „Noch heute

 

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bewirkt dieses Buch, dass man seinem Verfasser in seiner Heimat nicht gerecht wird. Er hat zuerst die wohl von vielen gefühlte Diskrepanz vor aller Welt ausgesprochen, die darin liegt, dass eine zahlmässig kleine Schicht über ein anderes Volk uneingeschränkt herrscht, mag es nun diesem Volk seine Kultur gebracht haben oder nicht, und sein Menschheitsgefühl empört sich über die Aeusserungen dieser Tatsache des Herrschens. Man hat den „Letten“ mit Recht Einseitigkeit, Uebertreibung und sonst noch manches vorgeworfen, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass Merkel, als er dies Buch schrieb, zuerst den Finger auf eine schwärende Wunde legte.“

 

Müller-Jabusch hält Merkel für einen von der Rechtlichkeit seiner Anschauungen überzeugten Menschen; daher ist er auch der Meinung, dass Merkel bei seinem Kampfe gegen Goethe „ehrlich“ glaubte, „Schwächen eines grossen Mannes zu sehen“.

 

Warum Müller-Jabusch nach all diesen Ausführungen Merkel mit Thersites, dem traurigen homerischen Helden, in eine Reihe stellt, bleibt unverständlich.

 

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XXXV

 

III.

 

Merkels „Letten‘“.

 

Hat Merkel seine „Letten“ wirklich aus eitel „Hass und Rachsucht“ gegen den Adel geschrieben? Lassen wir zunächst Merkel selbst zu Worte kommen. In den „Darstellungen und Charakteristiken aus meinem Leben“ schreibt er: „Mein erstes regelmässiges Gedicht gehörte dem Gefühle an, das mich seit meiner Kindheit am meisten und lebhaftesten beschäftigte, dem der hohen Ungerechtigkeit der Bauern.“ Es war dies ein Lied mit der Ueberschrift „Klageruf des leibeigenen Letten“, entstanden in der ersten Hauslehrerzeit Merkels.

 

Die „Letten“ verfasst Merkel während seiner zweiten Stelle bei Herrn v. Transehe. Hierüber schreibt er folgendes: „Ein Gedanke füllte meine ganze Seele, überwältigte mich ganz. Er entsprang ursprünglich aus einem tiefen Eindrucke, den ich schon in meiner Kindheit empfangen hatte, und der, bei jedem neuen Aufenthalte auf dem Lande erneuert und verschärft, mich jetzt unwiderstehlich zur Tat trieb.“ Merkel hatte nämlich als kleiner Knabe gesehen,

 

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XXXVI

 

wie der Pebalgsche Pastor Linde, bei dem die Familie Merkel damals lebte, einen alten Bauern, den der Knabe gut kannte, prügeln liess, weil er „verdächtig“ war, um einen Diebstahl gewusst zu haben.

 

Welches ist nun nach Merkel der Zweck der „Letten“? Während seines Aufenthaltes in Riga 1792/93 fasst Merkel den Entschluss, „nicht den Ankläger Einzelner zu machen, sondern des ganzen Verhältnisses, durch das solche Abscheulichkeiten und das allgemeine Elend zweier Völker möglich wurde“. In den „Letten“ erklärter: „Meine Absicht ist nur unparteiisch die Lage der Bauern zu schildern.“ Merkel will die „Rechte einer unglückseligen Nation“ vertreten und „die Aufmerksamkeit der Landesregierung“ auf sie hinlenken, „damit greise und unmenschliche Missbräuche endlich abgeschafft“ würden. Er gedenkt nicht „gegen die einzelnen Fehlenden“, sondern gegen „die unmenschlichen Vorrechte” zu kämpfen. „Wer behaupten wollte, ein ganzer Stand sei unmenschlich und hartherzig, würde eine unsinnige Verleumdung vorbringen.“ Daher ist Merkel „weit entfernt“ davon, „den Adel Livlands

 

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einer allgemeinen Bösartigkeit bezichten zu wollen“.

 

Merkel gibt zu, dass er die in den „Letten“ enthaltenen Tatsachen „in einer oft heftigen Sprache vorgetragen“ und „mit Hitze für die Millionen unglücklicher Brüder gerechtet“ hat. Aber „ohne Schonung, ohne Rücksicht“ musste er sprechen, um überhaupt gehört zu werden (vergleiche hierüber oben Samsons Worte). Trotzalledem verspricht Merkel seinen Lesern „Unparteilichkeit* und erklärt, er habe nur „authentische Fakta“ angeführt. „Vaterlandsliebe ist mein Beruf und Wahrheitsliebe mein Talent.“

 

Nehmen wir zu all dem Angeführten hinzu, dass in Merkels Schriften keinerlei Andeutungen über „schlechte Behandlung“ von seiten des Adels und der Geistlichkeit und über eine angebliche Rache dafür zu finden sind; dass Merkels Kampf gegen die Leibeigenschaft einen prinzipiellen Charakter hat und von tiefstem sittlichem Ernst getragen wird; dass die Fabeleien von Merkels „Bosheit und Hass gegen Livlands Adel und Geistlichkeit* wegen irgendwelcher „Zurücksetzungen“ und von seiner Absicht

 

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XXXVIII

 

nun dafür heimzuzahlen, uns nur in den Schmähschriften des Adels und dessen Anhangs, als blosse Behauptungen, ohne jegliche Beweisgründe entgegentreten; dass selbst Diederichs bloss konstatieren kann. die Ansicht, Merkel habe sich „auch“ von „persönlicher Misstimmung gegen einzelne Personen aus dem Adel“ leiten lassen, nicht zu „beweisen“ sei. obwohl sie „mancher Umstände“ wegen „wahrscheinlich“ wäre, und dass Tobien schliesslich hiervon völlig schweigt, — wenn man all das zusammenfasst, so muss man denn doch wohl zugeben, dass es sich hier um völlig unbegründete Beschuldigungen und Verleumdungen Merkels durch seine Gegner handelt.

 

Dieses wird auch dadurch bestätigt, dass Merkel sehr wohl begriff, was ihm im Falle der Veröffentlichung seines Buches bevorstand. „Ich weiss,“ sagt er, „dass meine Ruhe und vielleicht alles, was ich verlieren kann, auf dem Spiel stehe. Ich sehe voraus, dass man mir Verleumdung, Bosheit. vielleicht Verrat wird andichten wollen; aber es sei!“ Dass Merkel hierbei nicht übertreibt, beweist auch sein Gegner Tiebe, der da offen erklärt, Merkel müsse infolge der

 

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Herausgabe der „Letten“ Livland „mit dem Rücken ansehen“ und habe sich selbst „die Rückkehr ins Vaterland verscherzt“.

 

Nun könnte es ja durchaus sein, dass trotz der edelsten Absichten Merkels seine „Letten“ zuguterletzt doch etwas anderes geworden sind, als ihr Verfasser es sich zunächst selber gedacht hatte. Am besten kann ein derartiger Zweifler von der Unrichtigkeit seiner Meinung natürlich durch unvoreingenommene Lektüre des Buches selbst überzeugt werden. Deshalb seien hier bloss einige Hinweise gegeben. Merkel ist wirklich nicht „Ankläger der Einzelnen“ geworden; ebensowenig bezichtigt er einen „ganzen Stand“ der Unmenschlichkeit und der Hartherzigkeit. Neben den Fällen, in denen die Gutsherren ihre Rechte über die leibeigenen Bauern missbrauchen, führt er jedesmal entgegengesetzte Beispiele an und kargt dabei mit seinem Lobe nicht. Er sagt z. B.: „Ich habe soviel Böses von diesem Stande sagen müssen, dass ich froh bin zur Ehrenrettung desselben auch endlich Gutes von ihm anführen zu können.“ Schuld an den Missbräuchen und Gewalttaten der Gutsherren sind nicht so sehr

 

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XL

 

diese, als die Gesetze, die einem jeden von ihnen, wenn es ihm gerade einfällt, die Möglichkeit unbestrafter Ausschreitungen den Bauern gegenüber geben.

 

Wer da behauptet, die von Merkel angeführten Tatsachen seien falsch, müsste sich schon bemühen. das zu beweisen, denn Merkel nennt die betreffenden Personen und Orte entweder direkt oder verschleiert sie so leicht, dass sie für einen jeden den Verhältnissen Nahestehenden ohne Mühe zu erkennen sind. Dies aber hat keiner von Merkels Gegner versucht; selbst Tiebe erklärt, er wolle nicht Merkels Letten „Wort für Wort widerlegen“. Es kann gewiss möglich sein, dass einzelne der von Merkel erzählten Fälle von Grausamkeit, Roheit, rücksichtsloser Ausbeutung der Bauern usw. in diesem oder jenem der Wirklichkeit nicht entsprechen, denn so manches davon hatte Merkel aus zweiter oder gar auch aus dritter Hand. — aber das hat wenig zu bedeuten; denn nicht wegen dieser oder jener Ausschreitung dieses oder jenes Gutsherrn bekämpft Merkel die Leibeigenschaft, sondern weil sie schon in ihren allgemeinen Grundlagen, ohne jede

 

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XLI

 

Auswüchse, der Idee der Menschenrechte widerspricht und speziell in Livland einem ganzen Volk — Lette und Leibeigener waren damals gleichwertige Begriffe — die Möglichkeit einer selbständigen nationalen Entwicklung nimmt.

 

Vielleicht widerlegt aber die Beschreibung der Grundlagen der Leibeigenschaft durch moderne Forscher Merkels Schilderung? Tobien sagt in seinem Werk „Die Agrargesetzgebung Livlands im 19. Jahrhundert“ folgendes: „Die Bestimmungen vom Jahre 1765 (zum Besten der Bauern) wurden in der Folge ganz und garnicht eingehalten “... „Das gutsherrlich-bäuerliche Verhältnis gestaltete sich ungünstiger als zuvor.“...„ Die gutsherrlichen Gerechtsame über die Person der Untertanen (waren) nahezu unbeschränkt, die bäuerlichen Besitzrechte am Grund und Boden nicht gesichert, die Frondienste ungemessen “..... „Der Verkauf einzelner Höriger war durchaus üblich, ja es kam sogar vor, dass Leibeigene öffentlich versteigert wurden.“ Genau dieselbe Schilderung gibt A. v. Transehe in seinem Buch „Gutsherr und Bauer in Livland im 17. und 18. Jahrhundert“. Er findet, dass die Lage

 

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sich verschärfte“ und zuletzt „unerträglich wurde“.

 

Dass die Zugehörigkeit der Herren und der Bauern zu verschiedenen Völkerschaften die Leibeigenschaft verschärfte, gibt Transehe zu: „Der Bauer gehörte einer fremden, unterdrückten und verachteten Nation an. er war in den Augen der Deutschen ein Paria, ausgestattet mit all den übeln Charaktereigenschaften eines solchen.“

 

Zu den besten zeitgenössischen Zeugnissen über den Charakter der Leibeigenschaft in Livland im 18. Jahrhundert gehören die „Propositionen“ (d. h. Anträge), die der damalige Generalgouverneur Graf George Browne dem Landtag vom Jahre 1765 im Namen der Kaiserin Katharina Il. zur Beratung vorlegte. Der dritte Propositionspunkt betrifft „den elenden Zustand der Bauern in dieser Provinz und die Mittel, wie diesem am füglichsten abzuhelfen“.

 

Soviel ich entdecken konnte,“ führt Browne aus, „lässt sich alle Beschwerde auf drei Hauptstücke reduzieren:

 

1) wird dem Bauern durchaus kein Eigentum, auch selbst in den Stücken, die er durch sein Schweiss und Blut erworben, zugestanden;

 

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XLIII

 

2) seine Abgaben und seine Prästanda 1) sind ganz unbestimmt, und er muss täglich neue Auflagen und zwar solche gewärtigen, zu denen weder sein Körper, noch seine Habe und Vieh hinlangen;

 

3) Bei seinem Verbrechen wird er zu hart gezüchtigt und öfters auf eine Art hantieret 2). die seinen Vergehungen so wenig angemessen, als mit den Empfindungen eines Christen zu konziliieren 3) sind.

 

Die Richtigkeit des ersten Gravaminis 4) ist notorisch. Der Bauer ist nicht nur in dem Besitz seines Landes und der von ihm erbauten Katen 5) so unsicher als der Vogel auf dem Dache, sondern auch in Ansehung seines geringen Mobiliarvermögens noch unsicherer. Findet der Herr was bei ihm, so ihm gefällt, es sei Pferd, Vieh, Fasel 6) oder sonst was: so wird es entweder für einen selbstbeliebigen geringen Preis oder ganz umsonst genommen. Selbst die jährlichen Feldfrüchte, die der Bauer so sauer und mühsam aus der Erde, zu seinem und der Seinigen dürftigen Unterhalt hervorsucht,

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1) Pflichtleistungen; 2) behandelt; 3) vereinbaren; 4) Beschwerde; 5) Hütten; 6) im baltischen Deutsch — Federvieh.

 

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XLIV

 

sind nicht vor dem Herrn sicher. Wie ist’s möglich, dass die armen Menschen, in einer so unglücklichen Situation, das geringste zu erwerben suchen sollten, da sie alles dessen, was sie vor sich bringen 1), nicht einer Stunde sicher sind?

 

Die zweite Bedrückung ist noch häufiger... Ausser der ordinären Arbeit und Gerechtigkeit 2), die auf dem Lande haftet, sind die Nebenprästanda unbeständig und ohne Ende. So billig die Landesmethode ist, dass der Bauer dem Erbherrn bei der Ernte, bei dem Mistführen, bei Erbauung der nötigen Gebäude, bei Reinigung der Heuschläge, Fällung und Abflössung des Holzes, an den Orten, wo dergleichen statt hat, usw. helfe: so nötig ist es doch, dass dieses bestimmt sei und mit dem Vermögen der Bauern in einem Verhältnisse stehe; dass z. B. zu jeder Arbeit, nach der Grösse der Gesinde 3), gewisse Tage auferlegt werden. und dass diese Arbeit nur zu diesen Erfordernissen angewendet, und wenn solche nicht nötig, der Bauer nicht an deren Stelle zu anderen Frondiensten angestrengt werde; so aber gehet alles hierin willkürlich zu.

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1) erwerben; 2) Abgaben; 3) Bauernhof.

 

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XLV

 

Den Bauern werden ausser seiner Arbeit Stücke in den Hofsfeldern zugemessen, die er von Hause bearbeiten muss, und zwar alles ohne einige Bonifikationen 1). Die Fuhren werden ganz indeterminat 2) genommen, und nicht nur zur Verführung der Hofsgefälle 3), sondern auch fremder Waren, die zuweilen vielfach jene an Menge und Schwere übertreffen, zu aller Jahreszeit nach Belieben ausgetrieben....

 

Die dritte Bedrückung der Bauern ist der Exzess 4) in ihrer Bestrafung. Dieser ist so enorm, dass das Geschrei davon zu meinem empfindlichen Kummer bis an den Thron gedrungen. Die kleinsten Vergehungen werden mit zehn paar Ruten geahndet, mit welchen nicht nach der gesetzlichen Vorschrift mit jedem Paar dreimal, sondern solange gehauen wird, als ein Stumpf der Ruten übrig ist, und bis Haut und Fleisch herunterfallen. Die Bauern werden wochen- und monatelang, und öfters in der grossesten Kälte, in den Kleten 5) in Eisen und Klötzen auf Wasser und Brot gehalten. Lauter Strafen, die alle Schranken einer

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1) Vergütung; 2) unbegrenzt; 3) landwirtschaftliche Produkte der Güter; 4) Übermass; 5) Kornkammer.

 

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XLVI

 

Privatzüchtigung ungebührlich übersteigen, und mit denen nur die Gerichte in schweren Verbrechen und auch alsdann gelinder verfahren, indem sie wenigstens die Inculpatos 1) in warmen Gefängnissen aufbewahren.

 

Was kann aus so vielen Bedrückungen und gewaltsamen Prozeduren natürlich folgen. als dass die Bauern, denen selbst das Leben dabei zur Last wird, alle Lust zum Erwerben und Wirtschaften verlieren, sich der Verzweiflung und Lüderlichkeit überlassen, und wenn sie durch diese, wie durch die Erpressungen gänzlich erschöpft sind, nicht nur ihre väterlichen Wohnstellen verlaufen, sondern ganz und gar aus dem Lande flüchten? Was kann aber auch nachteiliger für das Interesse publicum 2) sein, als eine solche Destruction 3) eines so unentbehrlichen Standes?

 

Indessen ist das Uebel noch völlig zu remedieren 4), wenn eine edle Ritter- und Landschaft sich dahin wie billig vereinbart, dass:

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1) Angeschuldigten; 2) Allgemeininteresse; 3) Zerstörung, Zerrüttung; 4) heilen, abstellen.

 

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1) das Eigentum der Bauern in ihrem Mobiliar-Vermögen, sonderlich in dem, was sie selbst erworben, fest gesetzt;

 

2) ihre Prästanda, wie sie Namen haben mögen, bestimmt und den Kräften der Bauern proportioniert 1);

 

3) den Ausschweifungen der Hauszucht billige Grenzen gesetzt werden.“ —

 

Im siebenten Propositionspunkt äussert sich Browne über den Verkauf der Bauern: „Ferner würde es höchst zuträglich sein, dass das ganz uneingeschränkte Verkaufen der Menschen restringiert 2) würde.

 

Es ist mit diesem Handel, durch welchen Kinder von ihren Eltern und zuweilen sogar Männer von ihren Weibern getrennt werden, so weit gediehen, dass Erbherren, die ihrem Ruin entgegeneilen, ihre Leute teils einzeln, teils in ganzen Familien mit ihrer Habseligkeit (so viel sie nämlich ihnen zu lassen für gut gefunden) öffentlich den Meistbietenden feilstellen, ja zuweilen über die Grenze verkaufen. .... Eine edle Ritter- und Landschaft würde auch sich

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1) in das richtige Verhältnis gesetzt; 2) eingeschränkt.

 

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selbst und ihrem Rufe prospizieren 1). wenn in diesem Stücke eine heilsame Mässigung beliebet und festgesetzt würde.“

 

J. Eckardt bemerkt zu den Propositionen des Grafen Browne: „Und doch lässt sich nicht nachweisen, dass die vom Gr. Browne gebrauchten Farben allzu grell oder allzu dick aufgetragen gewesen.“ („Zur livl. Landtagsgeschichte“; Balt. Monatsschrift, 1869, B. 18. S. 442). Transehe meint, es erscheine „nicht sehr übertrieben“, wenn der Landtag von 1765 die Bauern „servi“ 2) u. s. w. nenne.

 

Brownes Schilderung der Verhältnisse stimmt bis auf Einzelheiten mit der von Merkel in seinen „Letten“ gegebenen überein. Das gleiche können wir auch von den sonstigen zeitgenössischen Beschreibungen der Leibeigenschaft konstatieren. Der Verfasser einer von diesen wird vom Landtag denn auch natürlich „boshafter Insinuation“ bezichtigt.

 

Der Landtag beantwortete die Propositionen des Generalgouverneurs mit einer ausführlichen Erklärung und fasste einmütig

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1) Vorsorge treffen im Interesse jemandes. . . 2) Sklaven.

 

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den Beschluss: „dass die Ritterschaft, in ihrem Gewissen sich von den gemachten Vorwürfen freisprechend, auch künftig nach den in ihrer Erklärung angegebenen Grundsätzen und ihrer bisher ununterbrochenen Gewohnheit zu handeln und dadurch ihre Bauernschaft in unverändertem Wohlstande zu erhalten, sich untereinander ihr Ehrenwort“ gibt u. s. w.

 

Derartige Beschlüsse konnten Browne natürlich nicht befriedigen; er erklärte, laut dem Landtagsprotokolil, „dass die Veranlassung zu den Propositionspunkten, insonderheit zu dem dritten, gerade von Ihrer Kaiserlichen Majestät“ selbst käme.... ... Wenn die Ritterschaft sich über kein bestimmtes Gesetz einigen könne oder wolle,“ so würde „das von der Kaiserin nötig befundene Gesetz gerade vom Throne erfolgen“. Browne findet „die in den Erklärungen vorhandenen Verfügungen dem Zweck der Kaiserin ganz und garnicht angemessen“.

 

Daraufhin fanden längere Unterhandlungen statt, auf Grund deren der ursprüngliche Landtagsbeschluss abgeändert und folgende Bestimmungen vom Generalgouverneur in

 

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lettischer und estnischer Sprache publiziert und von den Predigern von den Kanzeln verlesen wurden. „Dass wenn der Bauer seinem Herrn nichts an Arbeit, Gerechtigkeit und Vorstreckung 1) schuldig ist, er eigentümlich behalten soll, was er erwerben kann oder von seinen Eltern ererbet; dass die Leistungen der Bauern an Arbeit und Fuhren bestimmt sein sollen und die Erbherren, falls sie ausser der festzusetzenden Arbeit noch einiger Arbeit unumgänglich bedürfen, dafür entweder andere Arbeit zu erlassen, oder eine Vergütung in der Gerechtigkeit oder am Gelde zu tun haben; jedoch dergleichen extraordinäre Arbeit nicht bei der Saat oder anderen schweren Arbeitszeiten fordern dürfen; dass die Gerechtigkeit, die jetzt (1765) bestimmt worden ist, niemals erhöht werden soll; dass es den Bauern freistehe, über ihre Herren zu klagen, jedoch wenn sie erst bescheidene Vorstellungen den Herren getan hätten, und dann den Richter um Milderung des Druckes zu bitten.“

 

Auch inbezug auf die Hauszucht legten die Landtagsmitglieder einander Einschränkungen

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1) etwas Geliehenes.

 

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auf; ebenso inbezug auf den Verkauf der Leibeigenen.

 

Dies ist der wesentliche Inhalt der im Jahre 1765 unter dem Drucke der Regierung getroffenen Bestimmungen zum Besten der Bauern, die aber nach Tobiens eigenen Worten, „in der Folge ganz und garnicht eingehalten wurden,“ so dass „die Formen der bäuerlichen Unfreiheit* in Livland „seit 1765 eine böse Gestalt“ annahmen.

 

Nur einer vom ganzen Landtage trat für den Browneschen dritten Propositionspunkt ein. Es was das der Landrat C. F. Baron Schoultz, der im Jahre vorher für seine Bauern ein besonderes Bauernrecht im Sinn des alten schwedischen Bauernschutzes und der Proposition Brownes hatte drucken lassen. Das Vorgehen von Schoultz wurde vom Landtage in einer derartigen Form missbilligt, dass Schoultz das lebenslängliche Amt eines Landrates niederlegte. Sein Bauernrecht wurde auf Veranlassung der Ritterschaft eingezogen.

 

Welches sind nun die in der Erklärung des Landtags enthaltenen Anschauungen, auf Grund deren der Landtag die dritte der Browneschen Propositionen strikt abzulehnen

 

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LII

 

und die später angenommenen Beschlüsse nicht zu beobachten sich im Recht glaubte ? Wir können nur das Wesentlichste herausgreifen.

 

Bei der Eroberung des Landes sind, nach der Meinung des Landtags, die Letten und Esten „nach dem ganzen Umfange des römischen Rechts, soweit als es die christliche Religion zugelassen, servi 1)“ der Eroberer geworden. Sie waren infolgedessen „Eigentum ihres Herrn, welches er auf keine Weise verlieren konnte“. So blieb es auch im weiteren. Stephan Bathory, König von Polen, und König Karl XI. von Schweden, damals noch Herzog von Südermannland, „proponierten der Ritterschaft, ihren Bauern einige Freiheiten zu geben und ihnen ihre Sklaverei erträglicher zu machen. Die Ritterschaft beantwortete diese Anmutung jedoch mit der ausdrücklichen Anzeige der daher zu befürchtenden Folgen, und mit Beschreibung des natürlichen Genies 2) der Nation, womit auch beide Monarchen sehr wohl zufrieden gewesen“(?). In der Antwort der Ritterschaft an Karl XI.

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1) Sklaven; 2) Charakter.

 

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LIII

 

finden sich folgende Behauptungen: „Gewiss ist zu fürchten, dass sotane Freiheit sie (die Bauern) zu allem Mutwillen antreiben, und mehr und mehr veranlassen würde, auf Ausrottung ihrer Herrschaft zu gedenken und dies Land mit Mord und Blutvergiessen anzufüllen... Aus der Freiheit kann dem Lande kein Vorteil zuwachsen, nur die Ritter- und Landschaft würde in äusserste unabwehrliche Lebensgefahr gesetzet werden.“ Der Landtag von 1765 ist daher überzeugt, dass „diese Erbuntertänigkeit und Leibeigenschaft der Bauern also nicht allein in ihrer natürlichen Kondition 1), sondern auch in den Privilegiis und Rechten des Adels dieses Herzogtums gegründet“ ist. Dem Landrat Schoultz wurde erklärt: „Ein jeder weiss,dass der Bauer seinen Herrn als Usurpateur seines Eigentums ansiehet und ihn allemal hasset. Alles, was ihm nur einen Schein des Rechtes gibt, seinen Hass zu zeigen, ergreift er mit beiden Händen... Dass die jetzige Leibeigenschaft der Bauern nicht in der Barbarei derjeniger Zeiten, die von dem Herrn Landrat so schreckenvoll

 

1) Beschaffenheit.

 

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geschildert worden, sondern in dem natürlichen Genie der Nation gegründet und wegen der bekannten schrecklichen Folgen ihrer Lizenz 1) notwendig sei,“ ist hinlänglich erwiesen... „Wie wenig sich der Bauer durch eine zerfetzte Haut von Bosheit abhalten lasse, lehret die tägliche Erfahrung. Diebstahl, Entlaufen und Widersetzlichkeit werden alle Tage mit Ruten gestraft, und demungeachtet alle Tage wiederholt...“

 

Eine noch deutlichere Sprache führt die sog. „Rosensche Deklaration“vom Jahre 1739. Auf eine Anfrage der russischen Regierung, welcher Art die Rechte der Gutsherren über ihre „Erbbauern und deren Habseligkeit“ seien, und zwar „ob? und wie weit? die Herrschaften zu deren (der Bauern) Eigentum sich berechtigt halten und den Bauern nach Gefallen die Gerechtigkeit verhohen können?“ antwortete der residierende Landrat Rosen, dass „das Dominium 2) der Erbherrschaften über ihre Erbbauern ... bei der ersten Eroberung dieses Landes fundieret 3)“ sei... . und dass die Bauern „bis hiezu in einer gänzlichen Leibeigenschaft geblieben sind.“

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1) Zügellosigkeit; 2) die Gewalt; 3) begründet.

 

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Wie also die Bauernschaft“, fährt Rosen fort, „mit ihrer Person und Leibern der Erbherrschaft gänzlich unterworfen und eigen gehören, so ist nicht zu zweifeln, dass sotanes Dominium sich nicht auch über des Bauern Vermögen 1) erstrecken und die Herrschaft nicht zu dessen Eigentum berechtigt sein solle... .. Diese der Ritterschaft kompetierende 2) Gewalt über ihrer Erbbauern Hab und Gut ist derselben niemalen eingeschränkt, und obwohl Kraft dieses Rechts der Bauer nichts sich selbsten sondern seiner Herrschaft acquiriere 3), diese auch des Bauern Gut und Vermögen, als ihr selbsteigenes anderwärtiges Eigentum nach allem Gefallen zu disponieren 4) und damit zu schalten und zu walten berechtigt: so hat die Herrschaft doch aus blosser Willkür 5) sich selbsten in diesem unbeschränkten jure dominii 6) moderieret 7), dass sie, doch ohne Nachteil dieses Rechts, nur gewisse Prästanda an Zinse und Arbeit determinieret 8), welche die Bauernschaft zu zahlen schuldig seie. Es ist aber die

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1) Besitz; 2) zukommende; 3) erwirbt; 4) verfügen; 5) aus freiem Willen, aus eigenem Antrieb; 6) Eigentumsrecht; 7) sich beschieden; 8) festgesetzt.

 

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Masse der Gerechtigkeit und der Dienste nicht etwan als nicht zu überschreiten seiender Anschlag von einer Landesherrschaft vorgeschrieben, sondern es ist allezeit in der Ritterschaft eigenem Erkenntnis und Gutbefinden geblieben, wie hoch sie die Gerechtigkeit ihrer Bauern stellen, und was sie von denselben zu fordern convenabel 1) finden würden 2) .... Endlich was die Berechtigung der Ritterschaft, ihre Erbbauern mit Leibesstrafen zu belegen, betrifft: so ist ebenfalls notorisch, dass die Ritterschaft in den vorigen Zeiten das völlige jus vitae et necis 3) über ihre Erbbauern gehabt... . Demunerachtet hat die Ritterschaft nachmals aus freiem Willen sotanen ihres Rechtes und Halsgerichten über die.... Bauernschaft sich begeben 4), woneben aber die Hauszucht und Bestrafung derjenigen Fälle, die... . eine Leibesstrafe nach sich

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1) ratsam; 2) Das Recht der Gutsherrn, die Leistungen der Bauern nach ihrem Gutdünken zu bestimmen, wurde von der schwedischen Regierung eingeschränkt. Die hierhergehörenden Ausführungen Rosens sind geschichtliche Unwahrheiten. 3) Recht über Leben und Tod; 4) auf etwas verzichten.

 

Ebenfalls eine Geschichtslüge. Die schwedische Regierung nahm den Gutsherrn das erwähnte Recht.

 

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ziehen, jeder Herrschaft an ihren Untertanen und Bauern zu gebrauchen nicht aufgehoben. sondern vielmehr... .. bestätigt worden.... Ob nun wohl dieser Hauszucht keine eigentliche Schranken gesetzet. ... werden können, wie weit sich selbige erstrecke, sondern die Ermässigung der Herrschaft allein überlassen ist, sogar des Inhalts. dass... . keine Klagen der Bauernschaft über ihre Herrschaft wegen unerträglicher Strafe und Bedrückung von den Landgerichten angenommen werden sollen, so so wird dennoch ein jeder von der Ritterschaft dahin bedacht sein, dass die Moderation 1) nicht überschritten, noch die Bauernschaft unleidlich belästigt werde.“

 

Man hat sich bemüht, diese Deklaration als eine flüchtige wertlose Kanzleiarbeit hinzustellen, aber ohne Erfolg. Schon der Umstand, dass sie im Jahre 1774 (also nach den Bestimmungen von 1765!) auf eine Anfrage des Senats über die Grundlagen des Verhältnisses zwischen den Gutsherrn und Bauern abermals offiziell nach Petersburg geschickt wird, spricht dagegen. Eckardt hält die „Deklaration“ für den

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1) Mässigung.

 

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Ausdruck der in den damaligen Adelskreisen herrschenden Anschauungen“ („Anno 1765“; in „Balt. Prov. Russlands“, 2. Aufl).

 

Dass alles bis zum Ende des Jahrhunderts beim alten blieb, möge folgender Vorgang bestätigen. „Als auf dem Landtage von 1792 der Kreismarschall von Bayer ein „Projekt zur Verbesserung des Bauer-Zustandes“ durch nähere Bestimmung ihrer Ländereien und Leistungen einreichte, wurde dieses abgelehnt, mit der Motivierung, dass die schon bestehenden Bestimmungen betreffs der Bauerschulden, Magazine etc. gegenwärtig hinreichten, um Aufklärung und Wohlstand unter den Bauern zu befördern und ihren Zustand zu verbessern.“ (Transehe).

 

Nach all dem Angeführten ist es nicht zu verwundern, dass selbst Tobien zugeben muss, unter den Gutsherrn habe die Anschauung vorgeherrscht, „dass die Leibeigenschaft der Letten und Esten ein normaler Zustand sei“. Zum selben Schluss kommt Eckardt:, man hielt... die Leibeigenschaft der Letten und Esten für einen normalen Zustand, der bis an das Ende der Tage fortzubestehn die Bestimmung

 

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hatte“. . . „Die Aufrechterhaltung der Leibeigenschaft wurde mit der Bewahrung des überkommenen Rechts, der lutherischen Religion und der deutschen Sprache vollständig in eine Linie gesetzt und für einen Verräter angesehn, wer die Achtung vor diesen „Eigentümlichkeiten“ ausser Auge setzte oder an denselben rütteln wollte“. (Anno 1765).

 

Das Mass der Sorge um das Wohl der Bauern wurde ausschliesslich von den materiellen Interessen der Gutsherrn bestimmt. Der Bauer erschien dem Rittergutsbesitzer „in erster Linie immer noch als eine Sache, als nutzbringendes Kapital“. „Man veräusserte Leibeigene durchaus wie Mobilien, etwa wie Haustiere; der Preis richtete sich nach ihrer Brauchbarkeit“. (Transehe)

 

Fassen wir das Gesagte zusammen. Nach Ansicht der deutschen livländischen Gutsherrn des 18. Jahrhunderts können die Letten in Freiheit nicht leben, denn ihr Volkscharakter verdammt sie zu ewiger Leibeigenschaft; auch mit dem gerechtesten Herrn sind sie unzufrieden, denken aus „angeborenem Hass“ bloss an Ausrottung

 

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der ganzen Klasse der Gutsbesitzer und sind daher nur durch die strengste Behandlung in Gefügigkeit zu erhalten. Nehmen wir noch die Schilderung der tatsächlichen Verhältnisse durch den Grafen Browne hinzu, so werden wir wohl mit Recht behaupten dürfen, dass Merkels „Letten“ keinerlei Uebertreibungen, sondern eine getreue Schilderung der Wirklichkeit bieten, geschaut durch ein feuriges in seinen Tiefen über die Verhältnisse empörtes Temperament.

 

Werfen wir zum Schluss einen kurzen Blick auf Merkels Charakter. Vor allem muss betont werden, dass Merkel sich in hohem Grade durch Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit auszeichnete. Nur dafür trat er ein, was er für wahr und recht hielt, und dabei mit dem vollen Feuer seines leicht erregbaren Temperamentes. Rücksichten kannte Merkel keine: weder auf andere, noch auf sich selbst. Mochte ihm drohen, was da wollte, nie hielt er mit seiner Ueberzeugung zurück.

 

Daneben wies Merkel allerdings — was garnicht geleugnet werden soll — eine Reihe wenig liebenswerter Züge auf; er besass eine übertriebene Vorstellung von

 

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der Bedeutung seiner Persönlichkeit; er war recht eitel, empfindlich, allzu reizbar sowohl Widerspruch als auch Angriffen gegenüber, wurde leicht überaus heftig und konnte infolgedessen manchmal auch einseitig und ungerecht sein. All diese Eigenschaften sind als Folgen der Lebensumstände Merkels zu betrachten; unter andern Verhältnissen hätten sie sich bei ihm nicht so entwickelt. Ohne das Gymnasium, geschweige denn die Universität beendet zu haben, hatte es Merkel durch Selbststudium und eigene Kraft vermocht, zu der Stellung zu gelangen, die er im öffentlichen Leben jener Zeit, besonders nach dem Erscheinen der „Leiten“, einnahm. Vor allem ist aber zu bedenken, wie auf sein Temperament all die masslosen, von niedrigster Gesinnung zeugenden Angriffe und all die groben, dazwischen geradezu gemeinen Verleumdungen und Beschimpfungen wirken mussten, denen er sich infolge seiner literarischen Tätigkeit ausgesetzt sah; umsomehr, da er sich selbst der besten Absichten bewusst war und sich sogar in der stärksten Erregung niemals ähnliche Masslosigkeiten wie seine Gegner hat zu

 

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Schulden kommen lassen: nie ist Merkel niedrig oder gemein gewesen. Es ist verständlich, dass diejenigen negativen Charakterzüge, die wir bei Merkel finden, sich erst im Laufe der Zeit entwickeln konnten: zunächst waren sie nur in Ansätzen oder garnicht vorhanden. Merkels „Letten“, an denen er in den Jahren erster jugendlicher Begeisterung arbeitete, sind mithin zu einer Zeit der günstigsten Mischung der Einzelzüge von Merkels Wesen entstanden und darum auch sein Hauptwerk geblieben. Edle Menschenliebe beherrschte damals sein Gemüt; selbstloser Idealismus leitete ihn, und jugendliches Feuer durchdrang seine Adern.

 

 

IV.

Merkels „Letten“ und wir.

 

Der Zwiespalt, der zu Merkels Zeiten zwischen den Deutschbalten und dem lettischen Volk klaffte, ist auch jetzt noch nicht verschwunden, wo das lettische Volk sich sein eigenes nationales Staatswesen hat schaffen können. Noch immer spukt in den Köpfen der Deutschbalten das in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, im Zusammenhang mit dem national-kulturellen

 

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Erwachen der Esten und Letten geborene Schreckgespenst, als ob die Letten und Esten auf völlige Vernichtung des Deutschbaltentums ausgingen, wo es sich doch bloss um Kampf mit denjenigen deutschen Elementen handelte, die die politische und wirtschaftliche Macht im Lande in den Händen hielten und dem lettischen und estnischen Volk auf seiner Entwicklung hindernd im Wege stande. Noch immer hat das baltische Deutschtum auch die Herrenstellung nicht vergessen, die es Jahrhunderte lang eingenommen hat; ja es ist stolz darauf, denn es fühlt sich als Kulturträger, — und nun soll es sich in die bescheidene Rolle eines Minderheitenvolkes im Staatswesen eines andern Volkes finden? Es fehlt den baltischen Deutschen mit wenigen Ausnahmen an offenen Augen, nicht nur die Verhältnisse klar zu sehen, unter denen sie im neuen Lettland leben, sondern auch die eigene Geschichte so zu erkennen, wie sie wirklich gewesen ist; es fehlt ihnen aber auch an Mut, das, was sie bereits erkannt haben, offen zuzugestehen und daraus die nötigen Konsequenzen in ihrem gegenwärtigen politischen Handeln zuziehen.

 

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So ist denn vielmehr eine neue Parole ausgegeben worden, durch die alle derartigen peinlichen Erörterungen aus der Welt geschafft werden sollen, nämlich: das Gewesene aus dem Spiel zu lassen und bei der augenblicklich vor sich gehenden Schaffung neuer Lebensformen sich ausschliesslich von der neuen Lage leiten zu lassen, wie sie gegeben vorliegt. So schreibt z. B. die „Rigasche Rundschau“, das Organ der konservativen Mehrheit des lettländischen Deutschtums, im Leitartikel „Bürgersinn, II* (1924, Nº 46) folgendes: „Die Forderung unserer Zeit ist eine Befreiung vom Banne der Vergangenheit. Das bedeutet nicht nur, die gefühlsmässige Abhängigkeit von Vorstellungen vergangener Zeiten aufgeben, sondern auch schwer gerächte Verfehlungen alter Zeit vergessen und ein neues Haus auf neuem Grunde aufzubauen zu versuchen“.

 

Das alles klingt gewiss sehr schön; aber dennoch wäre zuvörderst zu fragen, ob die „Rundschau“ und die um sie sich gruppierenden Kreise die von ihnen aufgestellte Forderung auch selber zu erfüllen bereit sind. Dass die deutschbaltischen Emigranten,

 

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mit dem Adel an der Spitze eine Rückkehr der alten Verhältnisse ersehnen, wird wohl von niemand bestritten werden können. Das lettländische Deutschtum wiederum, soweit es den Verkünder seiner Ziele in der „Rigaschen Rundschau“ sieht, kann, wie bereits oben hingewiesen, nicht vergessen, dass es einst im Lande geherrscht hat, und hält die alte Fiktion aufrecht, es habe sich besondere Verdienste um die Entwicklung des lettischen Volkes erworben und werde nun dafür mit Undank gelohnt.

 

Daher die beweglichen Klagen der „Rundschau“ über einen „schablonenhaften und böswilligen Chauvinismus“ der Letten, der „eher in der Zunahme als im Abflauen“ begriffen sei und „jede allgemein staatliche Betätigung“ der lettländischen Deutschen „stupid“ abwehre, an welcher Klippe denn auch „die Entwicklung eines Vaterlandsgefühls der Balten“ (soll heissen Deutschbalten) „scheitern“ müsse (Bürgersinn, I, „Rigasche Rundschau“, 1924, Nr. 45). Daher auch die Ansprüche einer Minorität, die höchstens 3.5% der Gesamtbevölkerung ausmacht, auf das Recht schriftlichen und

 

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mündlichen Gebrauches ihrer Sprache „in den Zentralinstitutionen des Staates und in allen staatlichen und kommunalen Behörden in den Städten Lettlands mit Ausnahme Lettgallens“ (§ 24 des „Gesetzprojektes über die national-kulturelle Selbstverwaltung der deutschen Volksgemeinschaft und den Gebrauch der deutschen Sprache in Lettland“).

 

Ähnliche Töne werden auch im estländischen Deutschtum angeschlagen. In dem im „Revaler Boten“, 1923, Nr. 222 erschienenen Artikel „Der estländische Freistaat und die Deutschbalten“ wird ausgeführt, es gäbe „psychologische Momente“, die den estländischen Deutschen „die gefühlsmässige positive Einstellung zum estländischen Freistaat erschweren“, und wird die Ansicht ausgesprochen, diese Hemmungen seien durch „die Massnahmen der Gesetzgebung des estländischen Staates und seine Verwaltungsmassregeln geschaffen“. Nur die „Anerkennung und Durchführung der in der abendländischen Kulturwelt anerkannten Rechtsprinzipien“ werde diese Hemmungen beseitigen können.

 

Die Esten und die Letten sind also schuld daran, dass in den baltischen Deutschen

 

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sich den beiden neuen Staaten gegenüber kein „Vaterlandsgefühl“ entwickeln kann, und dass es ihnen an genügender „gefühlsmässiger positiver Einstellung“ zu ihnen mangelt. Sind doch die Esten und Letten „böswillige Chauvinisten“ und erkennen die westeuropäischen „Rechtsprinzipien“ nicht an.

 

Als in der zweiten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts in Livland Stimmen laut zu werden begannen, die die Aufhebung der Leibeigenschaft forderten, da wurde vom Adel erwidert: das gehe nicht an, denn die Letten seien nicht „reif zur Freiheit“ ; sie seien träge, verschwenderisch, diebisch, usw. usw.; der Charakter des Volkes bedinge die Leibeigenschaft. Damals fanden sich klare und ehrliche Köpfe, die nachzuweisen verstanden, dass all die negativen Eigenschaften der damaligen Esten und Letten bloss notwendige Folgen der geschichtlichen Vergangenheit der baltischen Lande und der durch sie bewirkten Leibeigenschaft waren; mit dem Aufhören der Ursache, d. h. der Leibeigenschaft, würden auch die durch sie bedingten Folgen, nämlich die üblen Züge im Volkscharakter, verschwinden.

 

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Die „Rigasche Rundschau“ und der „Revaler Bote“ dagegen nehmen sich im XX. Jahrhundert nicht die Mühe, zu untersuchen, ob das, was sie Chauvinismus und Mangel an Rechtsempfinden bei Esten und Letten nennen, nicht auch in der Vergangenheit wurzelnde vorübergehende Erscheinungen sind. Der „Revaler Bote“ vor allem sollte dies nicht versäumen, da er einerseits sorgsame „Berücksichtigung“ der von ihm beim estländischen Deutschtum festgestellten mangelnden „positiven gefühlsmässigen Einstellung“ zum Staat fordert und andererseits zu ihrer Erklärung und damit auch Entschuldigung zu Erörterungen — historischen Charakters zu greifen sich gezwungen sieht.

 

Die „Rundschau“ ist der Ansicht, man müsse unter die Vergangenheit einen dicken Strich ziehen. Leider befindet sie sich nur selbst, wie wir bereits gesehen haben, allzu sehr in „gefühlsmässiger Abhängigkeit von Vorstellungen vergangener Zeiten“ und erhebt infolgedessen Forderungen, auf die das Staatsvolk Lettlands im Interesse der Entwicklung des Staatsganzen nicht eingehen kann.

 

Eine vorurteilsfreie Auffassung von der

 

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eigenen Rolle in der Geschichte der einstigen Baltischen Provinzen Russlands tut dem baltischen Deutschtum not, um hinter das Wesen des „böswilligen Chauvinismus“ und angeblich mangelnden Rechtsgefühls der Esten und Letten zu kommen, den guten Willen dazu vorausgesetzt, und zu begreifen, dass es sich hier ebenfalls um „psychologische Hemmungen“ auf der andern Seite handelt, die aber durch völlig konkrete Erscheinungen, nämlich die Rolle des baltischen Deutschtums in der Vergangenheit und sein jetziges von den beiden Blättern charakterisiertes Verhalten zu den beiden Staaten, nicht aber durch künstlich erzeugte Schreckgespenster bedingt sind. Der „Revaler Bote“ bemerkt mit Recht: »„... ohne Verständnis ist eine Verständigung nicht denkbar“, fordert aber bloss von den Esten „Verständnis* für seine eigenen seelischen Gebilde, ohne sich selbst auch nur im geringsten um das Verständnis der Gefühle und Bestrebungen der Esten und Letten zu bemühen. Ohne ein solches „Verständnis“ wird das baltische Deutschtum aber nie zu der von ihm sogenannten „Verständigung“ mit den

 

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Esten und Letten kommen, und solch ein „Verständnis“ ist wiederum ohne unparteiische Vertiefung in die eigene Vergangenheit nicht möglich.

 

Kein Deutschbalte, der selbständigen Denkens fähig ist, sollte die kritischen Stimmen von deutscher Seite überhören, die die deutsch-baltische Geschichtsdarstellung der Unwissenschaftlichkeit und Parteilichkeit beschuldigen.

 

Der weitbekannte Leipziger Nationalökonom Prof. K. Bücher führt im Jahre 1910 in seiner „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft“, S. 762— 6, folgendes aus: bei der Benutzung deutsch-baltischer „Agrarschriften“ sei äusserste Vorsicht geboten, weil sie „beeinflusst“ wären, und „sei es auch nur von (den Verfassern selbst unbewussten) Standesvorurteilen und bisweilen gewiss auch von Standesinteressen“. Bücher lehnt es ab, die „Interessen der livländischen Ritterschaft“ mit denen des „baltischen Deutschtums“ zu indentifizieren, und fügt dem folgendes hinzu: „Zur Gesundung der agrarischen Zustände des Landes kann es nimmermehr führen, wenn die heutige Generation fortfährt, die Sünden der

 

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Väter zu verteidigen, anstatt sie mit ihrem richtigen Namen zu nennen, und, soweit das noch möglich ist, wieder gut zu machen.“ Bücher schliesst, indem er der Ueberzeugung Ausdruck gibt, dass das Bestreben „ritterschaftlicher Literaten in Livland“, für sich und ihre Freunde ein „Monopol der Wissenschaftlichkeit“ zu beanspruchen, in „der übrigen Welt“ nur ein „mitleidiges Lächeln“ erwecken könne.

 

Zugleich weist Bücher darauf hin, dass alle diejenigen, die eine unparteiische Auffassung der baltischen Agrarzustände in der Literatur vertraten, von jeher dem Schicksal der Verunglimpfung verfallen sind. Als Hauptmittel hat dabei die Behauptung gedient, die Anschauungen des betreffenden Verfassers seien „unwissenschaftlich“, er selber ein „Ignorant“, und in letzter Zeit komme noch die Verdächtigung seiner „nationalen Gesinnung“ hinzu.

 

Zur klaren Ueberzeugung des völligen Bankrottes der überlieferten Auffassung von der Geschichte der baltischen Lande, müsste einen jeden jedoch die Kenntnis des Ausganges der Studien C. Schirrens über den grossen Nordischen Krieg und über J. R. Patkul führen.

 

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In den 60-er Jahren des vergangenen Jahrhunderts war Schirren Professor der Geschichte in Dorpat. Als im Zusammenhang mit den „grossen Reformen“ in Russland im Reich heftige Angriffe auf die Sonderstellung der damaligen „Ostseeprovinzen“ erfolgten, da stand Schirren in der vordersten Reihe der Kämpfer für das Prinzip der Unantastbarkeit der alten „Privilegien“; ebenso energisch trat er auch den Liberalen im eigenen Lager entgegen, die u. a. weitere Bevölkerungskreise zur örtlichen Selbstverwaltung heranziehen wollten.

 

Im Jahre 1869 musste Schirren wegen seiner bekannten „Livländischen Antwort an Herrn Juri Samarin“ das Land verlassen und wurde Prof. der Geschichte an der Universität Kiel. Dieses Amt bekleidete er bis zu seinem im Jahre 1910 erfolgten Tode.

 

Schirren sah seine Lebensaufgabe in der Beschreibung des „Nordischen Krieges, seiner Entstehung und der Rolle, die Patkul dabei gespielt hat“. Er unternahm weite Archivreisen und hatte schliesslich 30,000 Abschriften von Originaldokumenten und 50,000 Auszüge aus ihnen gesammelt. Sein Werk sollte ein „Markstein in der historischen

 

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Literatur des Baltentums werden“; denn Patkul, der am Ende des XVII. Jahrhunderts für dieselben angeblich unantastbaren Privilegien gegen die schwedische Regierung auftrat, wie Schirren und seine Zeitgenossen in den 60-er Jahren des XIX. Jahrhunderts gegen Russland, galt diesen als „ein Nationalheld, geschmückt mit allen Tugenden und Gesinnungen, denen nachzueifern ihre höchste Pflicht war“; sein Zeitalter war ihnen das Ideal, an dem sie sich „aufrichten und mit frischem Mut für die schweren Kämpfe erfüllen sollten, in denen sie steckten, und die ihnen noch drohten“.

 

Und doch blieb dieses grosse Werk ungeschrieben, der „Markstein“ unaufgerichet! Warum? Antworten wir mit Schirrens eigenen Worten, die seinen Briefen an einen Freund in Riga entnommen sind. *)

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*) Den hier weiter folgenden Ausführungen liegt die Gedächtnisrede auf Schirren zu Grunde, die sein Nachfolger, Prof. Rachfahl, in der Kieler Universität am Jahrestage von Schirrens Tode gehalten hat, und die in erweiterter Form in dem Werk „Zur Geschichte des Nordischen Krieges“, Rezensionen von C. Schirren, als Einleitung gedruckt vorliegt.

 

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Schirren sagt: „Ich kann nicht schreiben, wie vor 30 und mehr Jahren. Seitdem sehe ich um 30 Jahre länger der Wahrheit ins Auge, die mir damals noch unter Schleiern lag. Auch hätte ich jetzt nicht mehr im Einklang, sondern im Widerstreit mit überkommenen Illusionen zu reden, die ihr hegt“. Schirren müsste den baltischen Deutschen „die Schleier von ihren erträumten Vorstellungen einer Vergangenheit, in der sie die Gewähr einer Zukunft suchten, wegziehen und unverhüllt sagen, was gesagt werden musste: es ist alles anders gewesen und geworden, als ihr geträumt...“ Auch Schirren sah zuletzt ein, dass die früheren Jahrhunderte für die Geschichte der Heimat (d. h. der baltischen Deutschen) mehr „Schuld als Ruhm“ (Schirrens eigene Worte) in sich schlossen.

 

Warum hat aber nun Schirren die Vergangenheit des baltischen Deutschtums nicht so dargestellt, wie sie ihm die Wissenschaft gezeigt hatte? Sieht doch Schirren die Aufgabe der Geschichte in der Zerstörung des Netzes von Illusionen, das uns die Vergangenheit in ihrer Wirklichkeit verhüllt. Aus der Geschichte soll die Menschheit

 

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lernen, wie sie wirklich gewesen ist; diese Selbsterkenntnis ist die erste Voraussetzung für ihre gedeihliche Weiterentwicklung.

 

Schirren fand, dass das baltische Deutschtum der historischen Wahrheit nicht ins Auge schauen wollte! Er schreibt: „Die ernsteste Heilkur wäre hier in historischer Einsicht zu finden: aber der blossen Gefahr einer Einsicht weicht das lebende Geschlecht virtuosenhaft aus.“ Bei „gross und klein“ hat sich „eine vollendete Uebung“ herausgebildet, jeder männlich ernsten Begegnung in Gedanken und Gefühlen aus dem Wege zu gehn.

 

Schirren selbst hat, vielleicht unbewusst, dieser Geistesströmung Tribut zahlen müssen. Er schreibt sein Werk nämlich auch deshalb nicht, weil er es nicht „über das Herz“ bringen kann, einer untergehenden oder mit dem Untergang ringenden Menschengemeinde ihr Ideal zu zerstören, um das sie kämpft. Er ist überzeugt, es würde „für die baltischen Deutschen ein allzu schwerer Schlag werden, wenn er ihnen diese Zeit (d. h. die Zeit Patkuls) in ihrer wahren Gestalt zeigen würde“.

 

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Ist dies nun nicht tatsächlich eine volle Bankrotterklärung der üblichen deutsch-baltischen Ortsgeschichtsschreibung, ausgesprochen von einem ihrer glänzendsten einstigen Vertreter ?

 

Merkels „Letten“ scheinen besonders geeignet, als Einführung in die innerpolitischen Fragen der einstigen Baltischen Provinzen Russlands zu dienen. Die endgültige Lösung dieser Fragen, die durch die Bildung der selbständigen Staaten Estland und Lettland erfolgt ist, wird auch heute von einem grossen Teil der baltischen Deutschen noch nicht in ihrer Notwendigkeit und Berechtigung erfasst. Bei Merkels „Letten“ handelt es sich um keine trockene wissenschaftliche Darstellung, sondern um ein packend geschriebenes und lebendurchglühtes Werk. Merkel gibt, wie wir bereits gesehen haben, zunächst eine wahrhafte Schilderung des lettischen Volkes unter dem Joch der Leibeigenschaft des XVII. Jahrhunderts. Aber Merkel erfasst ausserdem, wohl als erster, das ureigenste Wesen des Problems der baltischen Lande, das darin besteht, dass ein Stand, der deutsche Adel, zwei völkische Individualitäten,

 

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die Esten und Letten, in einen einzigen Stand, und zwar den der leibeigenen Bauern, zwängt, und ihnen dadurch die Möglichkeit der Entwicklung raubt. Die beiden örtlichen Faktoren, die bei der Lösung dieses Problems in Frage kommen, nämlich die beiden unterdrückten Völker, ausschliesslich aus leibeigenen Bauern bestehend, einerseits, und der grossgrundbesitzende Adel andererseits, werden von Merkel auf das treffendste geschildert. Insbesondere muss dies von dem Bilde gesagt werden, das er von den Anschauungen und Bestrebungen des Adels entwirft und in dem unschwer die Grundzüge der Gedankenwelt des grössten Teils des heutigen baltischen Deutschtums erkannt werden können; denn, wie bekannt, hat es der Adel im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts verstanden, alle Kreise des baltischen Deutschtums seinen Ideen und Zielen dienstbar zu machen.

 

Was das lettische Volk anlangt, so ist Merkel davon überzeugt, dass „der Lette“, wäre er nicht „mit Gewalt auf der untersten Stufe der Kultur niedergehalten“, sich bald „im Gebiete der höhern Künste, ja

 

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der Wissenschaft“ auszeichnen würde. Als die Deutschen ins Land kamen, standen die ortsansässigen Völker „gerade auf dem Grenzpunkte...., von dem aus sie den Weg zu höherer Kultur beschreiten konnten...“

 

Aber „ihr trauriges Los fiel anders“, sie sind „viele Jahrhunderte hindurch von Staffel zu Staffel bis an die Grenze des Tieres hinabgedrückt“ worden.

 

Nun jedoch sind die Letten laut Merkel, „gezeitigt“ zu der Art von Revolution, „da ein Stand gegen den andern mit dem Mordschwerte aufsteht“. Die Möglichkeit einer gewaltsamen Erhebung der Letten erfüllt Merkel mit Schrecken, denn „der Brand, der das Folterhaus verzehrt, verwandelt auch anstossende Hospitäler in Asche“. Daher wendet er sich an den Adel mit der Forderung, dem Geist und den Verhältnissen der Zeit Rechnung zu tragen und freiwillig auf seine Vorrechte zu verzichten: sonst würden sie ihm früh oder spät mit „Gewalt“ entrissen werden.

 

Wie verhält sich aber, nach Merkels Schilderung, der Adel einer solchen Aufforderung gegenüber? In immer neuen Variationen wird unermüdlich wiederholt:

 

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der Lette ist noch nicht reif zur Freiheit“; sein Nationalcharakter „macht die strengste Behandlung und Sklaverei notwendig“!

 

Es ist nicht ohne Interesse festzustellen, dass dieses Argument des Adels sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte zieht. Es wurde schon unter polnischer Herrschaft, dann 1601 Karl IX., damals noch Herzog von Südermannland, und 1681 Karl XI. gegenüber ausgespielt; dasselbe bekam 1765 Generalgouverneur Browne als Antwort auf die Reformvorschläge der Regierung zu hören; ähnliche Stimmen liessen sich vor der Bauernbefreiung 1819 vernehmen: der Bauer sei noch nicht fähig in Freiheit zu leben; bei der Einführung der Gemeindeselbstverwaltung im Jahre 1866 erklärten viele, diese Neuerung sei ein gefährliches Experiment, und sahen mit Sicherheit ihr völliges Misslingen voraus. Dieselben Kassandrarufe begleiteten einen jeden weitern Schritt der Esten und Letten zur Selbständigkeit, z. B. den Uebergang der ersten Stadtverwaltungsorgane in estnische und lettische Hände; sie ertönten während der Beratung der Projekte einer neuen Provinzialverfassung in den Jahren

 

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1906 und 1907, vor allem aber bei der Staatwerdung Estlands und Lettlands und sind in gewissen Kreisen selbst jetzt noch nicht verstummt.

 

Freilich konstatiert Merkel, „selbst der Adel“ leugne nicht, „dass die Verhältnisse der Letten sich einst verändern müssten“; die Adligen behaupteten sogar, selbst „den Letten soweit bilden zu wollen, dass er nicht mehr zu ihrem Sklaven tauge. Zwar bedauern sie, oder hoffen, dass dieser Zeitpunkt noch ferne sei... Ihre Kinder werden das wichtige Geschäft aus ihren Händen übernehmen und wieder ihren Nachkommen dieselbe Gelegenheit zum Wohltun lassen. Ewig will man an demselben arbeiten — in der süssen Hoffnung, dass es nie zustande kommen werde.“

 

Ist das nicht eine köstliche Schilderung des berühmten deutschbaltischen Prinzips der „historischen Kontinuität“, gemäss dem etwaige Reformen dem Geist des historisch Gewordenen Rechnung tragen müssen; ein radikaler Bruch mit der Vergangenheit birgt die furchtbarsten Gefahren in sich. In der Praxis kam dieses Prinzip derart zum Ausdruck, dass eine jede neue Massregel stets

 

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dergestalt formuliert wurde, dass die Machtstellung des Adels möglichst wenig Einbusse erlitt. Das 1907 unter dem Einfluss der russischen Revolution von 1905 ausgearbeitete Projekt einer neuen Provinzialverfassung z. B. macht sich garnicht so übel, sichert aber durchaus dem baltischen Deutschtum, speziell dem Adel, die entscheidende Stimme in den Landesangelegenheiten. Und als die Verhältnisse sich allmählich beruhigten, da wurde das Projekt einfach — vergessen, und alles blieb beim alten. Schon Merkel konstatiert: „Statt der Gefahr aus dem Wege zu gehen und sie durch Aufhebung ihrer Ursachen zu beschwören, strengt man sich nur an, sie so viel als möglich aufzuschieben oder durch List und Gewalt zu vernichten.“

 

Die „Gewalt“, die trotz allem die Adelsherrschaft in den einstigen Baltischen Provinzen stützte, war — die zarische russische Regierung. Merkel findet: „die russischen Bajonette allein stützten bis jetzt den deutschen Despotismus in Livland“. Ungeachtet aller gegenseitiger Missverständnisse haben sich die reaktionäre russische Regierung und der ebenso reaktionäre baltische Adel zu

 

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allen Zeiten zuguterletzt immer noch verstanden. 1905 unterdrückten russische Truppen die gegen die Vorherrschaft des Adels gerichtete revolutionäre Bewegung in den Baltischen Provinzen; am 28. Mai 1914 erklärt wiederum Baron Foelkersam, der Abgeordnete Kurlands, in der russischen Reichsduma, dass von den zwei „Wellen“, die das baltische Deutschtum bedrohen, nämlich der „Welle der gewaltsamen Russifikation von oben unter dem alten Regime“ und der von unten kommenden „lettischen Welle“, diese letzte die gefährlichere sei; die baltischen Deutschen seien „überzeugte Monarchisten“ und verträten das Prinzip „der Unteilbarkeit und Einheit Russlands“.

 

Merkels Schilderung der Folgen eines möglichen Aufstandes der Letten mutet wie eine prophetische Vision der Jahre 1905 und 1906 an (man vergl. S. 232 f. unserer Ausgabe). Und wenn ein solcher Aufstand endlich unterdrückt wäre, so würde sich der Adel dennoch gezwungen sehen, „alles das zuzugestehen, dessen Verweigerung die Ungewitter zusammenzog“. Daher wendet sich auch Merkel an den Adel mit folgenden Worten: „Gewähren Sie freiwillig, was man

 

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Ihnen einst ohne Schonung entreissen wird; gewähren Sie es ungefordert, und man wird es mit Dank als ein Geschenk empfangen“.

 

Gefahren drohen den Vorrechten des Adels nicht nur von seiten der „Unterdrückten“, sondern ebenso von seiten der „gesetzgebenden Macht“, d. h. der russischen Regierung; und so könnte es passieren, dass dem Adel die Vorrechte „auf einmal und ganz“ — entrissen würden, was „den Ruin eines grossen Teiles des Adels“ bedeuten könnte; „der einzige übrige Weg grossen Einbussen vorzubeugen“, sei daher, sich freiwillig „kleine aufzulegen“.

 

Wird der Adel aber diesen Weg gehen? Merkel zweifelt daran, denn kann man „dem Wolf die Unschuld des Lammes“ predigen, das er „zwischen den Zähnen hat“? „In der Hoffnung, dass der unausbleibliche Sturm erst die Nachkommenschaft treffen werde, will der Adel keine Fussbreite von dem mit so schreiender Ungerechtigkeit eingenommenen Posten zurückweichen“. Der Adel „hat zu viel — Weisheit, oder kaltes Blut, oder was man will, um vor den wirklichsten Uebeln zu erschrecken, solange sie nur noch nicht da sind“.

 

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Soll man auf die russische Regierung hoffen? „Wird aber die Stimme der weinenden Menschheit des Monarchen Ohr erreichen ?“ fragt Merkel zweifelnd und wendet sich schliesslich als echter Sohn des Zeitalters der Vernunft an die „Edleren aus jedem Volke“; sie, die „wahre Menschheit“, müssen zusammen mit ihm ihre Stimme für die beiden unterdrückten Völker erheben; denn trotz allem hofft Merkel im Innersten, eine gewaltsame Lösung der Frage würde vermieden werden können. —

 

Das Bild, das Merkel in den „Letten“ vom baltischen Adel entwirft, und die Erwartungen, die er in bezug auf die weitere Entwicklung der Baltischen Provinzen hegt, hat die Zukunft völlig bestätigt. Grundprinzip des deutschbaltischen Adels und später des gesamten Deutschbaltentums war starres, kurzsichtiges Festhalten an den Privilegien, die einem die herrschende Stellung im Lande gewährleisteten. Deutsche liberale Stimmen wurden immer wieder mit allen Mitteln zum Schweigen gebracht. Reformen erfolgten infolge Druckes von oben oder von unten; selbst die Bedürfnisse der wirtschaftlichen Entwicklung des Landes wie

 

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insbesondere die Lösung der Agrarfrage bedingten und bestimmten, kamen dem baltischen Adel fast immer erst dann zum Bewusstsein, wenn sie sich entweder in drohendem Eingreifen von seiten der Regierung oder in Bauernunruhen äusserten. Politischen Weitblick, der das historisch Notwendige voraussieht und ihm entgegenkommt, sucht man in der Geschichte des Deutschbaltentums vergeblich.

 

Am Anfang des XVIII._Jahrhunderts kamen Liv- und Estland an Russland. Der deutsch-baltische Adel benutzte die Gelegenheit sofort, alle Massregeln der frühern schwedischen Regierung, speziell den Bauernschutz, zunichte zu machen. Die Beschlüsse des Landtags von 1765 zum Besten der Bauern kamen unter dem äussersten Druck der Regierung zustande (vergl. oben); eingehalten wurden sie jedoch nicht, und die Lage der Bauern gestaltete sich so, wie sie Merkel schildert. Die Bauern fingen an unruhig zu werden: man hatte das Gefühl, auf einem „Vulkan“ zu leben (Diederichs); weiterhin machten sich die Folgen der auf der Leibeigenschaft aufgebauten, extensiv betriebenen Landwirtschaft bemerkbar: sowohl

 

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das Land, als auch die Leibeigenen waren erschöpft, die Ertragfähigkeit der Güter sank und ihr Preis fiel; schliesslich hatten nicht nur unter der deutschen Bürgerschaft der Städte, die damals dem Adel überaus feindselig gegenüberstand, sondern selbst unter dem Adel die Ideen der Philosophie des XVIII. Jahrhunderts viele Anhänger erworben, und zuguterletzt — griff von neuem die russische Regierung ein.

 

So kam es in Livland auf dem Landtage von 1803 zur Annahme einer Bauernverordnung, die im folgenden Jahr Gesetzeskraft erlangte. Sogar Tobien muss zugeben (B. 1, S. 184), dass die „allendliche Frucht der Landtagsverhandlungen“ — „unter dem Einfluss Alexanders I. gezeitigt“ wurde und dass bloss die „Minorität der Versammelten“ — „den bauernfreundlichen Absichten des Monarchen willig Gefolgschaft leistete“. Dem Bauer wurde die erbliche Nutzniessung seines Hofes gesichert; seine Abgaben und Leistungen wurden entsprechend der Ertragsfähigkeit des Landes ein für allemal festgesetzt und konnten nicht geändert werden. Verkauf von Bauern ohne Land wurde untersagt.

 

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In den Jahren 1816—1819 erfolgte in allen dreien der Baltischen Provinzen die Durchführung der sog. Bauernbefreiung: die bisher leibeigenen Bauern erhielten die persönliche Freiheit, gingen aber dafür aller Ansprüche und Rechte auf das bisher von ihnen genutzte Land verlustig, das in den unbeschränkten Besitz der betreffenden Gutsbesitzer überging, die über dasselbe infolgedessen frei verfügen, also zum Gutslande schlagen als auch, ganz gleich an wen, verpachten oder verkaufen konnten. In Livland musste dazu erst das obenerwähnte Gesetz von 1804 aufgehoben werden. Das war die „Vogelfreiheit“ der Bauern, und die „endgültige Eroberung des Landes,“ wie damals selbst in Adelskreisen gewitzelt wurde.

 

Die Idee einer landlosen Befreiung der Bauern tauchte in Estland im Zusammenhang mit der Forderung der Regierung auf, die Lage der Bauern auf Grundlage der livländischen Bauernverordnung von 1804 zu regeln. Axel von Gernet schreibt in seinem Werk „Geschichte und System des bäuerlichen Agrarrechts in Estland,“ Reval, 1901, folgendes: es wurde „der Antrag gestellt,

 

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dass falls das Eigentum der Gutsbesitzer an Ländereien in Gefahr käme,... ein Plan zur Aufhebung der Leibeigenschaft entworfen werden möchte“ (S. 141, 142).

 

Die Bauernbefreiung in Estland wurde 1816 durchgeführt; darauf 1817 in Kurland; diese unter so starkem Druck von seiten der Regierung, das laut Tobien (B. I, S. 333) „tatsächlich von einem freien Beschluss kaum die Rede sein konnte“. 1818 erklärt sich der livländische Adel bereit, die Bauernbefreiung zu beschliessen, jedoch nur unter bestimmten Bedingungen, von denen die wesentlichste die war, dass das gesamte Land in den unbeschränkten Besitz der Grossgrundbesitzer übergehen, die Bauernverordnung von 1804 also aufgehoben werden sollte. Hier sind daher die Schuldigen an der unglückseligen landlosen Befreiung der Bauern zu suchen, nicht etwa in den Kreisen der Regierung. Die auf der Leibeigenschaft aufgebaute Wirtschaftsform des XVIII. Jahrhunderts war gewiss veraltet; auch die Verordnungen von 1804 entsprachen nicht den neuen Verhältnissen; aber es ist falsch zu behaupten, wie es oft geschieht dass

 

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ein rationeller Betrieb der Landwirtschaft damals das volle Verfügungsrecht der Gutsbesitzer auch über die Bauernländereien verlangt hätte: war es doch vierzig Jahre hernach möglich, das Verfügungsrecht der Gutsbesitzer über das Bauernland von neuem wesentlich einzuschränken. Es gab eine Reihe weitsichtiger Gutsbesitzer, die ausdrücklich auf die schädlichen Folgen einer landlosen Bauernbefreiung hinwiesen ; aber man „hörete sie nicht“: gar zu verlockend war die Möglichkeit einer „endgültigen Eroberung des Landes“.

 

Die verderblichen Folgen der landlosen Bauernbefreiung zeigten sich bald. Tobien spricht sich hierüber folgendermassen aus: der livländische Bauer war zwar „nicht mehr erbuntertänig, daher persönlich frei, und privatrechtlich stand er dem Gutsherrn gleich; aber sein schlechtes Besitzrecht machte ihn wirtschaftlich unfrei und die gutsherrliche Polizeigewalt, von der er abhängig blieb, schränkte seine politisch-staatsrechtliche Freiheit erheblich ein... Der schwierigere Teil der Problems war... noch zu lösen “ (Bd. I. S. 437).

 

Der Betrieb der Landwirtschaft war nach

 

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der Bauernbefreiung wieder in eine Raubwirtschaft, wie sie zu Ende des XVIll. Jahrhunderts bestand, ausgeartet: eine rationelle intensive Bodenausnutzung war aufs äusserste erschwert; die Bauern befanden sich in unruhiger Bewegung, und schliesslich liess auch die russische Regierung ihre Macht fühlen. Infolge dieser Umstände kam es in den 50-er und 60-er Jahren in allen dreien Baltischen Provinzen zu einer Revision der Bauernbefreiung, laut der nach vielem Auf und Nieder die Rechte der Gutsbesitzer über das frühere, in bäuerlicher Nutzung gewesene Land von neuem eingeschränkt wurden: dieses „Bauernland“ konnte nur Bauern in Höfen von bestimmter Grösse verpachtet oder verkauft werden. Schliesslich erhielten die Bauerngemeinden eine Selbstverwaltung, die diesen Namen wirklich verdiente. All diese Massregeln wurden unter beständigem Druck von seiten der russischen Regierung durchgeführt. Selbst Tobien sieht sich gezwungen, hier von einem „unzweifelhaften Verdienst der Regierung“ zu sprechen.

 

Die 60-er Jahre des XIX. Jahrhunderts waren ein entscheidende Zeit für das baltische

 

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Deutschtum. Der Agrarreform, die bereits in den 40-er Jahren dringend geworden war, widerstrebte der Adel, wie es sogar Tobien im Il. Bande seines Werkes zugeben muss, nicht aus Gründen wirtschaftlichen Charakters, sondern aus dem Bestreben, seine Machtstellung im sozialen und politischen Leben zu wahren. Diese war aber auch sonstigen Angriffen ausgesetzt. Seit dem Regierungsantritt Alexanders II. gab die russische Regierung un- missverständlich die Absicht kund, die damals in Russland geplanten und später auch wirklich durchgeführten „grossen Reformen“ ebenfalls auf die Baltischen Provinzen auszudehnen. Neben der schon erwähnten Reform der bäuerlichen Verhältnisse handelte es sich um gänzliche Umgestaltung des völlig veralteten Gerichtswesens und um den Ausbau sowohl der städtischen als auch provinziellen Selbstverwaltung durch Heranziehung zu ihr weiterer Kreise der Bevölkerung. Die Durchführung dieser Reformen hätte allerdings der Vorherrschaft des deutschen Adels in den Baltischen Provinzen einen schweren Schlag versetzt. Die Gefahr für

 

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den Adel war um so grösser, als damals, breiter vielleicht als je, die Kluft zwischen deutschbaltischem Adel und Bürgertum klaffte „Stadt und Land“ standen sich „ebenso fremd und indifferent“ gegenüber, „wie vor 150 Jahren“ (Julius Eckardts Worte im Jahre 1861). So fand sich denn auch unter dem damaligen Deutschtum eine bedeutende Gruppe liberal gesinnter Männer aus allen Kreisen, die mutig für die Reformierung der Verhältnisse im Lande eintraten.

 

Die Lage des kurzsichtig an seinen Privilegien festhaltenden Adels war überaus gefährlich, aber die Verhältnisse selbst kamen ihm zu Hilfe. Nach dem polnischen Aufstande im Jahre 1863 griff in Russland immer mehr eine reaktionäre und zugleich nationalistische und russifikatorische Strömung um sich, während die orthodoxe Kirche schon früher begonnen hatte, durch allerlei Mittel die unbefriedigenden Verhältnisse in den Baltischen Provinzen auszunutzen, um die Landbevölkerung dem Schoss der Rechtgläubigkeit einzuverleiben. So kam es denn dazu, dass das durchaus berechtigte Bestreben

 

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der russischen Regierung, die Baltischen Provinzen enger an das übrige Reich zu gliedern, zur Russifikationspolitik ausartete. Schliesslich erwachten die Esten und Letten zu neuem nationalkulturellem Leben; sie erstrebten wirtschaftliche und politische Verhältnisse, die ihnen den Anschluss an die westeuropäische Kulturwelt ohne Verlust ihrer Nationalität ermöglichen könnten. Aber auch dieses war bei einer Fortdauer der alten Adelsherrschaft undenkbar.

 

In dieser äusserst bedrohlichen Situation verstand es der Adel mit Hilfe seiner Ideologen, das gesamte baltische Deutschtum zur Ueberzeugung zu bringen, dass ihm Vernichtung der Grundlagen seiner nationalen Existenz und völlige Ausrottung drohe, und dass der einzige Weg zur Rettung — einmütiger Zusammenschluss aller und Aufrechterhaltung der alten „Landesprivilegien“ sei. Immer mehr drang die Anschauung durch, dass „die Erhaltung des Adels in seinem wirtschaftlichen Uebergewicht gleichbedeutend sei mit der Erhaltung deutsch-protestantischer Lebensformen“ (Tobien). Und so geschah es, dass das gesamte baltische Deutschtum immer fester

 

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zu einer einheitlichen politisch reaktionären und vom Adel bloss in seinem eigenen Interesse geleiteten nationalen Gruppe zusammenwuchs, die alle andersdenkenden Elemente aus ihrer Mitte ausstiess.

 

All das, was Merkel seinerzeit von den Anschauungen und Bestrebungen des baltischen Adels gesagt hatte, kann von diesem Moment an vom baltischen Deutschtum in seiner Gesamtheit gelten; mehr noch, das Schlimmste, was Merkel voraussah, war eingetroffen: man hatte sich endgültig für den Standpunkt der Unversöhnlichkeit entschieden; „sint ut sunt aut non sint!“ lautete der Wahlspruch, d. h. „sein, wie man ist, oder nicht sein!“

 

Verblendet und starrsinnig verteidigte man das überlebte Alte und wich nur der Gewalt. 1877 wurde in den baltischen Städten die veraltete Ratsverfassung durch die neue russische Städteordnung ersetzt; in den Jahren 1888 und 1889 erfolgte die Reform des gänzlich unhaltbar gewordenen Polizei- und Gerichtswesens — alles durch unmittelbare Massnahmen der russischen Regierung. Die Resultate der Bemühungen

 

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einer kleinen Gruppe unter dem Adel Ende der 70-er Jahre, die provinzielle Selbstverwaltung im Sinne der Heranziehung zu ihr auch lettischer Elemente umzugestalten, führten zu nichts, denn die von den Landtagen zuguterletzt ausgearbeiteten Projekte waren die reinen Karrikaturen auf die oben charakterisierten Bestrebungen. Hier griff die russische Regierung nicht ein, denn ihr kam es ja garnicht auf eine wirkliche Demokratisierung der Verhältnisse in den Baltischen Provinzen an. Sie spielte bloss wechselweise die Letten und die Esten gegen die Deutschen aus, um beide zu schwächen und schliesslich dann allein über das inzwischen russifizierte Land zu herrschen. Und je stärker die freiheitlichen Bestrebungen der Esten und Letten wurden, desto mehr näherte sich die russische Regierung dem reaktionären deutsch- baltischen Adel und dessen blindem Werkzeug, dem übrigen Deutschtum.

 

Die revolutionäre Bewegung des Jahres 1905 schien Merkels Prophezeiungen zu bewahrheiten, man würde alles verlieren, wenn man nicht zur rechten Zeit nachgäbe; es entstand unter dem baltischen Deutschtum

 

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wieder einmal eine starke liberale Strömung; die Landtage arbeiteten u.a. eine neue „Provinzialverfassung“ aus; aber als die revolutionäre Bewegung, ohne etwas Bleibendes erreicht zu haben, unterdrückt wurde und erstarb, da verschwanden mit der einstmals drohenden Gefahr alle Reformprojekte, da erlosch — wiederum einmal — die liberale Strömung, und im Jahre 1914 hielt man von den beiden drohenden Wellen, der russischen und der lettischen, diese letztere für die gefährlichere.

 

1914 kam der Weltkrieg und brachte in seinem Verlauf die Okkupation der Baltischen Provinzen durch Deutschland. Nun schien endlich die Politik des Ausharrens, die das baltische Deutschtum seit mehr als einem halben Jahrhundert befolgt hatte, in ihrer Berechtigung erwiesen zu sein, und mit brutaler Offenheit und Rücksichtslosigkeit wurde an die Verwirklichung der letzten Ziele dieses Ausharrens geschritten; es waren dies: einerseits politischer Anschluss auf ewige Zeiten an Deutschland und andererseits Vernichtung der Landeseinwohner, der Völker der Esten und Letten, durch systematische Kolonisierung

 

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eines bestimmten Teiles der im adligen Besitz befindlichen Güter mit deutschen Bauern und durch Verbot des Unterrichts in der Muttersprache in allen Lehranstalten, ausser der Volksschule, für estnische und lettische Kinder.

 

Und gerade in diesem Moment, wo die Führer des baltischen Deutschtums und mit ihnen die weitesten Massen, den Sieg feiern zu können glaubten, geschah unerwartet das von Merkel Vorausgeahnte: man hatte nicht verstanden, rechtzeitig die historisch notwendigen Konzessionen zu machen, im Gegenteil, man war den entsprechenden Forderungen unversöhnlich entgegengetreten und musste nun erleben, wie über einen plötzlich die Katastrophe hereinbrach, die einem alles nahm.

 

Mit den Waffen in der Hand trat der Adel mit seinem Anhang und ein Teil des von ihm irregeleiteten übrigen lettländischen Deutschtums dem lettischen Volk gegenüber, als dieses im unabhängigen Lettland sich den für sein weiteres Wachstum notwendigen politischen Organismus schaffen wollte, suchte vom Alten zu retten, was noch gerettet werden konnte, und verlor alles.

 

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Nicht verschwiegen darf jedoch hierbei werden, dass ein kleiner Teil des liberalen Deutschtums, vereinigt in der „Fortschrittlichen Partei“, dem lettländischen Volksrat sogleich nach der Proklamierung der Lettländischen Republik beigetreten war und solidarisch mit ihm gegen das frevelhafte Spiel der adligen politischen Glücksritter und deren Mitläufer Front machte,

 

In eklatanter Weise kam die unmissverständliche Stellungnahme jener Deutschbalten, die in der demokratjschen Lettländischen Republik das Heil auch für ein freies deutsches Bürgertum erblickten, durch das kühne Auftreten des Leaders der deutschen fortschrittlichen Fraktion Wilhelm Schreiner in der denkwürdigen Volksratssitzung vom 12. Mai 1919 in Libau zum Ausdruck. Denn hier erklärten die progressiven Deutschbalten vor aller Öffentlichkeit, treu zum Volksrat zu halten, die von ihm eingesetzte Regierung als allein zu Recht bestehend anzuerkennen und zu unterstützen, zugleich die staatsfeindlichen Machinationen und den Putsch der unversöhnlichen Adelskreise vom 16. April auf das schärfste verurteilend.

 

Leider hat auch die Fortschrittliche Partei

 

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diese seinerzeit mit Begeisterung eingeschlagene Richtung infolge Änderung ihres Bestandes und unter dem Druck der wiedererstarkten deutschbaltischen reaktionären Kliquen verleugnet, vor den zusammengeschlossenen altkonservativen deutschbaltischen Parteien kapituliert und sich ihnen untergeordnet.

 

Vor dem lettländischen Deutschtum, die „Unversöhnlichen“, soweit sie nicht emigriert sind, ausgenommen, steht nun die Frage, ob es die alten Wege weitergehn und auch an sich Merkels Voraussagungen erleben, oder aber neue Wege einschlagen will. Historische Einsicht hilft am besten diese Frage entscheiden, und eine vorzügliche „Einsicht“ in die Grundprobleme der Entwicklung unseres Landes geben gerade Merkels „Letten“.

 

Liberale den Forderungen der Zeit Rechnung tragende Bestrebungen hat es, wie wir sahen, im baltischen Deutschtum in wichtigen Momenten seiner Geschichte immer gegeben; aber andererseits sind diese Bestrebungen auch immer wieder resultatlos geblieben und verraucht.

 

Aber der demokratische Gedanke ist

 

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im lettländischen Deutschtum trotzdem nicht tot, er lebt wieder in der neugegründeten deutschen „Arbeitspartei“ auf, die nun das Vermächtnis aller frühern ehrlichen und unerschrockenen deutschbaltischen Kämpfer für den Fortschritt von Merkel an antritt.

 

In der Presse finden die entsprechenden Bestrebungen ihren Ausdruck in der Tageszeitung „Rigasche Nachrichten“. Das Ziel der Anhänger dieser Bestrebungen ist, durch richtiges Erfassen der Vergangenheit zum Verständnis der historischen Notwendigkeit der augenblicklich bestehenden politischen Lage zu kommen und, fest auf die national-kulturellen Rechte der völkischen Minderheiten bestehend, zu wirklichen lettländischen Staatsbürgern deutscher Zunge zu werden. Sowohl im Interesse unseres Staates als auch der lebensfähigen Schichten unseres Deutschtums sei der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass diese neue liberale deutsche Strömung nicht dasselbe Schicksal ereilen möge, wie die früheren.

 

Mein Vaterland!“ ruft Merkel aus, „mein Vaterland! Dir werden glücklichere Tage erscheinen; aber fürchterliche Stürme

 

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werden ihre Vorgänger sein!“ Aus richtiger Bewertung der das Schicksal der Baltischen Provinzen bestimmenden Kräfte heraus konnte Merkel das Endresultat ihres gegenseitigen Zusammenstosses in seinen Grundzügen voraussehen. Merkel hält die Esten und Letten für Völker, die einer kulturellen Entwicklung fähig sind; „wenn sie ihrem eigenen Gange wären überlassen“ gewesen, so „hätten sie vielleicht unter den Bewohnern Europens geglänzt, hätten schon ihre Herder, ihre Wielande etc. gehabt und spielten eine wichtige Rolle im Reiche der Politik .. .“

 

Nun besteht das unabhängige Lettland schon das 6. Jahr. Hat das lettische Volk in dieser Zeit die gute Meinung gerechtfertigt, die von ihm Merkel im Obigen zum Ausdruck bringt? Zur Beantwortung dieser Frage bringen wir im nächsten Kapitel einen vom bekannten lettischen Journalisten Redakteur A. Bihlmann verfassten Artikel „Zum 5-jährigen Bestehen Leitlands“ zum Abdruck.

 

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V. Zum fünfjährigen Bestehen Lettlands.

 

Internationale Stellung Lettlands. Der 18. November 1918 war der Tag, der den drei lettländischen Provinzen Befreiung vom Joch der Fremdherrschaft brachte, und zugleich der Tag, an dem sich diese zur nationalen lettländischen Republik vereinten (vergl. die drei Sterne im Staatswappen). Diese so gebildete Republik umfasst ein Territorium von 65.791 qkm. Zu gleicher Zeit mit Lettland gewinnen auch die andern Baltischen Staaten nach harten und langwierigen Kämpfen ihre Unabhängigkeit.

 

Zum endgültigen Friedensschluss mit Deutschland kommt es erst nach dem Zusammenbruch der Bermont-Affäre am 15. Juli, mit Russland am 11. August 1920. Es bedarf der Erwähnung, dass an den Kämpfen um die Befreiung Lettlands auch Esten und Polen teilgenommen und dass auch die Deutschbalten dazu beigetragen haben, die Bolschewisten aus dem Lande zu vertreiben.

 

Die endgültige Festlegung der gemeinsamen Grenze mit Litauen (487 km) erfolgte im Jahre 1921, mit Russland (269 km)

 

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im Frühjahr 1923. Die Grenze mit Estland (347 km) wurde auf Grund des Revaler Vertrages im November 1923 festgelegt. Die Seegrenze beträgt 496 km.

 

Die internationale Lage des Landes ist endgültig geordnet, und Lettland ist beinahe schon von allen Staaten der Welt anerkannt, u. a. auch von den Vereinigten Staaten von Nord-Amerika. Lettland gehört auch dem Völkerbunde an. Alle Grossmächte und andere Staaten, mit welchen Lettland diplomatische Beziehungen unterhält, haben in Riga ihre diplomatischen Vertreter (Gesandten, Generalkonsuln und Konsuln), und ebenso unterhält die lettische Republik ihre Vertretungen im Auslande. Es sind Handelsverträge mit England, der Tschecho-Slowakei, Ungarn, Estland und Holland abgeschlossen worden. Verhandlungen finden statt mit Frankreich, Amerika, Finnland, Polen, den Nordischen Staaten, Deutschland, Österreich u. a.

 

Lettland ist dem Haager Internationalen Schiedsgerichtshof, der internationalen Post-Konvention u. a. internationalen Abkommen beigetreten. Aussenpolitisch arbeitet Lettland auf einen Bund der Baltischen Staaten

 

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hin. Von den zu diesem Zweck bereits abgehaltenen 15 Konferenzen hat die letzte in Reval greifbare Resultate in Gestalt mehrerer Verträge mit Estland gezeitigt. Beachtung verdient auch die Konferenz in Warschau im März 1922, deren Ergebnis der „Accord politique* zwischen Polen, Lettland, Estland und Finnland war, ein Abkommen, das von allen Baltischen Staaten, mit Ausnahme Finnlands, ratifiziert worden ist. Die baltische Staatenpolitik wird von Lettland unablässig verfolgt; auch zu Russland werden Beziehungen unterhalten, die sich ständig bessern.

 

Kultur. Seit Jahren schenkt Lettland den Beziehungen zu den europäischen Staaten grösste Beachtung, denn es liegt ihm, ungeachtet seiner alten und reichen Volkskultur (es gibt ca. 200.000 Volkslieder in lettischer Sprache — einer Sprache, die dem Sanskrit am nächsten steht) nichts ferner, als sich westeuropäischen Einflüssen zu verschliessen.

 

Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Russisch werden zum Teil sogar in besonderen Sprachinstituten mit grossem Eifer gepflegt. Mit grösstem Interesse verfolgt

 

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man die Fortschritte westeuropäischer Wissenschaft; die Universität Riga unterhält rege Beziehungen zu den Hochschulen des Auslandes, welche insbesondere durch Austausch von Lehrkräften gefördert werden. Riga hat deutsche (z. B. das Herderinstitut), jüdische und russische Volksuniversitäten, Konservatorien, eine Oper, Theater, Bibliotheken und Museen. Rüstig schreitet, geleitet von Sachverständigen der Rigaer Universität, die archäologische Erforschung des Landes fort, wobei besonders die sogenannten „Burgberge“ Quellen reicher Ausbeute werden. Vereinzelt sind sogar römische Münzenfunde gemacht worden (s. die wissenschaftlichen Editionen der Universität Riga und die Monatsschrift des Ministeriums für Volksbildung).

 

Staatlicher Aufbau und Armee. Der staatliche Aufbau hat, dank der grossen Anzahl akademisch gebildeter Kräfte, über die Lettland verfügt (91½% aller Einwohner sind des Lesens und Schreibens kundig, auf 100.000 Einwohner entfallen 387 Studierende) erfreuliche Resultate gezeitigt. In verhältnismässig kurzer Zeit wurde die nötige Beamtenschaft und eine

 

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straff organisierte und physisch leistungsfähige, wie auch technisch gut ausgerüstete Armee aufgestellt (Durchschnittslänge der Rekruten 71,8 cm.). Die Führung der Armee liegt in den Händen bewährter Generalstabsoffiziere und Absolventen der Rigaer Offiziersschule, die ihre weitere Ausbildung in Frankreich genossen haben. Auch zahlreiche Jugend- und sportliche Vereinigungen und die Organisationen der Boy-scouts (nach englischem Muster) sind über das ganze Land verstreut.

 

Saeima. Das lettländische Parlament (Saeimai, bestehend aus 100 Deputierten, trat erstmalig am 7. November 1922 in Riga zusammen und wählte den bekannten Rechtsanwalt Tschakste, den früheren Vertreter Lettlands in der russischen Reichsduma, zum Staatspräsidenten für die nächsten 3 Jahre. Das lettländische Parlament besteht aus 62 Vertretern der bürgerlichen Parteien (17 Abgeordneten des Bauernbundes, 22 — des demokratischen Zentrums, 15 Vertretern der Minoritäten, 4 Parteilosen und 4 Abgeordneten der christlich-nationalen Partei) und 38 Abgeordneten der sozialdemokratischen Partei (von denen 7 Abgeordnete

 

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zu den gemässigten Sozialdemokraten gehören).

 

Ein Oberhaus ist nicht vorgesehen; seine Stelle vertreten Ausschüsse bei den einzelnen Ressorts, so der Rat der Bank von Lettland, der Wirtschaftsrat beim Ministerium für Landwirtschaft, die Ausschüsse für Kunst, Technik u. a.

 

Professionale Organisationen. Die Interessen der Bürgerschaft werden durch zahlreiche gesetzlich sanktionierte Verbände gewahrt: Kaufmännische Vereinigungen, Handelskammern,Gilden und Börsen, Fabrikantenvereine, Zünfte u. s. w. Auch die sogenannten Kooperative erstrecken ihre weitverzweigten Fäden über das ganze Land; es seien genannt: die Genossenschaft „Konsums“, der Zentralverband der Landwirte, die Ökonomische Vereinigung der Landwirte, zahlreiche genossenschaftliche Molkereien, Imker-, Vieh- und Saatzüchter-Verbände.

 

Kommunale Behörden und Gerichtswesen. Den Städten und dem flachen Lande wird weitgehendstes Selbstbestimmungsrecht gewährt. Die Lettländische Verfassung ist das Werk der Konstituante, welche sich in ihrer gesetzgebenden Tätigkeit

 

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von den Gesichtspunkten eines demokratischen Parlamentarismus leiten liess. Das Ministerkabinett trägt die Verantwortung vor dem Parlament; nur der Staatskontrolleur und die Richter, von der Saeima gewählt, sind unabsetzbar. Noch immer ist das alte örtliche Provinzialrecht in Kraft — in Lettgallen noch teilweise das russische Recht. An einer breitangelegten Kodifizierung der Gesetze arbeitet zur Zeit das Justizministerium. Die Gerichtsbarkeit liegt in den Händen von Friedensrichtern, 4 Bezirksgerichten, einer Gerichtskammer und dem Senat und wird nach modernsten Gesichtspunkten gehandhabt.

 

Pressewesen. Presse- und Versammlungsfreiheit sind verfassungsrechtlich gewährleistet. 1923 erschienen in Lettland 47 Zeitungen und 78 verschiedene Zeitschriften; es wurden 1071 Bücher gedruckt, darunter in grosser Zahl deutsche, englische und französische. Viel Sorgfalt wird auf Erhaltung und Förderung der Kunst verwandt. Theater, Opern, gute Lichtspielhäuser dienen diesem Zweck.

 

Vereinswesen. Das Vereinswegen auf dem flachen Lande ist sehr rege und

 

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wird weitgehend unterstützt durch den Kulturfonds (eine 3% Besteuerung der Eisenbahnfahrkarten liefert die Mittel), so dass die Anlage von Vereinshäusern, Bibliotheken u. s. w. ermöglicht wird. Ein Wandertheater, mehrere Provinztheater: in Libau, (hier auch eine Oper), Wolmar und Mitau tragen das ihre zur Förderung der Bildung bei. Auch in den Provinzstädten (es gibt deren 37 in Lettland) erwacht das Vereinsleben zu neuer Blüte. Dieses Jahr und ebenso das vorige brachte zahlreiche Ausstellungen und ähnliche Veranstaltungen. Beachtungswert ist die grosse Zahl der Jubiläen, welche Künstler und Männer des öffentlichen Lebens in Lettland feiern; eine Erscheinung, deren Erklärung in dem Umstand zu suchen ist, dass erst die Wende des XIX. Jahrhunderts in Lettland ein regeres Interesse für Fragen des Allgemeinwohls unter den Letten hervorrief. Es darf auch ruhig behauptet werden, dass das Volk der Letten ein Volk der Sänger ist, heiteren Gemüts und gesund in seiner Lebensauffassung.

 

Hygienische Verhältnisse. Das Klima des Landes und nicht minder der

 

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Umstand, dass 75,5% der Bevölkerung Ackerbau treiben, bringt es mit sich, dass das Volk körperlich gesund und kräftig ist. Jährlich werden ca 16.000 Ehen geschlossen; 1923 wurden 41.146 Kinder geboren (und starben 27.553 Personen) der Geburtenüberschuss betrug somit gegen 13.500. Auf 100 Geburten von Mädchen entfallen 108 von Knaben. Die Medizinalstatistik verzeichnet für 1922 ca. 8000 Krankheitsfälle auf 1.900.000 Einwohnern. Es gibt in Lettland ca. 748 praktisierende Ärzte, 496 Zahnärzte, 825 Hebammen, wobei die Zahl der Ärzte ständig aus den Absolventen der medizinischen Fakultät der Universität Riga komplettiert wird. Dazu kommen 91 Krankenhäuser und 86 Ambulanzen. Das Meeresklima mit einer Durchschnittstemperatur von +6° und einer Niederschlagsmenge von 550 mm, der wunderschöne Strand mit seinen Fichtenwäldern und die bergigen Gegenden Lettlands tragen das ihre bei zur Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer der Bewohner, so dass selbst Frauen über 40 Jahren noch heiraten und gebährfähig sind. Berühmt sind die Schwefelquellen von Kemmern und Baldohn, welche Tausenden von Rheumatikern

 

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und ähnlichen Kranken Heilung bringen.

 

Bewohner und Beschäftigung. Die Bevölkerungsziffer beträgt 1.900.000 Einwohner, wovon 75% Letten sind; die übrige Bevölkerung besteht aus Deutschen (3,25%) und anderen Nationalitäten, welche vorzugsweise die Grenzgebiete bewohnen. Die Haupterwerbszweige der Bevölkerung sind Landwirtschaft, Industrie und Handel.

 

Das Klima gestattet den Anbau von Weizen, Flachs, Hafer, Roggen u. s. w. Ebenso gedeihen verschiedene Hülsenfrüchte, Zuckerrüben, Tabak, Zichorien u. ähnliches; daneben Äpfel, Birnen, verschiedene Beerenarten und sogar Weintrauben (Kurland). Gärtnerei und Bienenzucht sind weitverbreitet, der Export von Marmelade, Fruchtsäften, Honig und verschiedenen Getränken ist in ständigem Wachstum begriffen. Die günstige Lage Lettlands an der Meeresküste, sein Reichtum an Binnenseen (der grösste ist 88 qkm gross, ihre Anzahl übersteigt 500) und Flüssen (die Düna ist 367 qkm lang, die Lielupe (Kurl. Aa) 125 km, die Venta (Windau) 300, die Gauja (Livl. Aa) 380, bringen es mit sich, dass die Bevölkerung

 

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Schiffahrt und Fischerei treibt, was zur Entwicklung einer beachtenswerten Konservenindustrie geführt hat (Sprotten, Killos, Lachs u. s. w.).

 

Landwirtschaft und Agrarreform. Auf landwirtschaftlichem Gebiet hat sich in letzter Zeit eine bedeutsame Umwandlung vollzogen. An der Stelle der Anpflanzung von Getreide (28% des gesamten Areals stellen beackertes Land dar) tritt allmählich die Viezucht (31% des Areals sind Wiesen und Weiden, 31% — Wald, der Rest — Ödland). Der Wert der Landwirtschaft wird schon jetzt auf 53,5% des gesamten Volksvermögens (ca 5,5 Millionen Goldfranken geschätzt), wärend die industriellen Werte nur 41,4% des Volksvermögens betragen. Diesen Aufschwung verdankt die Landwirtschaft in erster Linie der Durchführung der Agrarreform. Vor dem Weltkriege betrug die Zahl der Landlosen beinah 72%, der Gesamtbevölkerung und die Zahl der Kleingrundbesitzer in ganz Lettland nur 3729, das übrige Land befand sich in den Händen des Grossgrundbesitzes. Heute, nach Aufteilung von 696 in Privatbesitz befindlichen Gütern mit einem Gesamtareal von

 

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1.327.333 ha, gibt es in Lettland 70169 Kleinwirtschaften in der Grösse von 2—22 ha. Den früheren Grossgrundbesitzern sind auf Grund des Agrargesetzes Restgüter von 50 ha, Inventar und Gebäude belassen. Ungeachtet der Schwierigkeiten, die sich der Durchführung einer derartigen gross angelegten Reform entgegenstellen, ist die landwirtschaftliche Produktion doch nicht bedeutend in Mitleidenschaft gezogen worden. Es lässt sich im Gegenteil ein langsames Ansteigen derselben konstatieren: die Anbaufläche für Hafer hat mit 100,6% ihre Vorkriegsgrösse überschritten, der Anbau von Flachs beträgt bereits 80,75% der Vorkriegszeit, gegenüber 43% im Jahre 1920. Die Gesamtmenge des geernteten Getreides wird auf ca 2.000.000 Tonnen geschätzt (Roggen, Weizen, Hafer), wovon ein Teil dem Export zugeführt wird. Auch der Viehbestand ist entsprechend angewachsen: der Bestand an Pferden hat 105% seines Vorkriegsbestandes erreicht, der an Schafen 149,69%, an Milchvieh 96,68%, und an Schweinen 86,84%. Bei all diesen Zahlen ist zu beachten, dass der Viehbestand in Lettland während der 6 Kriegsjahre, in deren Verlauf die Dünalinie fast

 

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ständig im Kampfbereich lag, durch Requisitionen, sowohl von seiten des deutschen, als auch des russischen Militärs gelitten hat und grosse Flächen Landes durch den Krieg auf lange Zeit der Bebauung entzogen wurden. Ungeachtet aller Schwierigkeiten ist ein grosser Teil der zerstörten Wirtschaften wieder aufgebaut, und der Viehbestand auf eine Höhe gebracht, die es Lettland heute sogar ermöglicht, selbst an den Export von Fleisch (welcher von einer dazu eingesetzten Kontrollkomission überwacht wird) und ebenso in Verbindung mit der sich entwickelnden Hühnerzucht an die Ausfuhr von Eiern zu schreiten. Für die Zweckmässigkeit und die Existenzfähigkeit der Kleinwirtschaften spricht auch die grosse Anzahl der landwirtschaftlichen Maschinen, die schon heute im Besitz der Landwirte sind und deren Zahl sich beständig vermehrt, eine Erscheinung, die auch das Ansteigen des Imports zum grossen Teil bedingt. Lettland besitzt heute im Gegensatz zur Vorkriegszeit, wo man Traktoren fast gar nicht kannte, bereits mehr als 200 dieser Maschinen; ebenso schon 1729 Dreschgarnituren, 444 Lokomobilen, ca. 700 Sägegatter, 500 Molkereien

 

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viele Flachsbearbeitungsstationen u. a. m. Die Anschaffung und der Vertrieb aller Maschinen liegt zum grossen Teil in den Händen besonders dazu gebildeter Genossenschaften. Als eine Neuerscheinung auf dem Gebiet der Landwirtschaft ist in Lettland der Anbau von Zuckerrüben zu bezeichnen; die im Laufe von 3 Jahren gemachten Versuche haben denselben als so lohnend erscheinen lassen, dass mit der Entwicklung einer Zuckerindustrie in der nächsten Zeit ernstlich zu rechnen ist. Vorläufig wird in landwirtschaftlichen Kreisen noch der Milchwirtschaft und dem Export von Butter (welcher auch unter staatlicher Kontrolle steht) grösste Beachtung geschenkt, wobei bereits im Jahre 1923 mehr als 4.000.000 kg Butter ausgeführt wurden, gegenüber nur 597.680 kg im Jahre 1913, und 955.273 — im Jahre 1922. Von grösster Bedeutung für die Landwirtschaft ist auch die Ausfuhr von Flachs, dessen Anbau ständig zunimmt und pro 1922 — 26.000 Tonnen betrug. Im Zusammenhang hiermit seien noch die Spiritusbrennereien Lettlands erwähnt, deren Produktion auf 26.000.000 Grad angestiegen ist und deren Bedarf zum Teil

 

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nur noch durch Einfuhr ausländischer Kartoffeln (Estland) befriedigt werden kann. In verarbeiteter Form unterliegt auch der Spiritus dem Export.

 

Forstwirtschaft. Eine besondere Bedeutung gewinnt der lettländische Holzexport, dessen Menge auf 120.000 Standard jährlich geschätzt wird. Die Exploitation der Wälder liegt in den Händen der Regierung, welche, unter Beobachtung einer 120-jährigen Schlagzeit und Sorge für entsprechenden Nachwuchs, diese sachgemäss zu gestalten sucht. Privater Fürsorge bleiben nur diejenigen Waldungen überlassen, welche innerhalb der Grenzen der neuzugeteilten Kleinwirtschaften belegen sind. Die grösste Ausbeute ergeben die umfangreichen Nadelholzbestände (Tannen), daneben jedoch auch die Eichen- und Eschenbestände. Allmählich geht man auch zur Bearbeitung des Holzes im eigenen Lande über. Die Papierindustrie könnte gegen 20.000 Tonnen Papier für den Export liefern, nebenbei Zellulose, Terpentin, u. a. Das Verbot der Ausfuhr von Holz zur Streichholzfabrikation begünstigt das Aufblühen dieser Industrie im eigenen Lande.

 

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Die letzten Jahre haben auch neues Leben in der Möbelindustrie und der Leisten-, Parkett-, Holzwolle- und Fournierfabrikation gebracht. In einigen Zweigen dieser Industrie ist die Nachfrage so gross, dass in den betreffenden Betrieben Tag und Nacht gearbeitet wird. Da die Eisenbahn und auch die Industrie zur Verwendung von Kohle und teilweise auch von Torf übergegangen ist, auch die Ausbeutung der Düna-Wasserfälle in Erwägung gezogen und teilweise schon in Angriff genommen worden ist, nimmt der Eigenbedarf Lettlands an Holz ständig ab und wird wohl in nächster Zeit bedeutend reduziert werden können, was dann wiederum zu einer Vergrösserung des Holzexportes führen dürfte.

 

Export und Industrie. Der Entwicklung der Industrie in Lettland sind Grenzen gesetzt durch die Armut des Landes an Rohstoffen. Neben der schon erwähnten Holz- und Lebensmittelindustrie verdient die Keramik, die Glas- und teilweise auch die Metallindustrie (Liepaja) der Erwähnung. Vor dem Kriege wurde die ausgedehnte Industrie Rigas in der Weise mit Rohstoffen versorgt, dass Dampfer, die

 

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zur Aufnahme der in lettländischen Häfen lagernden russischen Exportwaren bestimmt waren, auf der Hinfahrt Rohstoffe an Stelle von Ballast mit sich führten. Die Arbeitskraft war damals billig und die Aufnahmefähigkeit Russlands für Industrieprodukte unbegrenzt. Im Gegensatz dazu fehlt es heute auch in Russland an Absatz, denn dieses ist bestrebt, die Industrie im eigenen Lande nach Möglichkeit zu fördern. Dazu kommt noch, dass Russland seinerzeit unter dem Deckmantel einer Evakuation den gesamten Bestand an Maschinen, im ganzen ca 30.000 Waggonladungen, in die inneren Gouvernements verschleppt hat und bis heute sich weigert, diese herauszugeben. Dass die Industrie Lettlands noch einiges von der Zukunft erwarten darf, steht ausser Zweifel; denn die Voraussetzungen zur Entwicklung dieses Erwerbszweiges — geeignete Häfen und ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz (die direkte Entfernung Riga—Silupe beträgt 442 Klm; Riga—Moskau — 930; Liepaja (Libau)— Wilna—Romny — 1042 Klm), wie auch Schiffahrtswege (es sei hier nur die Düna erwähnt), bestehen nach wie vor. Schon heute arbeiten in Lettland ca. 1096

 

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industrielle Unternehmungen (davon wohl 1019 auf dem flachen Lande), wenngleich es sich hier vorwiegend um kleinere Unternehmungen handelt, . die im Jahre 1922 insgesamt 31.827 Arbeiter beschäftigten. Einige grössere Fabriken bestehen vorläufig nur in Liepaja (Libau) und Riga. Ungeachtet der bestehenden Depression auf dem Weltmarkt bleibt Lettland auch heute konkurrenzfähig und exportiert seine Liköre (den berühmten Allasch- Doppelkümmel), seine Konserven, sein Glas, Papier, Linoleum, Zwirn, Nägel, Zündhölzer, Nadeln, Steingut, Möbel, Häute, Tabak u. ähnl. (Vergleiche darüber den „Annuaire Statistique de Lettonie“). Ebenso herrscht reger Betrieb in den wieder instand gesetzten Eisenbahnwerkstätten, Docks und der Waggonfabrik. Die sozialen und Arbeitsverhältnisse werden vom Arbeitsministerium geregelt, unter Beachtung aller Errungenschaften der Neuzeit auf diesem Gebiete. Während der Sommerzeit gibt es in Lettland keine Arbeitslosen, im Laufe des Winters pflegt ihre Zahl bis 1000 anzusteigen, wo sie dann bei öffentlichen Arbeiten Verwendung finden. Im Jahre 1922 zählte man 25 Streikfälle in

 

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verschiedenen Unternehmungen (was einem Verlust von 31.500 Arbeitstagen gleichkam) gegen 51 im Jahre 1921 (gleich einem Verlust von 46.345 Arbeitstagen), wobei es den Streikenden im Jahre 1922 nur in zwei Fällen gelang, ihre Forderungen durchzusetzen. Lettland besitzt eine verhältnismässig grosse Zahl von Aktiengesellschaften, deren Kapitalien jedoch zu gering sind, um Unternehmungen in grösserem Masstabe, wie dieses z. B. auf dem Gebiet der Holz-, Oel- oder Zementindustrie möglich wäre, aufkommen zu lassen. Auch die bestehenden Banken wenden ihr Interesse und ihre Kapitalien vorläufig nur dem Handel zu. Um die Entwicklung der Industrie zu fördern, gewährt die Regierung einigen Unternehmungen eine Art Exterritorialität, welche es den betreffenden Unternehmern ermöglicht, Rohstoffe und ihre Fertigwaren zollfrei ein- und auszuführen.

 

Handel. Das stetige Aufblühen der Produktion in der Land- und Forstwirtschaft, Industrie und Fischerei lässt auch den Handel wieder aufblühen, wobei jedoch das unverhältnismässige Überhandnehmen des Kleinhandels, als eine ungesunde Erscheinung zu kennzeichen ist.

 

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Die auf den Transithandel mit Russland gesetzten Hoffnungen haben sich nur in bezug auf den Handel mit Holz und Getreide erfüllt; wenngleich der russische „Vnjeschtorg“, in dessen Hand alle derartigen Unternehmungen liegen, sich in letzter Zeit bemüht, auch Flachs, Butter und Eier auszuführen; daneben erhalten lettische Kaufleute Petroleum und andere Naftaprodukte in Konsignationen. Die Tätigkeit der lettischen Kaufleute ist jedoch im wesentlichen vorläufig auf die Befriedigung der Bedürfnisse des eigenen Landes und auf Absatz der Landesprodukte im Auslande beschränkt. Wie aus den folgenden Daten ersichtlich, ist der Import Lettlands in ständigem Wachsen begriffen; der Wert der eingeführten Waren betrug:

1919 — 15.000.000 Lats
1920 — 40.000.000 „
1921 — 90.000.000 „
1922 — 108.000.000 „
1923 — 211.900 000

In gleichem Masse ist aber auch der Export gestiegen und überstieg in den ersten 8 Monaten des Jahres 1923 bereits die Summe von 103.500.000 Lats. Die Belebung des Handels

 

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wird am besten durch Vergleich der Zolleinnahmen, welche 1922 bloss 38.000.000 Lats betrugen, gegen 31.500.000 in den ersten 8 Monaten d. J. 1923, illustriert. Als Exportländer kommen in erster Linie England, Belgien, Frankreich und Deutschland in Betracht, während in der Reihe der Importländer Deutschland an erster Stelle steht; dann folgen England und Frankreich. (Näheres über den Handel im „Annuaire Statistique“, in der Broschüre „La Lettonie, Pays du Transit et d’Exportation“, „Latvija as a Transit Country“, in Dr. Siews „Lettlands Kreditanstalten“, P. Meyers „Lettland auf dem internationalen Holzmarkt“, in dem vom Finanzministerium herausgegebenen „The Latvian Economist“, und den in deutscher Sprache erscheinenden Zeitungen „Rigasche Nachrichten“, „Rigasche Rundschau“ und in der „Zeitschrift für Handel und Industrie“; ebenso beabsichtigt das statistische Amt in nächster Zeit monatliche Bulletins herauszugeben wie solche zur Zeit bereits vom Landwirtschaftsministerium herausgegeben werden).

 

Schiffahrt. Der für Lettland doch ziemlich rege Handel hat auch zu einem

 

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Aufblühen der Schiffahrt geführt, und schon heute besitzt Lettland mehr als 30 Dampfer von insgesamt mehr als 30.000 Reg. Tonnen; die Tonnage ist in ständigem Wachsen begriffen. Die Regierung und das Börsenkomitee sind eifrig dabei, die Schiffahrt auf jede Weise zu begünstigen, durch Ausbau der Häfen und Verkehrslinien, durch Instandsetzung der Elevatoren, Kühlhäuser u. s. w. Das Gesetz sieht auch die Gründung von Freihäfen durch Städte und Börsenkomitees vor. Um den Warenumsatz zu fördern, sind die Zollformalitäten vereinfacht, die Tarife für Transitwaren herabgesetzt; auch wird von Exportwaren, mit Ausnahme von Holz, kein Ausfuhrzoll erhoben. Um den Verkehr aller Schwierigkeiten zu entheben, wird ausländischen Schiffahrtsgesellschaften unter gewissen Voraussetzungen gestattet, die lettländische Flagge zu führen. Ebenso ist die Regierung bemüht, Handels- und Schiffahrtsverträge abzuschliessen und die konsularischen Vertretungen im Auslande sind angewiesen, die Anbahnung von Handelsbeziehungen in jeder Weise zu fördern. Die Handelspoltik Lettlands darf wohl als stabil bezeichnet werden, da die Zolltarife

 

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jeweilig vom Parlament festgesetzt und vor Ablauf von 6 Monaten nicht geändert werden dürfen.

 

Verkehr. Eine grosse Erleichterung für den Handel bietet das dichte Netz von Eisenbahnlinien, welches das Land in allen Richtungen überzieht. Die Gesamtlänge der Schienenwege Lettlands beträgt 2.872,5 km, das rollende Material besteht aus ca. 6000 Wagen und 320 Lokomotiven (gegen bloss 169 im Jahre 1920). Ein weiterer Ausbau der Schienenwege ist bereits vorgesehen, insbesondere soll die Hafenstadt Liepaja (Libau) durch eine Linie russischer Spurweite mit dem Inneren Russlands verbunden werden; zahlreiche Eisenbahnbrücken und Bahnhöfe sind wieder instand gesetzt, die betriebstechnischen Einrichtungen verbessert worden.

 

Ebenso stehen dem Eisenbahnressort für die russischen Getreidetransporte mehrere Elevatoren in Riga, Liepaja (Libau) und Ventspils (Windau) zur Verfügung. Was den Transitverkehr mit Russland anbetrifft, so verdient noch erwähnt zu werden, dass die lettländischen Eisenbahntarife bedeutend niedriger sind als die in Russland, und russischeExportwaren ausserdem zu einem bis 23%

 

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unter dem Normaltarif liegenden Vorzugstarif befördert werden. Eine nicht geringe Rolle im Verkehr spielen die Wasserwege Lettlands, deren Gesamtlänge 530 km beträgt; ebenso wird auch alle Mühe darauf verwandt, die Landstrassen in guten Zustand zu bringen. Auf Grund besonderer Konventionen finden die lettländischen Personenzüge im Durchgangsverkehr Anschluss an die aus Estland, Russland, Polen, Litauen und Deutschland kommenden Züge. Lettland ist an allen internationalen Verkehrskonventionen beteiligt, und betrachtet es als seine vornehmste Aufgabe, die Brücke zwischen Westen und Osten zu bilden. Während der Flugsaison verkehren Passagier- und Postflugzeuge. Ebenso besitzt Lettland ein Telegraphen- und Fernsprechnetz und mehrere Radiostationen. Auf je 1000 Einwohner entfielen im Jahre 1923 etwa 250 Telegramme, ca. 15 portopflichtige Postsendungen pro Kopf der Bevölkerung, während die Anzahl der beförderten Briefe mehrfach 12 Millionen betrug.

 

Finanzen. Auf den obengeschilderten gesunden wirtschaftlichen Verhältnissen fussend, die alle Anzeichen von Stabilität

 

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und Fortschritt zeigen, liess sich auch die Geldwirtschaft in geordnete Bahnen leiten, eine Entwicklung, die ihren Abschluss in der Gründung der Emissionsbank fand. Als Währungszeichen dient der Lat, welcher einem Goldfrank gleich zu setzen ist; die bisherigen Emissionen betragen zusammen 25.800.000 Lats, welche vollständig durch Gold (1.500kg, englische Pfund (45803.) und Dollars (2.000.000) gedeckt sind. Ausserdem besitzt die Bank von Lettland ein Reservekapital von über 60.000 000 Lats in ausländischer Valuta und Gold. Das Verhältnis von Lat zu Dollar ist ungefähr wie 5,13:1; das zum Pfund — wie 22,36 : 1. Die Emissionsbank ist autonom, und nur sie allein hat das Recht, Banknoten zu emittieren, und zwar auf Grund eines besonderen Gesetzes, welches der Emission nicht genügend gedeckter Banknoten Grenzen setzt. Ausserdem sind Scheidemünzen in Verkehr gebracht: Bronzemünzen zu 1, 2 und 5 Sant.; Nickel zu 10, 20 und 50 Sant. und Silberlats zu je 1 Lat. Das Budget für 1923/24 ist mit 193.726.975 Lats ausbalanciert. Die Haupteinnahmequelle des Fiskus bilden das Spiritus- und Flachsmonopol,

 

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der Holzhandel und die Zölle. Neben der Emissionsbank besitzt Lettland eine staatliche Agrarbank, welcher spezielle Kredite zur Unterstützung der Landwirtschaft zur Verfügung stehen. Die Bank von Lettland übernimmt Bankoperationen jeder Art und spielt, da die Privatbanken zusammen ein Kapital von nur etwa 29.000.000 Lats besitzen, eine führende Rolle. Die Stabilität des lettischen Geldes trägt viel zur Gesundung der Wirtschaft bei; der Kredit-, Wechsel- und Scheckverkehr nimmt allmählich wieder die ihm gebührende Rolle im Handel ein. So ist auch die Spekulation auf ein Minimum herabgedrückt, die alten soliden Firmen leben wieder auf und tragen ebenso wie die gutfondierten Neugründungen das ihre dazu bei, das Vertrauen des Auslandes zu Lettland zu stärken. Lettland schreitet auch bereits zur Tilgung seiner Staatsschulden, eine Tatsache, in der die zahlreichen Kreditangebote des Auslandes ihre Erklärung finden. Es muss überhaupt erwähnt werden, dass in Bezug auf Wirtschaftsfragen, ungeachtet der sonst so vielfach auseinander- gehenden Bestrebungen der verschiedenen politischen Parteien, hier alle auf gemeinsamer

 

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Plattform stehen und das Staatswohl allem andern voranzustellen. Lettland ist eben kein Polizeistaat, und sein Wohlergehen liegt im Interesse jedes einzelnen. Die Aussichten für ausländische Kapitalien sind, wenn deren Wirkungsbereich in mancher Richtung auch etwas eingeschränkt wird, so z. B. in bezug auf die Tätigkeit der Versicherungsgesellschaften, auf landwirtschaftlichem, industriellen und auf dem Gebiete der Schiffahrt als gut zu bezeichnen. Die Kaufkraft des Landes ist in ständigem Anwachsen begriffen, und seit Jahren ist man bemüht, der Landwirschaft und den industriellen Betrieben die nötigen Neuanschaffungen zuzuführen, eine Tatsache, in welcher auch die scheinbar passive Handelsbilanz ihre Erklärung findet. In praxi tragen die auf diese Weise erneuerten und vervollkommneten Betriebe in Landwirtschaft und Industrie viel zur Steigerung der Exportfähigkeit des Landes bei. Auch in Zukunft wird die Aufnahmefähigkeit Lettlands wohl keine Einbusse erleiden, da die Bedürfnisse der Jungwirte an landwirtschaftlichen Maschinen u. ähnl. in ständigem Wachsen begriffen sind. Ebenso ist die

 

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Aufnahmefähigkeit des lettländischen Marktes für Kunstdünger, Rassevieh, Milch- und Flachsbearbeitungsmaschinen u. ähnl. zu einem intensiven landwirtschaftlichen Betrieb notwendige Erzeugnisse, welche von der heimischen Industrie nicht geliefert werden können, ständig gleich gross. Diese Nachfrage wird durch die Eigenart der lettländischen Landwirtschaft, in viele kleine Einzelwirtschaften gegliedert zu sein, eher gesteigert. Auch die Nachfrage der Kleinindustrie und des Handwerkes nach exakt gearbeiteten Werkzeugen, steigt mit der Erneuerung dieser Erwerbszweige. Dazu kommt noch die Nachfrage nach Produkten der elektrotechnischen Industrie, wie sie durch den fortschreitenden Übergang zur Anwendung von elektrischer Kraft hervorgerufen wird. Die Bedürfnisse der Städte für Kanalisation, Beleuchtung u. ähnl., nicht zu reden von den zahlreichen und verschiedenartigen Materialien, die die Bahn- und Hafenverwaltungen benötigen.

 

Am Schlusse dieser kurzen Übersicht über die innere und äussere Lage Lettlands im Jahre 1924 darf nicht unterlassen werden, zu erwähnen, dass das lettische Volk gleich

 

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den anderen Baltischen Staaten einmütig und ebenso fest für seine Unabhängigkeit einsteht, wie es für den Weltfrieden und die Eintracht unter den Völkern ist. Auch die Minoritätenfrage ist endgültig durch eine Deklaration im Völkerbund gelöst, und, und somit kann jeder lettländische Bürger treu und fest zu Heimat und Vaterland halten.

 

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Inhaltsverzeichnis.

Seite

Einführung von G. Wihgrabs. V.

I. Merkels Leben VII.

II. Die Beurteilung Merkels XVI.

IlI. Merkels „Letten“ XXXV.

IV. Merkels „Letten“ und wir LXII.

V. Zum fünfjährigen BestehenLett-
lands vom Red. A. Bihlmann CII.

 

Die Letten vorzüglich in Lettland
am Ende des philosophischen Jahr-

hunderts ... von G. Merkel. Zweite
verbesserte Auflage. Leipzig 1800. 1

 

Einleitung 3

I. Kurze Geschichte der Letten
und allgemeine Schilderung der-

selben 17

ll. Charakteristik der Letten 32

Ill. Frondienste und Abgaben der

livländischen Bauern 80

IV. Versuche, den Zustand der
Bauern zu verbessern 112

V. Rechte der lettischen Bauern
in Livland 142

VI. Blick in die Zukunft 205

VII. Kann die Aufhebung der Leib-

eigenschaft in irgend einer
Rücksicht nachteilig sein? 246

VIII. Mittel, den Letten Bildung
und Freiheit zu geben 302

 

Anhang. Kurze Schilderung der
Landgeistlichen in Liefland 319

 

Anmerkungen 360

Druckfehlerberichtigung 366

Inhaltsverzeichnis 367

 

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368

 

Lettland - Bücherei.

 

Die Verlags – Aktiengesellschaft Rigna in Riga gibt unter diesem Titel in zwangloser Folge eine Reihe von Abhandlungen und Quellen zur geistigen und wirtschaftlichen Geschichte Lettlands heraus, welche der Orientierung des In- und Auslandes über Lettland dienen sollen.

 

1. Garlieb Merkel, Die Letten. Mit einer Einführung.

 

2. Georg Wihgrabs, Das lettische Schrifttum. (Im Druck )

 

Quelle:

Garlieb Merkel: Die Letten

Nach der zweiten Fassung wortgetreu neu herausgegeben

Mit einer Einführung von Georg Wihgrabs

1924 Verlags-Akt-Ges. „Rigna“, Riga

 

Das Werk ist online zugänglich über folgende Links der Universitas Tartuensis:

dc.description.uri https://www.ester.ee/record=b4265069*est

dc.identifier.uri http://hdl.handle.net/10062/63275

Sammlungen

Raamatud saksa keeles. Books in German. Deutsche Bücher