Tomaszewski 1915: Die weltpolitische Bedeutung Galiziens

Weltkultur und Weltpolitik

Österreichische und deutsche Schriftenfolge

 

Herausgegeben von dem Institut für Kulturforschung in Wien und von Ernst Jäckh in Berlin

 

Österreichische Folge

1. Die weltpolitische Bedeutung Galiziens von Stephan Tomaschiwskyj

 

 

FB

 

F. Bruckmann A.-G. München 1915

 

 

_____

 

Die weltpolitische Bedeutung Galiziens

 

Von Dr. Stephan Tomaschiwskyj

Privatdozent an der Universität Lemberg

 

 

FB

 

F. Bruckmann A.-G. München 1915

 

____

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Copyright 1915 by F. Bruckmann A.-G., München

 

(Ohne vorstehenden Vermerk ist geistiges Eigentum in

den Vereinigten Staaten von Nordamerika vogelfrei.)

 

 

 

Druck von F. Bruckmann A.G., München

 

 

____

 

Inhalt Seite

 

Einleitung 7

I. Das Land 12

1. Territoriale Bezeichnung 12

2. Politisch-geographische Bedeutung 13

II. Historischer Rückblick 16

1. Anfänge des politischen Lebens in der Westukraine 16

2. Das selbständige Reich von Halytsch des 11. und 12.

Jahrhunderts 18

3. Galizisch-lodomerisches Reich (1200 — 1340) 20

4. Der Kampf um Galizien im 14. Jahrhundert 26

5. Galizien unter der Herrschaft Polens (1387 — 1772).

Annexion an Österreich 28

6. Galizien als historischer Kriegsschauplatz im Mittelalter 30

III. Rußland und Galizien 34

IV. Österreich und die ukrainische Idee 42

Galizien-Lodomerien im Jahre 1240 (Übersichtskarte) 47

 

____

 

Einleitung *)

 

Am 25. Januar ist in Wien folgende offiziöse Zuschrift veröffentlicht worden:

 

Dänischen und holländischen Zeitungsmeldungen zufolge erörtern mehrere russische Blätter den Gedanken eines Separatfriedens mit Österreich-Ungarn, wobei Ostgalizien an Rußland abgetreten und Serbien Österreich-Ungarn einverleibt werden sollte. Man ersieht daraus, daß Serbien mindestens von einer starken Partei in Rußland aufgegeben ist. Die anderen Kombinationen dieser russischen Preßorgane erledigen sich von selbst. Wir sind nicht gesonnen. Ererbtes aufzugeben und von der Abtretung eines Kronlandes oder eines Teiles eines solchen kann unter keinen Umständen die Rede sein."

 

Uns sind weder die Namen jener russischen Preßorgane bekannt, noch der genauere Inhalt ihrer Erörterungen in betreff dieses Themas; wir hegen sogar Zweifel bezüglich ihrer getreuen Wiedergabe durch die erwähnte neutrale Presse; gleichwohl liegt die Bedeutung des angeführten Communiques nicht so sehr darin, als vielmehr in seinem Erscheinen selbst und in der unzweideutigen Erklärung des Standpunktes der regierenden Kreise der Monarchie gegenüber irgend welchen Plänen der Abtretung Galiziens. Das Erscheinen der Mitteilung steht vermutlich in enger Beziehung zu dem unlängst erfolgten persönlichen Wechsel in der Führung der auswärtigen Angelegenheiten der österreichisch-ungarischen Monarchie; die Notwendigkeit aber, alle Zweifel bezüglich der Kombinationen mit Galizien zu zerstreuen, lag vielleicht nicht so sehr darin, daß namhafte Stimmen der russischen Presse laut geworden sind, als vielmehr darin, daß seit geraumer Zeit in der breiten Öffentlichkeit Gerüchte im Umlauf waren, die Monarchie sei geneigt, unter gewissen Bedingungen den Frieden durch Abtretung Galiziens und der Bukowina zu erkaufen. Diese Gerüchte, manchmal bis zur Absurdität getrieben, fanden in jener Öffentlichkeit nicht nur Glauben, sondern auch hie und da Anerkennung (Witz: „Galizien dem Besiegten"), dies um so mehr, als in der durch die Wiener Presse dargebotenen geistigen Nahrung sehr wenig Sinn für die territoriale Gesamtheit und Integrität der Monarchie zu finden ist, der Sinn — welcher die Voraussetzung eines jeden gesunden staatlichen Organismus bildet. Es hat sich sogar eine galizische politische Partei gefunden,

____

*) Die einleitenden Gedanken werden hier genau so wiedergegeben, wie sie am 9. Februar für das ukrainische Blatt „Dilo" niedergeschrieben und demnächst samt den übrigen Teilen dieser Schrift veröffentlicht wurden. Kurz darauf trafen die Drahtnachrichten aus Petersburg über die Sitzung der Duma am 9. Februar ein, wo auch die Vertreter der Regierung ziemlich viel über die Kriegsursachen und Kriegsziele gesprochen haben. Was sie dabei über Galizien sagten, kann nur für die hier ausgedrückte Meinung als volle Bekräftigung dienen ; sie fanden auch gut gleichzeitig das nahe Erreichen des Konstantinopel- und Mittelmeerzieles auszuposaunen, das in gewissem Widerspruch zu der hier formulierten Überzeugung zu stehen scheint; trotzdem gibt der bisherige politische und militärische Verlauf der betreffenden Handlungen vorläufig keinen genügenden Grund, schon heute die früher gefaßte Schätzung dieser Frage aufzugeben; jedenfalls kann es schon heute festgestellt werden, daß die Konstantinopel- und Dardanellenfrage erst nach dem Kriegsausbruche auftauchte. (Anmerkung des Verfassers am 20. März 1915.)

 

 

____

7

 

welche ostentativ und beständig ihren antirussischen Standpunkt zur Schau trug und noch immer trägt, die aber jetzt an gewisse maßgebende Kreise mit dem Rate heranzutreten wagte, Ostgalizien an Rußland zu übergeben, allerdings nicht für Serbien, sondern für Russisch-Polen. Darum ist es gerade recht, daß das oben erwähnte Communique, obzwar auch mit einiger Verspätung erschienen ist, und die politische Atmosphäre vom Geplärr gereinigt hat, welches trotz seiner teilweisen Sinnlosigkeit auch in ukrainischen politischen Kreisen Unruhe und sogar Erbitterung hervorgerufen hat.

 

Die Quelle dieser Empfindungen liegt vor allem in der Gewißheit aller Ukrainer, daß sie das einzige von den an diesem Kriege interessierten Völkern sind, welches all sein nationales Hab und Gut auf kulturellem und politischem Gebiete im heutigen blutigen Weltspiel auf die österreichische Karte gesetzt hat und gegebenenfalls eine für seine Zukunft verhängnisvolle Enttäuschung zu erleben befürchtet; jedoch noch mehr sind diese Gefühle durch das tiefe Bedauern der Ukrainer hervorgerufen, daß in diesem Momente, wo die Monarchie mehr als irgend ein anderer kriegführender Staat in ihrer Existenz bedroht erscheint, noch immer der alte Mangel an Verständnis der Bedeutung Galiziens für die Donaumonarchie und für ganz Mitteleuropa obwaltet. Denn die Ukrainer sind fest überzeugt, daß nicht nur die Monarchie für die weitere Entwicklung des ukrainischen Volkes unentbehrlich ist, sondern daß diese ebenfalls und ebensosehr am Besitze wenigstens des bisherigen ukrainischen Territoriums interessiert ist. Diese Überzeugung hat auch das Erscheinen dieser Bemerkungen veranlaßt. Die Gefahr, auf Galizien zu verzichten, ist nach der oben angegebenen maßgebenden Mitteilung vermutlich vorübergegangen; das Verständnis der Bedeutung unseres Landes für die Monarchie gewinnt wahrscheinlich Zutritt zu ihren Staatsmännern; immerhin dürften diese Zeilen nicht überflüssig sein.

 

Nicht nur die breite Öffentlichkeit, auch angesehene politische Kreise, ja sogar die diplomatische Welt glauben in diesem historischen Momente in Galizien fast nichts mehr zu sehen, als einen Hauptkampfplatz des jetzigen Krieges; demgegenüber macht sich kein Verständnis der unzweifelhaften Tatsache bemerkbar, daß dieser Weltbrand, welcher über das fernere Schicksal Europas oder vielleicht der ganzen Welt zu entscheiden hat, wegen Galizien entfacht worden ist, und daß das Ergebnis des Krieges mit dem politischen Schicksal dieses Landes eng verbunden ist.

 

Um diesen Satz zu begründen, ist es notwendig, zuerst die historische Verantwortung dafür, daß der österreichisch-serbische Konflikt bis zu den jetzigen Dimensionen entbrannt ist, festzustellen. Es ist merkwürdig, daß sogar in den Ansichten der Zentralmächte — Österreich-Ungarns und Deutschlands — noch keine Entscheidung zu sehen ist, auf wem diese Verantwortung ruht, oder bildlich gesagt, wer in diesem Weltbrande der eigentliche Brandstifter war. Als Beispiel möge Deutschland dienen. Wenn noch am 30. Juli Kaiser Wilhelm im Telegramm an den Zaren klar erklärte : „Die ganze Schwere der Entscheidung ruht jetzt auf Deinen (des Zaren) Schultern, sie haben die Verantwortung für Krieg oder Frieden zu tragen," und wenn auch diese Ansicht einige Zeit ungeteilt im ganzen Reiche herrschte, so begann man nach und

 

 

____

8

 

nach in manchen dortigen Kreisen die ganze Schuld auf England zu schieben. Den Ausdruck einer solchen Anschauung haben wir beispielsweise in der jüngsten, auch von den breiten Kreisen anerkannten Aussage des deutschen Kronprinzen: „Wir sind überzeugt, daß der Tag kommen wird, da das russische und französische Volk erkennt, daß es nur die üblen Geschäfte Englands besorgt." Obwohl der jetzige Haß gegen England in Deutschland vollkommen begreiflich erscheint; obgleich England der schwerste Gegner beider verbündeten Mächte ist, so soll dies immerhin die augenscheinliche Tatsache nicht in den Schatten stellen, daß England in eigenem Interesse unter den für dasselbe günstigsten diplomatischen Verhältnissen genötigt war, sich an dem durch einen anderen und zwar eben durch Rußland begonnenen Kriege zu beteiligen. So und nicht anders entscheiden die Dokumente, welche in dieser Beziehung das Recht haben, das alleinzige Kriterium zu sein. Auf Grund kritischer Analyse der bekannten Dokumente ist ein angesehenes Mitglied der deutschen Regierung, Dr. Helfferich, zum Schlusse gekommen, daß „Rußland der Brandstifter und Frankreich und England dessen Mitschuldige" sind. Dieser Schluß, der auch von den hervorragendsten Politikern und Publizisten angenommen ist, wird wörtlich durch „Das österreichisch-ungarische Rotbuch" bekräftigt, welches keinen Zweifel bezüglich der Blutschuld Rußlands übrigläßt.

 

Etwas anders ist es mit der Frage bestellt: Weswegen hat Rußland sich dieses Verbrechen zuschulden kommen lassen? Die bisher veröffentlichen Dokumente schweigen hierüber. Die Politiker und Publizisten hingegen stellen nur mehr oder weniger scharfsinnige Vermutungen über Motive und Ziele der russischen Politik auf. Indem wir solche Erklärungen wie: die Rache Rußlands für die Annexion Bosniens, für die Bildung Albaniens oder die Verteidigung Serbiens, Panslawismus und dergleichen beiseite lassen, sehen wir nur eine ernste Motivierung: Rußland will in seinem Bestreben nach Konstantinopel und den Dardanellen Österreich vernichten und Deutschland schwächen.

 

Diese Ansicht ist unter anderem auch in der Vorrede zum österreichisch-ungarischen Rotbuch ausgesprochen und sie wird als ein allgemeines Dogma in der Beurteilung der russischen Politik betrachtet. Nichtsdestoweniger ist die Wahrheit dieses Dogmas sehr relativ. Gewiß wird niemand bestreiten, daß unter den politischen Idealen Rußlands, noch vom 18. Jahrhundert an, sich auch das Konstantinopler Ideal befindet und daß die russische politische Ideologie dieses Ziel in neuesten Zeiten vom alten romantischen Gewände (die Befreiung der Christen, Herstellung des oströmischen Imperiums) in ein modernes, materialistisches Gewand (freies, nicht zufrierendes Meer, Sicherstellung des Handels und dergleichen) umkleidet. Doch es ist auch nicht weniger sicher, daß im jetzigen Momente diese Pläne noch immer in das Gebiet des politischen Wahns gehören.

 

Man kann sogar behaupten, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen in der nächsten Zukunft die Verwirklichung dieser Phantastereien sich noch schwieriger gestaltet als zuvor: Rußland nähert sich diesem Ideal nicht, sondern entfernt sich von ihm. Aber jedenfalls war zur Zeit des Ausbruches des Weltkrieges die Konstantinopelfrage nicht aktuell und eben deshalb konnte sie weder das unmittelbare noch das Hauptmotiv des russischen Angriffes sein. In einem Kriege, für welchen

 

 

____

9

 

England die diplomatische Grundlage geschaffen hat, wo der Standpunkt der Türkei noch nicht vorauszusehen war, wo unsere Feinde von Bulgarien und Griechenland viel erwarteten und wo sie alle Hebel für die Gewinnung Italiens und Rumäniens in Bewegung setzten, konnte die Frage des Bosporus und der Dardanellen nicht die Grundlage des Übereinkommens bilden, denn die widersprechenden Interessen dieser Staaten untereinander und aller insgesamt mit Rußland auf diesem Gebiete hätten eher zur Lokalisierung des österreichisch-serbischen Konfliktes geführt als zu seiner Ausbreitung über die ganze Welt. Dagegen wird die Annahme vollkommen gerechtfertigt erscheinen, daß Rußland der Gedanke voranleuchtete, nach der Niederlage Österreich-Ungarns und Deutschlands würde sich die Dardanellenfrage aktueller und für Rußland günstiger gestalten. (Der Weg nach Konstantinopel führt über Wien respektive Berlin). Doch dies konnte nur sein Hintergedanke sein und wenn die Frage von inoffiziellen und offiziösen Kreisen aufgeworfen wurde und wird, so geschieht dies höchstens in der Absicht, um gemäß der alten meisterhaften Tradition der russischen Diplomatie die wahren, reellen, nahen und unmittelbaren Ziele zu verschleiern. Denn auch die Dringlichkeit der wirtschaftlichen Bedürfnisse Rußlands, diese Meerengen ehestens zu beherrschen, ist sehr fraglich. In der Theorie müßte man sich Rußland im Kriege mit sämtlichen Nachbarn vorstellen (das heißt mit der ganzen Welt); in der Praxis aber entfaltete sich Rußland unaufhaltsam und sehr günstig ohne offenen Ozean und könnte es weiter so bleiben, um so mehr als Rußland im Norden den ihm längst zu Gebote stehenden Zutritt zum Ozean noch immer vernachlässigt und da auch von den Dardanellen zum offenen Ozean der Weg nicht kürzer ist als von Petersburg. Daher hat Rußland und seine Verbündeten den Krieg nicht aus eitlem Wahn, sondern eines näheren und reelleren Zieles wegen begonnen. Was für England die Vernichtung des überseeischen Handels Deutschlands, für Frankreich Elsaß-Lothringen, für Serbien Bosnien, für das zukünftige Polen Westpreußen ist, das ist für Rußland die Angliederung Galiziens.

 

Es ist merkwürdig, daß die politische Publizistik Deutschlands und Österreich-Ungarns über dieses Kriegsziel Rußlands und über die mit diesem Ziele verbundenen Fragen schwieg und schweigt, dagegen aber den Stimmen der russischen Presse und Politiker über Konstantinopel außerordentlich viel Beachtung schenkt — Stimmen, welche Bismarck seinerzeit systematisch geringschätzte. Hat man denn bei uns die interessante Erscheinung nicht bemerkt, daß die russischen Stimmen über diese „kitzliche" Frage vorher, zur Zeit des Erfolges der russischen Waffen, sehr diskret waren und daß sie besonders offen und dreist von dem Augenblicke wurden, wo die russische Offensive gebrochen war? Die Absicht ist offenbar: die Sache dahin zu bringen, daß ein eventuelles Anerbieten Rußlands im Sinne Galizien-Serbien oder Galizien-Polen, in dem dazu geeigneten Momente in den politischen und publizistischen Kreisen beider Bundesmächte den Eindruck besonderer politischen Bescheidenheit der russischen Regierung hervorrufe: Rußland verzichte angeblich auf die ursprünglichen stolzen Pläne, begnüge sich mit dem galizischen „Linsengericht" und dürfe daher Anspruch auf entsprechendes Verständnis erheben. . . .

 

 

____

10

 

Dieses beständige Übersehen der galizischen Frage von den maßgebenden Kreisen ist um so merkwürdiger, da sie eine sehr alte Geschichte, älter als die Konstantinopelfrage, und eine reiche Literatur hat, unvergleichlich reicher als die Bosporusfrage; daß sie eben deshalb der breiten Öffentlichkeit bekannt und für die interessierten Kreise und Behörden zugänglich werden konnte, daß endlich der größte Teil dieser Literatur im Rahmen des österreichischen Staates, in Galizien entstanden ist, wo unzählige Tatsachen und Beweise des russischen Appetits auf dieses Land sich angehäuft haben. Sogar die ukrainische Sprachform des überwiegenden Teiles dieser Literatur entschuldigt wenig die Interessierten wegen Nichtbeachtung (das Referat der ukrainischen Presse beim Ministerium des Äußern Österreich-Ungarns ist erst im Mai 1914 eingeführt worden und beim Ministerratspräsidium fehlt es bis heute!), um so mehr, als vieles von dieser Literatur ins Deutsche übersetzt worden ist (es genügt bloß, die zahlreichen Abhandlungen in der „Ruthenischen Revue" und der „Ukrainischen Rundschau" zu erwähnen). Die Protokolle der parlamentarischen Sessionen enthalten eine sehr große Zahl ukrainischer Reden, welche dieses Thema behandeln und über russische Pläne bezüglich Galiziens genau informieren. Hier finden wir auch Warnungen vor offenen und geheimen Wegen und Mitteln dieser Politik, Appelle an das Gefühl der Staatseinheit, sogar Anweisungen, durch welche Mittel und Wege man die ewigen feindlichen Anschläge erfolgreich paralysieren könnte (einer von den ukrainischen Abgeordneten hat sich in einer sich auf die zukünftige Okkupation Galiziens durch Rußland beziehenden Rede direkt als Prophet erwiesen, wie es sich jetzt gezeigt hat). Doch fanden diese Schriften und Reden zugedrückte Augen und zugestopfte Ohren bei denen, für die sie bestimmt waren. Weder die Unzahl der Spionageaffären in Galizien, noch die Orgien des wandernden Rubels, noch die politischen Prozesse, noch sogar das Attentat im Jahre 1908 waren imstande, die stoische Ruhe der Sphären ins Wanken zu bringen oder die stumpfe Geringschätzung der Wiener Presse zu beseitigen. Denn über Galizien wußte und wollte man ausschließlich nur das wissen, was das placet des sogenannten Ministeriums für Galizien bekam. Wir wollen nicht behaupten, als ob diese traditionelle Taktik auch im jetzigen Momente ein Dogma der österreichischen Staatspolitik bildete, jedoch sind noch immer zu wenig Tatsachen bemerkbar, welche einen Bruch mit der bisherigen Tradition zeigen könnten und daher zwingt das politische Gewissen des ukrainischen Volkes noch einmal, vielleicht zum letzten Male, Beachtung und gerechte Beurteilung der beiderseitigen Lebensinteressen zu verschaffen.

 

Wir hören von vornherein die skeptische Bemerkung: Ist wohl ein solches Erheben des bei weitem nicht hervorragenden Kronlandes zur Rolle des Hauptbollwerkes der Monarchie, objektiv gerechtfertigt? Wäre es denn von Nutzen, sei es auch für Rußland, dieses Landes wegen einen Weltbrand zu entfachen, welcher einen Ruin und ein Elend mit sich führt, wie sie die Welt seit Hunnenzeiten noch nicht gesehen hat? In der Überzeugung, daß solche Fragen gedacht oder geäußert werden, sind die folgenden Zeilen geschrieben worden.

 

 

____

11

 

I. Das Land

1. Territoriale Bezeichnung

 

Beiderseits der großen europäischen Wasserscheide, genau in der Mitte ihrer Luftlinie, liegt Galizien, das sich vor dem Weltkriege keiner besonderen Beachtung erfreute, nun aber in den weitesten Kreisen des Erdballs viel über sich lesen und sprechen läßt.

 

Es ist eins von den zentralsten Ländern Europas. Sein Mittelpunkt — die jetzt weltberühmte Festung Peremyschlj (Przemysl), ist gerade so weit von Wien entfernt wie von Kiew, so weit von Brest am Atlantischen Ozean wie von Astrachan am Kaspischen Meer, von Petersburg wie von Rom, von Stockholm wie von Saloniki, von Kopenhagen und Sund wie von Konstantinopel und Bosporus. Galizien bildet das größte Kronland der cisleithanischen Hälfte der österreichisch-ungarischen Monarchie und führt den offiziellen Namen: „Königreich Galizien und Lodomerien mit dem Großfürstentum Krakau, Oswięcim und Zator". Wie aus dieser Benennung ersichtlich, ist das Kronland das Produkt eines komplizierten historischen Prozesses. Wenn wir aber die einzelnen historischen Bestandteile des Kronlandes von einander abgrenzen, so ersehen wir, daß seine abgekürzte — vielen einzig bekannte — Namensform „Galizien" auch hinsichtlich der Bezeichnung des ganzen Gebietes vollkommen gerechtfertigt ist. Ziehen wir von jener Stelle am Sanfluß, wo dessen rechtsseitiger Nebenfluß Tanew mündet, eine gegen Westen leicht gebogene Linie, zwischen Rzeszow im Osten und Sędziszow im Westen, in der Richtung auf Czudec, Strzyzow, Krosno und Dukla gegen die ungarische Grenze, dann haben wir auf der Ostseite dieser Linie die historischen Länder: Königreich Galizien (mit Nordbukowina fast zur Gänze) und einen Teil (im Gebiet des Flusses Bug) des Königreichs Wolodymyrien (Lodomerien), welche auch in der Geschichte als politisch vereinigte Königreiche bekannt waren; westlich von der erwähnten Grenze haben wir Teile des einstigen Kleinpolens (Großfürstentum Krakau und Fürstentum Sandomirz zwischen dem unteren San und Wislok) und kleine Gebiete zweier schlesischer Herzogtümer Auschwitz und Zator. Wie man sieht, entbehrt diese historische Grenze heute fast der natürlichen Grundlagen, obwohl sie sich als sehr dauerhaft erwiesen hat (durch fast vier Jahrhunderte, bis Mitte 14. Jahrhunderts, bildete sie die Reichsgrenze und später die administrative Scheidelinie), gleichwohl fehlte ihr in den ältesten Zeiten keineswegs eine natürliche Existenzberechtigung wegen der unpassierbaren Urwälder am Wislok, welche die beiden Hauptstämme des heutigen Galiziens, die Ukrainer im Osten von den Polen im Westen, trennte. Die letztere, ethnographische Grenze hat mit der Zeit gewisse Änderungen erfahren; im Norden, am unteren Wislok, ist sie fast bis zum San vorgerückt, im Süden dagegen, in den Karpathen, hat sie sich stark gegen Westen, bis über den Poprad verschoben. An dieser Stelle soll noch bemerkt werden, daß die sonst bekannte Teilung des Kronlandes in Ost- und Westgalizien (welche im Sinne der Reformen von

 

 

____

12

 

1846 — 1850 zwei abgesonderte administrative Einheiten zu schaffen hatte, mit der Zeit aber ihre Bedeutung bloß auf die Gerichtsorganisation des Landes und manche geringfügige administrative Besonderheiten beschränkte), daß diese Teilung als eine Kombination der historischen und ethnographischen Grenze erscheint, augenscheinlich zu Ungunsten des ukrainischen Teiles, denn sie berücksichtigt die Vergrößerung des polnischen Sprachgebietes und ignoriert die des ukrainischen, welches, rein territorial genommen, dreimal so groß ist wie das polnische. Ein ähnliches Verhältnis besteht auch zwischen den beiden historischen Bestandteilen des Kronlandes: das Territorium des ehemaligen Königreichs Galizien und Lodomerien umfaßt drei Viertel und von diesem Gebiete entfällt auf das historische Galizien selbst ungefähr fünf Sechstel. Wenn wir dazu auch noch die Bukowina in Betracht ziehen, welche geographisch und historisch zum großen Teil zu Galizien gehört, so ersehen wir, daß das Gebiet des historischen Galiziens mit dem jetzigen (österreichischen), im allgemeinen, so ziemlich zusammenfällt und darum werden wir in den weiteren Betrachtungen den Unterschied beider Begriffe nicht berücksichtigen, es sei denn dort, wo dies die Genauigkeit des Ausdruckes erfordern wird.

 

2. Politisch-geographische Bedeutung

 

Galizien ist vom geographischen Gesichtspunkte aus kein vollkommen einheitliches Land, dennoch hat es eigenartige Eigenschaften, welche ihm eine spezielle, fast eine Ausnahmestellung an der Grenze Ost- und Westeuropas verleihen und es zum Rang besonderer europäischer Individualitäten erheben. Längs seiner Südwestseite zieht sich ein Bergrücken, der Karpathenwall, hin, welcher sich beständig in südöstlicher Richtung verstärkt. Vom geologischen oder allgemein morphologischen Gesichtspunkte aus ist dieser Teil der Karpathen zwischen der Tatra und dem Rodnaer Gebirge vielleicht weniger interessant, dafür aber in politisch-geographischer Beziehung von größter Bedeutung. Das ganze Land, das mit diesem Bergrücken verwachsen ist und gleichsam sein breites Fundament bildet, ist diesem Rückgrate entsprechend in nordöstlicher Richtung gewendet. Wie die mittelalterliche Vorstadt am Fuße einer festen Burg, hat auch das Land von der einen Seite feste Anlehnung und Schutz, von der anderen eine gewisse Einschränkung in der territoriellen Entwicklung und den Zwang, sich nur in einer bestimmten Richtung zu entwickeln. Und es gibt tatsächlich nur wenige Gebirgsketten in Europa, welche eine ebenso feste politische Grenze wie die Karpathen bilden würden; höchstens ließen sich die Pyrenäen mit ihnen vergleichen. Hierin liegt auch die Erklärung, warum die Einwohner Galiziens eine verhältnismäßig so unbedeutende Rolle in der Geschichte West- und Südeuropas und eine so außerordentlich bedeutende in der Osteuropas spielten, als dessen Beweis folgendes Faktum dienen möge: wenn auch die galizische (und lodomerische) Bevölkerung imstande war, weit ausgedehnte Gebiete am Dnister, Bug

und Dnipro zu kolonisieren, hat sie in südlicher und westlicher Richtung nur den Hauptkamm der Karpathen zu besiedeln vermocht. Davon, und besonders von der gebogenen Gebirgslinie, stammt, auch der Unterschied zwischen den beiden Vorländern, dem galizischen und dem

 

 

____

13

 

nordungarischen. Das erstere, das unzertrennlich mit dem Hauptkamm verbunden ist, bildet gleichsam seine organische Verlängerung, ein mächtiges Glacis gegen Nordosten; das zweite dagegen, sei es durch den raschen Abfall gegen die Theißniederung, oder durch die Richtung der Nebenrücken, zeigt eine gewisse Disharmonie mit dem Hauptfort, dem großen Karpathenwall. Kurz und gut, von zwei politischen Mächten, die auf diesen Gipfeln auseinandergrenzen, ist das Übergewicht von Natur aus auf Seiten des nördlichen Nachbarn. Dadurch erklärt sich auch, warum in der Geschichte jeder mitteleuropäische Staat, der seine Grenze an die Karpathen anlehnte, unaufhörlich bestrebt sein mußte, auch die Nordseite der Karpathen, das galizische Vorgebirge mit allen, sozusagen ihm angewachsenen Nachbargebieten zu beherrschen.

 

Der Besitz Galiziens gibt einem mitteleuropäischen Staat die Übermacht über die Länder Osteuropas, denn man kann Galizien ohne Übertreibung das historische Tor, oder wenn man will, den Schlüssel zwischen den beiden Hälften Europas nennen. Diese wichtige Rolle ist, außer durch die Bedeutung der Karpathen, auch durch den politisch-geographischen Charakter des ganzen galizischen Territoriums bedingt. Peremyschlj (Przemysl) ist das Hauptbollwerk nicht nur Österreich-Ungarns (als Festung tritt es schon in der ersten historischen Nachricht auf), sondern auch ganz Mitteleuropas gegen den Osten. Hier ist ein analoges Tor, wie in Belfort — Straßburg zwischen West- und Mitteleuropa. Zwischen den Abflüssen des San, Dnister, Bug und Styr zieht sich die große europäische Wasserscheide, welche in der politischen Geschichte eine viel größere Rolle gespielt hat, als es den Politikern der Fall zu sein scheint. Darum ist das Beherrschen eines so wichtigen Aus- und Übergangsterritoriums für den betreffenden Staat nicht nur ein Imperativ des Selbsterhaltungstriebes, sondern auch die beste Garantie der Vorherrschaft über die Gebiete, welche hier ihren Ausgangspunkt haben. Solche Gebiete sind das San- und Buggebiet gegen Norden, das Dnister-Boh-Horynj- und Styrgebiet gegen Osten, welche großartige Perspektiven für die politische und wirtschaftliche Entwicklung des Karpathenstaates eröffnen. Man darf nicht vergessen, daß Galizien mit den Nachbarländern im Osten von Natur aus eins der reichsten in Europa ist, und daß es unter guter Verwaltung ein gesegnetes Land mit allen Bedingungen für die Autarkie (guter Boden, reiche Wälder, Erdöl, Salz, Eisen, Kohle usw.) wäre. Gewiß entbehrt Galizien gegen Norden und Osten der natürlichen Grenzen und darum zwingen die Gebote der Verteidigung, welche die politische Grenze vom Karpathenrücken an den Dnister, San und den Lemberg-Tamaschower Hügelrücken zu verschieben gebieten, so sehr zur weiteren Ausdehnung in dieser Richtung so lange, bis die natürliche Grenze an den Pinsker Sümpfen, am Dnipro und dem Schwarzen Meere erreicht wird. Die Wahrheit dieser Behauptung beweist die politische und die Kriegsgeschichte Galiziens. Aus ihr ersieht man, daß dieses Land, mit dessen Beherrschung die Staaten zur höchsten politischen Entfaltung kamen und nach dessen Verlust sie zum allmählichen Siechtum verurteilt waren, zu den am meisten umstrittenen in Europa gehört. Für dieses Land ist viel, sehr viel Blut vergossen worden (die sogenannte Volksetymologie hat auch den ehemals bei den Polen für die Bezeichnung des Landes üblichen Namen „Russia Rubra" davon abgeleitet) ; weniger

 

 

____

14

 

zwar, als in der Lombardei, Belgien, Elsaß, Schlesien, jedoch nur deshalb, weil Galizien trotz seiner eminent zentralen Lage Jahrhunderte hindurch abseits vom westeuropäischen Wirtschafts- und Kulturleben lag. Die „Europäisierung" Osteuropas in ökonomischer und geistiger Hinsicht ist noch sehr jungen Datums: Jekaterinoslawien ist noch nicht Schlesien und das Schwarze Meer hat auch annähernd keine solche Bedeutung wie die Ostsee, obwohl es ohne Zweifel schon auf dem Wege ist, die Ebenbürtigkeit zu gewinnen.

 

Dieser politisch-geographischen Stellung Galiziens entspricht auch ihr ethnographischer und kultureller Charakter vollkommen. Dieses Land liegt auch völlig in der Mitte der slawischen Welt, und die Ukrainer, seine Bewohner, bilden in sprachlicher Hinsicht eine typische slawische Ubergangsgruppe, welche, die Elemente des östlichen und westlichen, nördlichen und südlichen Slawentums in sich vereinigend, in der Familie der slawischen Völker einen eigenartigen und selbständigen Typus darstellt. Unter den wissenschaftlichen Theorien über die Urheimat der Slawen ist ohne Zweifel diejenige am besten begründet, welche diese Urheimat in die galizisch-lodomerischen Gebiete verlegt. Ebenso bilden die ukrainischen Bewohner Galiziens in anthropologischer und ethnographischer Hinsicht eine zentrale Ubergangsgruppe, nicht nur in der slawischen, sondern auch in der europäischen Welt. Sogar das kulturelle Leben des Landes trägt namhafte Eigenschaften dieses zentralen und übergehenden Charakters. Nicht nur vier verschiedene Konfessionen sind hier miteinander vermischt, sondern es ist auch in der herrschenden, griechisch-katholischen Konfession der orientale Ritus mit okzidentalen Dogmen, der byzantinische Kirchenstil mit der westlichen vokalen und plastischen Kunst harmonisch vereinigt. Es ist nicht nur jetzt so, es war immer so. Zur alten Bedeutung dieses Landes gesellt sich noch ein im jetzigen Augenblicke ungemein aktuelles Moment, das national-politische. Galizien ist in seinen historischen Grenzen national fast einheitlich; besiedelt von einem Volksstamm, dessen acht Zehntel außerhalb der heutigen Grenzen in Südrußland sich befinden auf den Gebieten der natürlichen und fortdauernden Expansion bis zu natürlichen Grenzen. Der Unterschied in der nationalpolitischen Stellung der Ukrainer diesseits und jenseits der österreichisch-russischen Reichsgrenze ist so groß, daß dem höher entwickelten, obwohl kleineren Teile des Volkes in Galizien die Rolle zufiel (nicht zum ersten Mal in der Geschichte) für den ganzen übrigen Teil des Volksstammes, eines der größten in Europa, Träger und Verbreiter des politischen Gedankens und nationalen Bewußtseins zu sein, Ideen, welche mit dem Untergange Rußlands innig zusammenhängen.

 

 

____

15

 

II. Historischer Rückblick

1. Anfänge des politischen Lebens in der Westukraine

 

Die galizisch-lodomerischen Gebiete treten auf dem historischen Schauplatz verhältnismäßig sehr spät (nach dem Kiewien!), denn erst gegen das Ende des 10. Jahrhunderts auf. Über die Zeiten vor diesem Datum können wir nur Vermutungen aufstellen. Die Streitfrage, ob die von arabischen Schriftstellern überlieferten Nachrichten über ein großes und mächtiges slawisches Reich „Walinana" (beiläufig um das 8. bis 9. Jahrhundert) mit dem ukrainischen Wolhynien durch etwas mehr als durch die Namenähnlichkeit verbunden ist, außer acht lassend, kann man einige Tatsachen aus der Zeit vor dem oben gekennzeichneten historischen Momente feststellen. Das Land am mittleren San und Dnister mußte von derselben ukrainischen Bevölkerung besiedelt worden sein, die auch am Bug und Styr lebte. An der Wasserscheide all dieser Flüsse kreuzten sich von alters her drei wichtige europäische Handelsstraßen: die erste aus Ungarn, entlang dem San und Bug, nach den baltischen Ländern, die zweite aus Schlesien nach dem Kiewien und zum Dniproflusse und eine dritte von der Kreuzungsstelle dieser beiden längs des Dnister und Pruth zur Donaumündung. Die heutigen Haupteisenbahnlinien Galiziens fallen genau mit der Richtung jener Straßen zusammen. Dieser wichtige Verkehrsknotenpunkt bildete schon in sehr früher Zeit ein anziehendes Objekt der Eroberungsbestrebungen der benachbarten Staatsorganismen. Man kann mit großer Wahrscheinlichkeit behaupten, daß diese Stelle unter dem politischen Einfluß der Avaren stand (568 — 796), deren großes Donaureich ein sehr interessanter Prototypus der heutigen Monarchie ist. Nach der Vernichtung der Avaren ist der erwähnte Teil des heutigen Galiziens wahrscheinlich in irgend eine Verbindung mit dem Haupterben des Avarenreiches, mit dem Großmährischen Bund (830 — 905) getreten. Als die Magyaren diesem — man könnte sagen — zweiten Vorgänger der Donaumonarchie ein Ende bereiteten, ist das galizische Vorkarpathenland, insofern es seine Selbständigkeit nicht wahren konnte, vermutlich unter den Einfluß Kiews gekommen, wo damals normannische Fürsten den Grund zum politischen Bau des alten Ruthenenreiches legten. Doch nicht für lange, denn mit der Schwächung ihrer Gewalt Mitte des 10. Jahrhunderts machte sich an der Nordseite unserer Gebirge die Macht des Böhmischen Staates fühlbar, welcher in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts seinen Einfluß über sämtliche Teile des ehemaligen Großmährischen Bundes, darunter über das Odergebiet (Schlesien), Weichselgebiet (später Kleinpolen mit Krakau) und über das Slovakenland auszudehnen vermochte. Damals erstreckte sich die (mehr oder minder tatsächliche) Herrschaft der böhmischen Fürsten weit nach Osten bis zum Quellengebiet der Flüsse Bug und Styr (das heißt bis Brody — einer sehr altertümlichen Ortschaft) und in die Zeit dieser böhmischen Herrschaft ist vermutlich der Ursprung Premysls zu setzen [Peremyschlj — Peremysl + j Burg, d. h. die Burg (Stadt) Peremyschls (Przemysis);

 

 

____

16

 

ähnlich wie Jaroslau = Jaroslau + lj = die Stadt Jaroslaus, Wolodymyrj = die Stadt des Wolodymyr (Wladimir)]. Doch diese Glanzperiode Böhmens dauerte nicht lange; einer der ersten seiner Verluste hat sich am Territorium des heutigen Galizien vollzogen.

 

Großfürst von Kiew Wolodymyr (Wladimir) der Große, der eigentliche Begründer des altruthenischen Reiches, richtete gleich zu Beginn seiner Regierungstätigkeit sein Augenmerk auf die europäische Wegscheide in unserem Lande und eroberte im Kriegszuge des Jahres 981 Peremyschlj (dies ist die erste geschichtliche Nachricht über die heute berühmte Festung) sowie die „Ukraine", das heißt eine ganze Reihe von Städten am linken Bugufer, darunter die bedeutendste Tscherwen (— Rotburg; ihre Lage ist unbekannt, entweder bei Komarow oder bei Cholm; sie hat auch dem ganzen Territorium den Namen „Tscherwensche Burgen", „Tscherwenien" gegeben, der später von polnischen Chronisten in „Russia Rubra" umgeändert und auf ganz Galizien ausgedehnt wurde) und stellte das ganze Land bis zum Wepr (Wieprz) und Wislok unter die Oberherrschaft Kiews. An eine Revanche konnte Böhmen nicht denken, denn kurz darauf (999) ist ihm ein noch größeres Unglück zugestoßen: der Verlust Schlesiens und Krakowiens für lange und der übrigen Länder für einige Zeit, zugunsten des durch Boleslaw I. neuorganisierten Polens. Überhaupt hat die politische Umwälzung im Zentrum Europas in den letzten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts eine epochemachende Bedeutung. Besonders sind die Motive der Politik Wladimirs auch für den heutigen Politiker nicht uninteressant. Die Idee der Volkseinheit war damals noch unbekannt (auch die Gemeinschaft selbst stand nur in allerersten Anfängen), es entschieden, außer rein persönlichen, nur politische und wirtschaftliche Ziele. Eben kurz vordem war der Verkehr Kiews mit dem Schwarzen Meer und mit der damaligen Kulturwelt um Byzanz durch die türkischen Nomaden, die Petschenegen, welche die Steppen am Schwarzen Meer zu beiden Seiten des Dnipro beherrschten, teils unterbrochen, teils erschwert; darum war die Beherrschung eines so wichtigen Verkehrsknotenpunktes zwischen Bug-Dnister-San offenbar eine von den Hauptbedingungen in der r Organisation des Reiches und ihr Erfolg verlieh dem Staate resp. dem Fürsten großen politischen und wirtschaftlichen Nutzen. In der letzten Zeit wurden sogar Ansichten ausgesprochen, daß die Okkupation Galiziens durch Wladimir die Einleitung zur Aktion in der Richtung der Eroberung Konstantinopels gewesen sein sollte! Wenn nicht eine allzuweit gehende Retrospektivität in der Erklärung der historischen Begebenheiten diese Ansicht geboren hätte, so könnte man sagen, daß auch damals der sicherste Weg zu den Dardanellen ebendahin führte, wohin auch zehn Jahrhunderte später . . . Jedenfalls dürfen wir behaupten, daß der Besitz Galiziens zur erfolgreichen Ausbreitung der Herrschaft einer anderen Macht und in anderer Richtung beigetragen hat: zur Herrschaft des Christentums und der griechischen kirchlichen Kultur in ganz Osteuropa. Diese neue Macht hat, nachdem sie auch unser Land erfaßt hat, rasch und ein für allemal über die nationalkulturelle Angehörigkeit unserer damaligen Vorfahren entschieden. Die politisch-ökonomische Bedeutung Galiziens verleitete, nach dem Tode Wladimirs des Großen ( 1015), den polnischen König Boleslaw dieses Land mit dem von Böhmen eroberten Kleinpolen zu vereinigen. Der

 

Tomaschiwskyj, Die weltpol. Bedeutung Galiziens

 

 

____

17

 

Zwist unter den Söhnen Wladimirs war ihm von Nutzen: für die einem von ihnen (seinem Schwiegersohn Svjatopolk) geleistete Hilfe erhielt er das linke Bugufer (1018). Doch die polnische Okkupation war nicht von langer Dauer. Nach dem Tode Boleslaws ( 1025), unter seinem schwachen Sohne Mieszko II., eroberte der Großfürst Jaroslau, der Sohn Wladimirs die „Tscherwenschen Burgen" zurück (1030 — 1031) und befestigte die Westgrenze seines Reiches durch eine neue Stadt am linken Sanufer: Jaroslau. Seit jener Zeit war die West- und Südgrenze unseres Landes von außen her bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts nicht dauernd durchbrochen.

 

2. Das selbständige Reich von Halytsch des 11. und 12. Jahrhunderts

 

Das altruthenische Reich mit seiner Hauptstadt Kiew spielte in der Geschichte Osteuropas eine ähnliche Rolle, wie das fränkische mit der Hauptstadt Aachen in Westeuropa. Beide Staaten konnten sich zufolge geographischer, wirtschaftlicher, kultureller und nicht unbedeutender dynastischer Verhältnisse und Verschiedenheiten in vollem Umfange ihrer größten Ausbreitung nicht lange erhalten und zerfielen früh in mehr organische und natürlich bedingte Staatsgebilde. Bei diesem Prozesse haben sogar die Namen der beiden Staatskolosse ein ähnliches Schicksal erfahren: beide sind auf ihrem ursprünglichen Boden zur Rolle der partikulären Bezeichnung (Ruthenen, Franken) herabgekommen; sie haben dagegen ihre staatspolitische und nationale Bedeutung im ursprünglich fremden, unterjochten Territorium (Rußland, Frankreich) bis heute behalten. Der Lauf der Geschichte in beiden Hälften Europas gibt weder den Deutschen noch den Ukrainern Anlaß zu bedauern, daß ihre ursprünglichen Universal Staaten sich nicht behauptet hatten, denn eben dieser Untergang hat zur Ausbildung ihrer nationalen Individualitäten beigetragen.

 

Der Verfall des altruthenischen Reiches hat sehr früh begonnen: schon der Sohn Wladimirs Jaroslau regierte nicht mehr die ganze Erbschaft (nur bis zum Dnipro), und nach seinem Tode ( 1054) entwickelte sich dieser Prozeß, der nach außen hin am meisten im beständigen Niedergang der politischen Bedeutung Kiews zum Ausdruck kam, sehr rasch. Die Ursachen seines allmählichen Verfalls waren:

1. Die Beherrschung der Steppen durch die Polouzen (Kumanen), die ein weit gefährlicherer Gegner als ihre Vorgänger, die von Jaroslau vernichteten Petschenegen waren; sie setzten auch die Metropole des alten Ruthenenreiches zum Range einer Grenzstadt herab; 2. die große Anzahl der Dynastiemitglieder und die Mängel ihres Familienrechtes hatten die Teilung des Staates und Zwistigkeiten, hauptsächlich wegen des Anspruchs auf den Kiewer Thron bis zur böswilligen Vernichtung des Streitobjektes zur Folge; 3. der Aufschwung der günstiger als Kiewien gelegenen Provinzen und das Streben ihrer Dynastien zur vollen Unabhängigkeit und zur Herrschaft über Kiew selbst. Alle diese Ursachen haben dazu geführt, daß diesseits des Dnipro schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zwei Hauptgebiete, dies- und jenseits des Bugflusses, nämlich Wolhynien (Lodomerien) und Galizien sich selbständig zu bilden begannen.

 

Diesem letzteren gelang es infolge seiner geographischen Lage das

 

 

____

18

 

Ziel früher zu erreichen. Es hatte schon in den achtziger Jahren sein eigenes regierendes Fürstengeschlecht, die drei Brüder Rostyslawiden, welche zwar getrennt in ihren Teilfürstentümern regierten, aber gemeinsam eine einheitliche Politik führten: Ruryk ( 1094) in Peremyschlj, Wolodar ( 1125) in Zwenyhorod (bei Lemberg, das später die Stelle Zwenyhorods einnimmt), dann in Peremyschlj und Wassyljko ( 1125) in Terebowlja (Trembowla). Zum Erben aller Anteile wurde schließlich der Sohn Wolodars Wolodymyrko ( 1152), der zum Mittelpunkte des politischen Lebens des ganzen Landes die Stadt Halytsch (Halicz) machte (1144), von welcher der Name des Landes stammt. Die neue Hauptstadt und das ganze Land ist hauptsächlich während der Regierungszeit Jaroslaus (1153 — 1187), dessen Macht längs des Dnipro und Pruth bis zum Meere und der Donau reichte, zur Blüte gekommen. Mit seinem Sohne Wolodymyr II. (1187 — 1199) ist die erste galizische Dynastie der Rostyslawiden, welche eine Reihe angesehener Individualitäten hervorgebracht und sozusagen Galizien in politischem Sinne geschaffen hat, erloschen.

 

Das Werk der politischen Sicherstellung des Karpathenlandes war sehr mühevoll und wurde erst nach einer ganzen Reihe blutiger und bis Mitte des 12. Jahrhunderts besonders schwerer Kriege mit allen Nachbarn, insbesonders aber mit Kiewien, mit dem wolhynischen Lodomerien und Ungarn, erreicht. Schon die geographische Lage Galiziens und Lodomeriens selbst mußte zur Quelle fortwährender Konflikte zwischen den beiden Ländern beziehungsweise ihren Fürsten werden, die zur Erweiterung ihrer Besitzungen auf Kosten des Gegners strebten. Lodomerien war für Galizien besonders dann gefährlich, wenn es von Kiew beherrscht wurde (dies war bis Mitte des 12. Jahrhunderts regelmäßig der Fall) oder umgekehrt, wenn es selbst über Kiewien gebot (um 1150). In diesem Kampfe war die Lage der Rostyslawiden insofern schwieriger, als die Kiewer beziehungsweise lodomerischen Fürsten außer in Polen noch einen sehr mächtigen Bundesgenossen in Ungarn gefunden haben, dem die Nachbarschaft des jungen Fürstentums nicht erwünscht war. Im Jahre 1099 haben die Verbündeten beschlossen, die Besitzungen der Rostyslawiden unter sich zu verteilen, aber der Feldzug des ungarischen Königs Koloman gegen Peremyschlj endete mit einer Katastrophe (auf ebendemselben Felde, wo im Oktober des Jahres 1914 von den überwiegend ungarischen und ukrainischen Verteidigern Przemysls den Russen dasselbe Schicksal widerfahren ist!). Die neue 1144 — 1146 gegen Galizien zusammengebrachte Koalition vermochte ebenfalls nichts auszurichten, zumal der damalige Fürst von Halytsch Wolodymyrko über ein ungarisches Hilfskorps verfügte. Der galizisch-ungarische Bund ging bald zu Ende.

 

Allseits von Feinden umgeben fand Fürst Wolodymyrko einen Bundesgenossen erst in der Ssusdaljer Dynastie der Monomachiden, welche im Bestreben Kiew dem Ssusdalj (Moskauer Fürsten sind seine Erben) zu unterwerfen einen langjährigen erbitterten Kampf mit der wolhynischen Dynastie der Mstyslawiden und ihrem hervorragendsten Vertreter Isjaslau (1136 — 1154), begannen. Der Antagonismus dieser beiden fürstlichen Dynastien ist der erste historische Kampf zwischen der Ukraine und Moskowien, und den Bund des Halytscher Fürsten mit dem letzteren könnte man die erste Erscheinung des politischen

 

 

____

19

 

Moskalophilismus auf unserem Gebiet nennen. Auch in diesem Kampfe nimmt Ungarn regen Anteil, offenbar auf Seiten Isjaslaus. König Géza II. (vermählt mit der Schwester Isjaslaus) unternimmt eine ganze Reihe von Feldzügen über die Karpathen, doch dieser große Kampf brachte keiner Partei einen entscheidenden und dauernden Erfolg, und Kiew, das Hauptobjekt des Streites, hat am meisten gelitten; durch die Ssusdaljer (1169) barbarisch verwüstet, hat es den Rest seiner führenden Stellung und politischen Bedeutung eingebüßt. Galizien hat sich ungeachtet schwerer Stunden behauptet und erfreute sich unter Jaroslau, dem Sohne Wolodymyrkos sogar eines längeren Friedens und kulturell-wirtschaftlicher Entfaltung. Nur unter Wolodymyr II. wurde es für kurze Zeit eine ungarische Provinz. Dieser Fürst, aus Halicz durch Roman von Lodomerien vertrieben, führte Ungarn herbei, welche zwar die Hauptstadt am Dnister zurückeroberten, aber in ihr einen ungarischen Statthalter einsetzten (1188), Wolodymyr dagegen gefangen nahmen und nach Ungarn brachten. Doch der Fürst entfloh aus der Gefangenschaft, fand Hilfe beim Kaiser Friedrich I. und bestieg aufs neue in Halitsch den Thron (1189). Eine historische Spur dieser vorübergehenden ungarischen Okkupation ist noch im Titel der ungarischen Könige „rex Haliciae" oder „Galiciae" zurückgeblieben. Nach dem kinderlosen Tode Wolodymyrs II. endete der mehr als hundertjährige galizisch-lodomerische Antagonismus mit der Union beider Länder unter Isjaslaus Enkel Roman dem Großen (1200).

 

3. Galizisch-lodomerisches Reich (1200 — 1340)

 

Das politische Werk Romans, einer von den größten heroischen Gestalten in der ukrainischen Geschichte, obwohl nur aus kurzen chronikalischen Fragmenten bekannt, die Vereinigung beider feindlicher Länder in ein politisches Ganze war die Verkörperung der ukrainischen politischen Idee gegen die Bestrebungen des neuen, nach dem oben erwähnten Verfall Kiews, durch die ssusdalisch-moskowitischen Fürsten repräsentierten Panrussismus. Erzogen unter dem Einflüsse der westeuropäischen Kultur, ein Anhänger des Katholizismus, nimmt er auch den Mittelpunkt des religiös-kulturellen Lebens Osteuropas, Kiew, unter seine Gewalt und schützt ihn durch seine ritterlichen Kriegszüge vor den Überfällen der Steppennomaden der Polouzen aus dem Dongebiete, für welche er ein „Löwe, Tiger und Krokodil" war. Nachdem Roman (im Einvernehmen mit dem Deutschen Orden) seine Herrschaft nach Norden den Bug entlang bis zum Narewflusse ausgebreitet hatte, regierte er ein Territorium, welches ihm einen Ehrenplatz in Europa verlieh und ihn zum begehrten Bundesgenossen machte. Mit Ungarn lebte er im besten Einvernehmen, in Deutschland war er ein Parteigänger der Hohenstaufen. Als solcher geriet er mit dem polnischen Fürsten Leszek in Konflikt und fiel in der Schlacht bei Zawichost (1205) in der Blüte des Lebens und politischer Pläne. Einer der schwersten Schicksalsschläge in unserer Geschichte, doch nicht nur in der unsrigen, sondern auch ganz Mitteleuropas. Das nationale Unglück kam darin zum Ausdruck, daß in dem durch Roman kaum konstruierten Staate beim Kindesalter seiner Söhne alle feindlichen Strömungen, denen ein allgemein-ukrainisches Reich unlieb oder unterschätzt war, auflebten.

 

 

____

20

 

im Lande einen entsetzlichen (vierzigjährigen) politischen Wirrwarr, verbunden mit Verwüstung, fremden Einfällen, Okkupation usw. hervorriefen, und — was das wichtigste ist — das Land gegen eine solche Weltkatastrophe, wie die Invasion der Mongolen in Europa, macht- und ratlos machten. Das Fehlen einer europäischen Vormauer im Stile Romans haben damals auch die Nachbarländer Ungarn, Polen und Deutschland peinlich empfunden. — Beide Romaniden, Danylo und Wassyljko, waren, obwohl ansehnliche Gestalten unserer Geschichte, dem Vater nicht gewachsen, doch hauptsächlich der Umstände wegen. In der Zeit des Patrimonialrechtes, wo niemand das Reich von der Person des Fürsten trennte, war ihr Kindesalter das größte Hindernis in der Fortsetzung und Vollendung des väterlichen Werkes. Die galizisch-lodomerische Union hatte, nach mehr als hundertjähriger gegenseitiger Bekämpfung beider Länder, zuviel äußere und innere Feinde, um sich auch weiter ohne tiefe Erschütterungen zu erhalten. Die Idee der Einheit beider Länder repräsentierte Danylo (1205 — 1264) und ihm fiel das Los zu, unter Erfolgen und Mißerfolgen, als Triumphator und Geächteter, durch volle 40 Jahre abzuwarten und zu kämpfen, bis diese Idee völlig in Erfüllung ging. Politische Schwierigkeiten in dieser Reihe von Bemühungen kamen von Seiten 1. des galizischen Adels 2. verwandter fürstlicher Dynastien, 3. fremder Staaten. —

 

Auf galizischem Boden ist ein eigenartiger Adel emporgekommen, dessen Ursprung zwar wenig klar, dessen historische Rolle aber sehr charakteristisch und zu allen Zeiten bis zum heutigen Tage gleich ist, ohne Rücksicht auf die national-kulturelle Veränderung dieser Aristokratie und ohne Rücksicht auf das politische Schicksal und die staatsrechtliche Stellung Galiziens. Im Charakter dieses Adels liegt ein gewisser Grundzug des Anarchismus, welcher in der Neigung zur zügellosen Willkür, in der Herrschsucht und Rücksichtslosigkeit gegen die Untertanen, in der Unbotmäßigkeit und Treubruch gegen den Fürsten, bei gleichzeitigen sklavischen Formen im Umgang sich äußernd, ein Unglück für jedes Reich werden müßte. Der mächtige Arm Romans schaffte sich Rat mit diesem Elemente, doch unter Danylo hat es sehr viel Unglück gestiftet. Selbst teilte es sich in Geschlechterkategorien, welche ohne einen tieferen politischen oder sozialen Gedanken, jedem Prätendenten oder Rivalen, der es verstand, sie entsprechend zu belohnen, zu Diensten bereit waren. Wir haben sogar ein Beispiel, daß einer von den Bojaren selbst nach der Fürstenkrone langte und tatsächlich durch kurze Zeit in Halytsch herrschte (1214). Von demselben Geiste des Haders und der Unbotmäßigkeit waren auch die Bischöfe umweht. — Eine solche ideenlose Opposition des Adels nützten verschiedene Rivalen des Hauses Roman um den galizischen (weniger um den lodomerischen) Thron aus. Die ersten angesehenen Kandidaten waren aus der stark verzweigten und verarmten Tschernihower Dynastie, die unter dem Einfluß der Ssusdaljer Politik standen. Die Verwandtschaft mit den Rostyslawiden gab drei Brüdern, den Söhnen Igors, den Anlaß, unter Beihilfe mancher früherer Feinde Romans und des örtlichen Adels sich der Hauptstadt Halytsch zu bemächtigen, aber nach kurzer Zeit ereilte sie hier aus den Händen derselben Adeligen ein schändlicher Tod an dem Galgen (1211). Nach kurzdauernder usurpatorischer Herrschaft des Bojaren Wolodyslau Kormyljtschytsch gewann in Galizien die ungarische

 

 

____

21

 

Politik das Übergewicht. Der damalige König Andreas II., ein Freund Romans und seiner Witwe, trat gleich im Jahre 1205 als Vormund der unmündigen Kinder auf; nach damaliger Sitte betrachtete er sie als seine Vasallen und begann auf Grund dessen zu seinem früheren Titel „rex Galiciae" noch „rex Lodomeriae" hinzuzusetzen. Doch seine persönlichen, nicht allzu hohen Fähigkeiten, Mangel an nötigen Mitteln, der Kreuzzug und unaufhörliche Konflikte mit dem ungarischen Adel waren die Ursache, daß diese Vormundschaft größtenteils nur scheinbar bestand, und daß erst die Usurpation Wolodyslaus ihn zu entschiedeneren Eingriffen zwang, jedoch — gemäß der Tradition des Jahres 1188 — nicht zugunsten Danylos, sondern zugunsten seines eigenen Sohnes Koloman, welchen er auf Grund des Zipser Vertrages mit Salomea, der Tochter des Krakauer Fürsten Leszek vermählte, auf den Halytscher Thron erhob (1214) und im Einvernehmen mit dem Papste zum König krönte. Das neue Königspaar war auch noch im Kindesalter, die Gewalt ruhte in den Händen ungarischer Heerführer und diese kümmerten sich um die Sympathien der galizischen Bevölkerung nicht im geringsten. Daran scheiterte nicht nur der Plan Andreas’ und der angesehenen Galizianer, im Lande eine kirchliche Union einzuführen (Galizien gehörte zur Kiewer Metropole), sondern es wurde auch die Herrschaft Kolomans selbst erschüttert. Die Intrigen Leszeks und die Bemühungen der den Ungarn und der Union abgeneigten Elemente führten nach Galizien den altruthenischen „Richard Löwenherz", den früheren Fürsten von Nowgorod, Mstyslau Udalyj; er eroberte Halytsch und nahm auch Koloman gefangen (1220). Angesichts dessen mußte der ungarische König Mstyslau als Fürsten von Galizien anerkennen, wofür dieser Peremyschlj an den zweiten ungarischen Königssohn, Andreas, abtrat (1222). Kurz darauf organisierte sich auch gegen Mstyslau eine Opposition, und der Mittelpunkt der Verschwörung war — Peremyschlj. Es kam zum Konflikt. In Halytsch setzte sich Andreas fest (1227), dem Mstyslau dagegen blieb nur Podolien, und kurz darauf auch nur die Mönchkutte, übrig.

 

Jetzt trat der bisher zurückgesetzte rechtliche Erbe Galiziens, Danylo, in den Vordergrund. In den Jahren 1230 — 1233 führte er mit wechselndem Glück Kämpfe gegen Andreas, welcher auch im belagerten Halytsch starb. Der baldige Tod des Königs Andreas II. selbst (1235) beendigte die Bemühungen Ungarns, den Arpaden die Herrschaft in Halytsch zu sichern — eine Politik, die, durch andere Hände geleitet, zu einem anderen Erfolge hätte führen können. Ungeachtet seines Sieges über den ungarischen Königssohn anerkannte Danylo auch fernerhin die nominelle Oberhoheit Ungarns über Galizien, aber der neue König Béla IV. war ihm anfangs abhold und begann den neuen Prätendenten Rostyslau (aus der tschernihowschen Dynastie), den er zu seinem Schwiegersohn machte, zu unterstützen. Der neue Kampf um Halytsch endete erst im Jahre 1245 in der Schlacht bei Jaroslau, wo Rostyslau mit dem ungarischen Heere und seinen galizischen Parteigängern entscheidend geschlagen wurde und sich nach Ungarn zurückzog (dort wurde er Banus von Slavonien). Gleich hierauf begannen sich die Beziehungen zwischen Galizien und Ungarn freundschaftlich zu gestalten: es gewann das Verständnis der gemeinsamen Gefahr und gemeinsamer politischer Ziele die Oberhand, das auch im Familienbündnisse zum

 

 

____

22

 

Ausdruck kam (Leo, der Sohn Danylos, vermählte sich mit der ungarischen Königstochter).

 

Der Erfolg Danylos bei Jaroslau hatte nicht so sehr eine politische, als vielmehr eine dynastische Bedeutung. In politischer Hinsicht war seine gehörige Ausnutzung nicht mehr möglich und zwar wegen des Umsturzes im Osten, infolge des großen Einfalles der Mongolen, dem auch Kiew eben in dem Momente zum Opfer fiel, als es Danylo geglückt war, auch hier die galizische Statthalterei zu erneuern. Der Einfall hatte für das ukrainische Volk überhaupt, und für das galizisch-lodomerische Reich im besonderen, katastrophale Folgen. Die Tataren machten nicht am Dnipro halt, sondern nahmen das Land bis zur Linie Slutsch-Uschytzja, das heißt — beinahe bis zur heutigen Ostgrenze Galiziens, unter ihre unmittelbare Gewalt. Die dauernd besetzten Gebiete verödeten, außerdem fielen auch die westlichen Territorien des Reiches, ähnlich wie Ungarn, einer schrecklichen Verwüstung anheim.

 

Neben all diesem Unglück mußte sich Galizien-Lodomerien auch das gefallen lassen, daß ihr Herrscher Danylo dem Chan in seinem Lager an der unteren Wolga, wohin er sich gleich nach dem Siege über Rostyslau begab, persönlich huldigte. Diese unangenehme Demütigung des Fürsten war zwar nicht ganz gleichbedeutend mit der Abhängigkeit eines Vasallen, das Verhältnis der tatsächlichen Kraft des galizisch-lodomerischen Reiches zu der der Goldenen Horde war jedoch derart, daß dem ersteren keine andere Wahl übrig blieb, als sich jener entweder unbedingt zu unterwerfen (ähnlich wie es die moskowitischen Fürsten taten), oder sich zur endgültigen Entscheidung mit ihr vorzubereiten. Der ritterliche Danylo hat offenbar das letztere gewählt.

 

Er hat die letzten Jahrzehnte seines Lebens der Revanche- und Befreiungsidee gewidmet. Der Bau und die Befestigung von Burgen unter Mithilfe der privilegierten deutschen Kolonisten sollte die Wehrfähigkeit des Landes selbst heben. Damals entstand, an Stelle des in Verfall geratenen Zwenyhorod, Lemberg, und vor ihm noch Cholm, blühte Wolodymyr („eine Stadt, wie man sie auch in Deutschland nicht gesehen") unter anderen; dagegen verlor Halytsch, wegen Lahmlegung des Handelsweges am Dnister und Pruth durch die Tataren immer mehr an Bedeutung. Außerdem war Danylo, unter dem Einfluß des päpstlichen Gesandten an die Goldene Horde Piano Carpini, von der Idee eines gemeinsamen Kreuzzuges gegen die Tataren durchdrungen und legte viel Energie im Abschließen entsprechender politischer Bündnisse an den Tag.

 

Vor allem mußte man natürlich die Gunst der bedeutendsten moralischen Kraft der damaligen politischen Welt, des Apostolischen Stuhls, besitzen. Nach längeren Verhandlungen zwischen Danylo und Papst Innozenz IV. kam die Verständigung zwischen beiden Parteien im Jahre 1253 durch die Krönung Danylos zum Könige und den Beitritt der galizisch-lodomerischen Kirche zur Union mit Rom zum Ausdruck. Das dauernde Bündnis mit Ungarn nach der Schlacht bei Jaroslau führte dazu, daß Galizien am Kampfe um das Erbe der österreichischen Babenberger tätig teilnahm: nach dem Einvernehmen Bélas IV. mit dem Papst vermählte sich Danylos Sohn Roman mit der österreichischen Erbin Gertrud und trat den Kampf mit Ottokar von Böhmen an, aber in Ermangelung einer ausreichenden Unterstützung von selten Bélas

 

 

____

23

 

gab er die ungleiche Konkurrenz auf; sein Vater dagegen leistete Béla auch fernerhin Hilfe. Außerdem suchte noch Danylo in Polen, Litauen und Preußen 1254 Bundesgenossen zu gewinnen, aber die Tataren verfolgten mit wachsamem Auge diese politischen Pläne und zerstörten, durch einige Kriegszüge in Danylos Gebiete, hauptsächlich durch den großen Einfall 1259, seine Hoffnungen auf die Vertreibung der Tataren über Dnipro hinaus. Abgesehen von dem Tode Innozenz IV., ist es bekannt, daß die politische Lage Europas Mitte des 13. Jahrhunderts die Verwirklichung eines Kreuzzuges nach Osteuropa direkt ausschloß. Unser Reich war durch die Tataren nicht nur neuerdings verwüstet, sondern auch seine Herrscher waren gezwungen, die den wilden Steppennomaden unangenehmen städtischen Befestigungen durch eigene Leute niederreißen zu lassen. Nach diesem großen politischen Mißerfolg, der auch den Fall der kirchlichen Union nach sich zog, gebrochen, lebte Danylo nicht mehr lange ( 1264) und etwas später starb auch sein Bruder Wassyljko, der die ganze Zeit im politischen Schatten seines Bruders stand, eines Herrschers, welcher unter weniger schwierigen Verhältnissen im Hinblick auf seine Ritterlichkeit, Standhaftigkeit, Geistesbildung und Humanität, eine glänzende politische Erscheinung gewesen wäre.

 

Das — im allgemeinen genommen — negative Resultat der Politik Danylos in den letzten zwanzig Regierungsjahren war die Ursache, daß sein Sohn Leo (1264 — 1301) die bisherigen politischen Prinzipien etwas umänderte und deshalb tatsächlich bessere Erfolge als sein Vater erzielte. Er war bestrebt mit den Tataren in Eintracht zu leben und zauderte nicht an ihren Feldzügen in benachbarte Länder (Ungarn, Polen und Litauen) teilzunehmen, um nur seine Länder nach Möglichkeit vor Verwüstung zu schützen. Seine nahe Verwandtschaft mit den Arpaden gab ihm Gelegenheit, die Ansprüche seines Sohnes Georg auf ihre Erbschaft geltend zu machen und am Kampfe um dieselbe zu Ende des 13. Jahrhunderts teilzunehmen. Nachdem er in Ungarn eine geneigte Adelspartei gefunden hatte, gelang es ihm, sich der nordöstlichen Komitate mit Munkács zu bemächtigen, welche auf Grund dessen beinahe ein Menschenalter hindurch einen Bestandteil des galizisch-lodomerischen Reiches bildete. In diese Zeiten fällt auch die Stammesformierung und kirchliche Gestaltung des sogenannten ungarischen Ruthenenlandes. In Verbindung mit der ungarischen Politik Leos standen auch seine Beziehungen zu den Böhmen. König Wentzel II., der bestrebt war, die Herrschaft über ganz Polen zu erlangen, verdankte einen großen Teil seines Erfolges in dieser Richtung seinem treuen Freunde Leo, mit dem ein Vertrag in bezug auf Ungarn und Polen bestand. Außerdem setzte er die freundlichen Beziehungen mit dem Deutschen Ritterorden in Preußen, größtenteils auf Kosten Litauens, fort.

 

Die politischen Erfolge Leos gaben seinem Sohne und Nachfolger Georg I. (1301 — 1308) die Möglichkeit, den Glanz seiner Herrschaft durch die Krönung zum Könige zu heben. Überhaupt ist der Anfang des 14. Jahrhunderts ein Zeitpunkt des neuen Aufblühens Galiziens-Lodomeriens, des damals unstreitig mächtigsten Reiches in diesem Teile Europas. Diese neue Stellung war durch den momentanen Verfall der tatarischen Macht und durch den inneren Zerfall Ungarns, Polens und Litauens bedingt. In eben dieser Zeit war der Prozeß der Differenzierung

 

 

____

24

 

des alten Ruthenenreiches und der Trennung ukrainischer Territorien von den moskowitischen, der schon im 11. Jahrhundert begann, sehr weit fortgeschritten, indem er auch die bisher für ganz Osteuropa, gemeinsame Sphäre — die Sphäre der kirchlichen Organisation — berührte. Dies stand in Verbindung mit dem historischen Schicksal Kiews.

 

Die „Mutter der ruthenischen Städte" hatte zwar ihre alte politische Bedeutung als Metropole des Ruthenenreiches eingebüßt, behielt aber den alten Charakter eines religiösen Mittelpunktes für ganz Osteuropa. Die Beherrschung Kiews durch die Tataren benahm nicht nur dem galizisch-lodomerischen Reiche die Möglichkeit aus diesem ideellen Kapital Nutzen zu ziehen, sondern führte auch eine entscheidende Wendung in der geschichtlichen Rolle der Metropole herbei. Um die Wende des 13. und 14. Jahrhunderts sah sich der Kiewer Metropolit gezwungen, seine Residenz von Kiew nach dem Moskauer Gebiete, dessen Fürst ein ständiger Vasalle der Goldenen Horde war, zu verlegen. Nicht umsonst feiert die moskowitische Kirche diesen Würdenträger als einen Heiligen; durch seine (wahrscheinlich unfreiwillige) Tat hat er den moskowitischen Herrschern ein unschätzbares Kapital in die Hände gespielt, welches bis zum heutigen Tage der moskowitischen politischen Idee hohe Zinsen abwirft (das Patriarchat und der Caesareopapismus). Ein solches Schicksal der Kiewer Metropole konnte nicht umhin, den galizischen Herrschern Sorge zu machen und im Verein hiermit war einerseits ihre Neigung zur kirchlichen Union mit Rom, anderseits das Bestreben eine besondere, von der moskowitischen unabhängige, galizische Metropole zu begründen. Die Sache der Union, die im 13. Jahrhundert in der ganzen östlichen Christenheit lebhaft besprochen wurde, führte sowohl in anderen Ländern als auch in Galizien, nicht zum erhofften Erfolg. Ungeachtet der Zuneigung der Fürsten und der Priesterschaft selbst vermochte die Union aus verschiedenen Gründen, welche hier nicht erörtert werden können, weder im 13. noch im 14. Jahrhundert tiefere Wurzeln zu schlagen, jedenfalls haben die damaligen Bemühungen bis zu einem gewissen Grade den Grund für die spätere Entwicklung der kirchlichen Union, welche sozusagen zur nationalen ukrainischen Religion wurde, vorbereitet. Auch die Bemühungen, ein galizisches Erzbistum zu begründen, stießen auf nicht geringe Schwierigkeiten. Den energischen Bemühungen Leos I. und Georgs I. gelang es doch, gleich nach dem Fall der Kiewer Metropole, beim Konstantinopeler Patriarchen die Einsetzung eines besonderen Metropoliten für Halytsch zu erwirken (1303), doch Moskau intrigierte in Konstantinopel mit allen Mitteln so lange, bis es die Aufhebung des galizischen Erzbistums erreichte (1347). Diese Angelegenheit lebte jedoch nach dem Untergang des galizisch-lodomerischen Reiches wieder auf.

 

Der frühe Tod König Georgs I. war für das Reich ein analoges Unglück wie der Tod Romans des Großen. Die unmündigen Söhne Georgs, Leo und Andreas (1308 — 1323), erzogen unter dem Einfluß des Wiederherstellers Polens Wladyslaw Lokietek, befanden sich, wegen der Ausbreitung und Erstarkung aller Nachbarstaaten, in sehr schwierigen Verhältnissen. Ihre Bewerbung um die ungarische Krone gegen Karl Robert endete mit dem Verlust der Besitzungen jenseits der Karpathen;

 

 

____

25

 

einzelne Grenzgebiete gingen an Polen oder Litauen verloren, schließlich fanden die Fürsten selbst im Kampfe mit den Tataren um die Befreiung Kiewiens den Tod. Mit ihnen starb die männliche Linie der Nachkommen Romans aus und nach kurzem Wirrwarr kam schließlich die Gewalt im galizisch-lodomerischen Reiche in die Hände des Schwestersohnes der früheren Fürsten, des polnisch-masowischen Prinzen Boleslaw, der unter dem Namen Georg II. die Reihe der selbständigen Fürsten von Galizien-Lodomerien schließt (1340). Obwohl er, väterlicherseits, polnischer Abstammung war, trachtete er dem damaligen Wachstum Polens gewisse Grenzen zu ziehen und aus diesem Grunde unterhielt er nicht nur den traditionellen preußisch-galizischen Bund, der durch die gemeinsamen Interessen Litauen gegenüber diktiert wurde, sondern erweiterte ihn noch aus Rücksicht auf seine ähnliche Interessengemeinschaft Polen gegenüber. Aber diese Politik hatte nicht den erwünschten Erfolg. Einerseits kam zwischen Polen und Ungarn ein enger Bund zustande (1339) und andererseits verwickelte sich Georg II. in einen (wenig geklärten) Konflikt mit dem galizischen Adel, den er am Beginn des Jahres 1340 mit seinem Leben büßte.

 

Auf die galizisch-lodomerischen Territorien warfen sich jetzt ländergierige Nachbarn.

 

4. Der Kampf um Galizien im 14. Jahrhundert

 

Der Tod des letzten galizisch-lodomerischen Fürsten gab Anlaß zu einem nahezu sechzigjährigen Kampfe um sein Erbe. Anfangs beteiligten sich vier politische Mächte daran, nämlich: Ungarn, Polen, Litauen und die Tataren. Da aber die letzteren im ständigen Verfall begriffen waren, so waren sie bald gezwungen, die Kampfstätte im politischen Sinne zu räumen. In die Mitte des 14. Jahrhunderts fällt der Aufschwung der drei erwähnten Reiche, insbesondere entfaltete Litauen eine große Expansivkraft in südlicher Richtung. Die Fürsten dieses Reiches, die von altersher mit ruthenischen Fürstengeschlechtem verschwägert waren, bereiteten sich vor, in Osteuropa gewissermaßen die Rolle des Herrscherhauses Rurik zu wiederholen, indem sie das galizisch-lodomerische Reich schon früher vom Norden bis zum Bugfluß und Prypetj zurückdrängten. Nun trat einer von ihnen, der mit Georg II. verwandte Ljubart, der Sohn Gedimins, als Bewerber um Galizien und Lodomerien auf, begegnete jedoch in dieser Bestrebung ähnlichen Ansprüchen Ungarns und Polens. Die Rechte Ungarns zu unseren Ländern entsprangen den uns schon bekannten früheren Beziehungen zwischen beiden Parteien. Im Vergleich zu diesen Rechten entbehrten die Ansprüche Polens fast jeder theoretischen Berechtigung, gleichwohl waren seine damaligen Beziehungen zu Ungarn derart, daß sich schließlich das ganze Streitobjekt in polnischen Händen fand. Der Verlust Schlesiens an Böhmen und des östlichen Pommerns (jetzt Westpreußen) an den Deutschen Orden zwangen einerseits das neuorganisierte polnische Reich und seinen begabten Herrscher Kazimir den Großen, für die Eroberung jenes europäischen Zentrums, welches Galizien darstellte, ihre ganze Energie einzusetzen; andererseits vereinbarte der Hausvertrag zwischen den polnischen Piasten und ungarischen Angiovinen (1339), der zu einer vorübergehenden Union führte (1370

 

 

____

26

 

bis 1382), für längere Zeit die politischen Bestrebungen beider Staaten, oder machte, besser gesagt — wie es sich später zeigte — das ungarische Reich den polnischen Zielen dienstbar. Die ersten Kriegszüge Kazimirs gegen Galizien unter ungarischer Mithilfe brachten den erwünschten Erfolg nicht, Lodomerien mit dem Gebiet am linken Bugufer (Belz, Cholm) kam an Litauen, Galizien hingegen behauptete seine faktische Selbständigkeit noch volle neun Jahre (1340 — 1349) hindurch, unter der Führung eines Adeligen, des Peremyschljer Woiwoden Demeter, der gleichzeitig die Oberhoheit aller drei konkurrierenden Reiche anerkannte. Eine Änderung trat erst nach seinem Tode ein, als es Kazimir gelang, ganz Galizien und vorübergehend auch das Buggebiet mit Belz und Volodymyr nach Norden bis zum Brest zu erobern. Aber dieser Erfolg war, entsprechend der Macht des polnischen Königs, sehr unsicher. Und damals kam ein Vertrag zwischen Polen und Ungarn (1350) zustande, in welchem festgesetzt wurde : die ungarischen Könige hatten und haben Rechte auf Galizien und Lodomerien, doch werde der polnische König dieselben bis an sein Lebensende regieren, und nachher kommen diese Länder an die ungarische Krone; nur im Falle, daß Kazimir einen Sohn hinterläßt, hätte Ungarn an ihn 100000 Gulden Abfertigung zu zahlen. Auf Grund dieses Vertrages nahm der ungarische König Ludwig regen Anteil am Kampfe mit Litauen (1351 — 1353), welcher erst im Jahre 1366 mit der formellen Teilung des ehemaligen galizisch-wolhynischen Reiches endete: Galizien mit Westwolhynien blieb bei Polen, Ostwolhynien mit Luzk bei Ljubart, und das Gebiet von Belz und Cholm („Ukraine" am linken Bugufer) beim litauischen Fürsten Georg. Der Tod Kazimirs (1370) änderte die Verhältnisse insofern, als ganz Wolhynien (mit Wolodymyr) in litauische Hände kam, und Galizien, gemäß dem Vertrage vom Jahre 1350, Ungarn zufiel. —

 

Die litauischen Fürsten, die sich später des ganzen Galiziens zu bemächtigen versuchten, veranlaßten den großen Feldzug Ludwigs gegen Belz und Cholm (1377), welcher mit dem Fall des Fürsten Georg und mit einer Verminderung der Besitzungen Ljubarts (das Gebiet von Brody) endete, weshalb letzterer auch gezwungen war, die Oberhoheit Ungarns über sich anzuerkennen. Ludwig übergab Galizien zuerst seinem Palatin Ladislaus, dem Fürsten von Oppeln, welcher dasselbe teils als Statthalter (gubernator), teils als Fürst (dominus et heres) regierte (1372 — 1378); später hat man es, mit einem besonderen Generalhauptmann (capitaneus generalis) an der Spitze, unmittelbar Ungarn einverleibt. Als nach dem Tode Ludwigs (1382) eine seiner Töchter (Marie) zur ungarischen Königin, die zweite (Hedwig) zur polnischen geworden war, wurde die Frage der staatsrechtlichen oder vielmehr patrimoniellen Zugehörigkeit Galiziens zu einem Streitobjekt zwischen den beiden Staaten. Polen, das die Vermählung seiner Königin mit dem litauischen Großfürsten Jagello sowie die polnisch-litauische Union (1385) zustande gebracht hatte, versuchte jetzt mit allen Mitteln sich im Besitze des für dasselbe nunmehr unbedingt notwendigen Galiziens zu behaupten. Hedwig beteiligte sich persönlich an dem Feldzuge, vertrieb die ungarischen Besatzungen und verkündete die Annexion Galiziens an Polen (1387). Das geschah entgegen den Bemühungen des oben erwähnten Fürsten Ladislaus, der unser Land dem böhmischen König Wenzel „verschrieb", aber bei der bestehenden Passivität

 

 

____

27

 

oder vielmehr Machtlosigkeit Ungarns nichts ausrichten konnte. Sein neuer König Sigismund trachtete nur durch diplomatische Verhandlungen sich die Rechte der ungarischen Krone auf Galizien zu sichern (1412, 1415, 1423), gleichwohl kam die Sache über die Wiederholung der im Vertrage 1350 dargelegten Bedingungen nicht hinaus.

Galizien blieb bis zum Jahre 1772 bei Polen; die politische Aufmerksamkeit Ungarns mußte sich (abgesehen von der Episode des Jahres 1657) einer anderen Richtung zuwenden und ihre historischen Rechte zum Karpathenland kamen erst gelegentlich der ersten Teilung Polens zur Geltung. —

 

5. Galizien unter der Herrschaft Polens (1387 — 1772)

Annexion an Österreich

 

Stellen wir uns die historische Karte Mitteleuropas in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts vor. Fast das ganze heutige Ost- und Mittelgalizien gehört zu Ungarn; Westgalizien, hinter Wislok, gehört zu Polen, welches ziemlich annähernde Grenzen hat, wie das heutige Russisch-Polen; Schlesien gehört zu Böhmen, welches im dynastischen Bund mit Ungarn verbleibt; die Weichselmündung gehört zu Preußen; die Gebiete vom Bugflusse hingegen bis zum Baltischen Meere, dem Ursprünge Dnipros und dem Schwarzen Meere an Litauen. Zwischen Polen und Litauen kommt es zu einer Union (1385) — steht nicht ein fertiges Surrogat des heutigen Rußland vor uns? Und gegen wen wandte sich im vorherein die Macht der verbündeten Reiche? Gegen Böhmen-Ungarn, dessen Karpathenprovinz ein unangenehmer Keil im polnisch-litauischen Staatsorganismus war. Ihre Annexion (1387) war nicht so sehr eine Vollendung der Union (diese kam erst viel später), sondern geradezu eine Vorbedingung zum Gelingen dieses wichtigen Bundes. Gleich darauf warf sich das polnisch-litauische Reich mit seiner ganzen Macht auf die Eroberung der Küsten des Baltischen Meeres auf Kosten des Deutschen Ordens (1410, 1466). Wird hier nicht die Erinnerung an unsere Tage wachgerufen? Wenn das kurzdauernde Kiewer Reich Wladimirs des Großen dem Namen und der Tradition nach gewissermaßen ein meteorischer Prototypus des heutigen Rußland genannt werden kann, so wiederholt das polnisch-litauische Reich diesen Typus getreuer, breiter und, was besonders wichtig ist, dauernder. — Das polnisch-litauische Reich hatte zwar jene historische Rolle, welche den günstigen Verhältnissen seiner Lage und Entstehung, sowie seinen ersten politischen Erfolgen nach, erhofft werden konnte, nicht auszuspielen vermocht, dennoch war es bis Mitte des 17. Jahrhunderts eine europäische Großmacht. Die einseitige Entwicklung seines inneren politischen Lebens (zügellose Herrschaft der Schlachta, die religiöse Intoleranz gegenüber der griechisch-orientalischen Kirche und die nationale Unterdrückung der Ukrainer) raubte dem Staate den Aufschwung nach außen hin (wodurch Ungarn vor der Gefahr einer polnischen Expansion über die Karpathen hinaus geschützt wurde), und führte Marasmus, Auflösung und Anarchie im Innern herbei. Ein typisches Muster einer solchen sozial-politischen Wirtschaft und national-kulturellen Krankheit des polnisch-litauischen Reiches gab eben Galizien ab. (Lozinski: „Prawem i lewem").

 

 

____

28

 

Dasselbe behielt seine historischen Grenzen als ein besonderes administratives Gebiet, die sogenannte ruthenische Woiwodschaft (Palatinat) mit den Kreisen von: Peremyschlj (Przemysl), Sanok, Lemberg, Halytsch, Terebowlja (Trembowla), Cholm und die Enklave der Woiwodschaft Belz die ganze Zeit seiner Zugehörigkeit zum polnischen Reiche hindurch. Im Momente der Vereinigung Galiziens gehörten alle anderen Gebiete des ehemaligen galizisch-lodomerischen Reiches, einschließlich das Dniprogebiet, zu Litauen, welches trotz der Personalunion im Inneren ein anfangs vollkommen selbständiges Reich bildete. Es ist interessant, daß die Polen sofort auf diesen Gedanken verfielen, durch welchen der französische König Ludwig XIV. dreihundert Jahre später ganz Europa in Staunen setzte, indem er die Reunionstätigkeit begann. Sie stellen sich auf den Standpunkt der historischen Rechte Galiziens, verlangten vom verbündeten Litauen die Abtretung aller ukrainischen Territorien und erreichten schließlich (in der Lubliner Union 1569), daß Prypetj diesseits und Sosch jenseits der Dniproflusses zur polnisch-litauischen Grenze festgesetzt wurden. In den auf diese Weise vereinigten ukrainischen Ländern entwickelte sich eine lebhafte national-politische und kulturelle Bewegung. Hiebei spielte Galizien-Lodomerien mit seiner historischen Überlieferung eine führende Rolle, indem es allen anderen Territorien geistige Richtung gab und eine ganze Reihe angesehener Feldherren, Politiker und Schriftsteller lieferte. Die durch Kazimir den Großen erneuerte Halytscher Metropole vereinigte sich nach der Einigung der ukrainischen Länder mit der erneuerten Kiewer Metropole. Doch hatte die ganze ukrainische nationale Bewegung — aus eben berührten Gründen — einen antipolnischen Charakter. Die schwache Seite des ukrainischen nationalen Lebens lag vor allem darin, daß die ukrainischen Länder das Hinterland Polens bildeten und daß die ukrainische politische Macht (das Kosakentum) sich in offenen und nur spärlich besiedelten Grenzgebieten konzentrierte (die bewaffnete Zaporoger Hand war zu fern vom galizisch-wolhynischen Haupte), weshalb auch die Bestrebungen der Ukrainer zur politischen Emanzipation, trotz momentaner glänzender Erfolge, im allgemeinen genommen, erfolglos blieben und nur den moskowitischen Zaren die Möglichkeit boten, der alten toten Tradition Ssusdaljs einen belebenden Geist einzuhauchen und vom anderen Ende, von der Wolga her, „das Sammeln russischer Länder" zu beginnen — ein Prozeß, der schon zum drittenmal in der Geschichte Osteuropas begann und hauptsächlich auf Kosten des polnisch-litauischen Reiches verlief.

 

Bis zum Jahre 1795 schob sich die Westgrenze Rußlands bis zur Linie Njemen-Narew-Bug-Zbrucz vor. Hinter derselben blieb von den ukrainischen Territorien nur Galizien mit dem Gebiete von Belz-Cholm und einem Abschnitte Wolhyniens, welche auf Grund der Teilungsverträge vom Jahre 1772 und 1795 als ehemaliges Gut der ungarischen Krone den Habsburgern zufielen (vertragsgemäß sollte ursprünglich Sereth die Ostgrenze bilden, aber der österreichischen Regierung gelang es, dieselbe auf Zbrucz zu verschieben). In derselben Zeit (1774) wurde auch noch die Bukowina angeschlossen. Auf diese Weise war das Territorium des ehemaligen galizisch-lodomerischen Reiches zwischen Österreich und Rußland aufgeteilt. Nur die Passivität der österreichischen Politik des Jahres 1793 war die Ursache, daß auch der Hauptteil

 

 

____

29

 

Wolhyniens (auf Grund desselben historischen Rechtes wie Galizien) nicht Österreich zufiel und daß damals die erste österreichisch-russische Grenze nicht längs der Flüsse Horynj und Slutsch gezogen, sondern am Bug festgesetzt wurde. Doch auch diese Grenze verschob sich sehr bald in einer für Österreich noch ungünstigeren Richtung! Die Bildung des Fürstentums Warschau (1807), seine Erweiterung (1809) und schließlich Umänderung in das in einer Union mit Rußland stehende sogenannte Kongreß-Polen (1815) schufen die heutige Grenzlinie. Dabei ging, abgesehen von der kurzdauernden Abtretung des Gebietes von Tarnopol 1809 — 1815, auch der größere Teil des Territoriums zwischen Bug und Wieprz (Samostje-Cholm) für Österreich verloren. Solange sich noch in Polen die Autonomie erhalten hatte, hatte die Unbequemlichkeit der neuen Grenze für die Monarchie keinen besonderen praktischen Wert, doch von den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts wurde sie zu einem drohenden memento für Wien. Es sind ja offenbar die Verhältnisse aus den Jahren 1385 — 1387 zurückgekehrt!

 

6. Galizien als historischer Kriegsschauplatz im Mittelalter

 

Wenn man bedenkt, wie oft unser Land, insbesondere bis zum Ende des 14. Jahrhunderts, Gegenstand des Streites war, so ist es ja augenscheinlich, daß man über dieses Thema Bände schreiben könnte ; darum ist es im Rahmen dieser Schrift nicht möglich, auch nur die allgemeinste Skizze der kriegsgeschichtlichen Bedeutung Galiziens zu geben. Eine solche Skizze wäre nicht nur ihrer Oberflächlichkeit, sondern auch ihres verspäteten Erscheinens wegen unnütz. Es ist aber schade! Wenn die politische Bedeutung Galiziens besser bekannt und eingesehen worden wäre, so wären schon längst außer politisch-historischen Monographien eine ganze Reihe kriegsgeschichtlicher Abhandlungen über dieses Land erschienen. Daß dies jetzt nicht nur lediglich der akademischen Wissenschaft zunutze gekommen wäre, zeigt der jetzige Weltkrieg mit seiner Fülle von strategischen und taktischen Archaismen, hauptsächlich in der Ausnützung des Terrains. Die Russen machten uns auch in dieser Richtung, mit ihrer nicht nur politischen, geographischen, kartographischen und anderem mehr, sondern auch historischen Vertrautheit mit Galizien, eine Überraschung. Kurz gesagt — heute ist nicht mehr die Zeit dazu, die Geschichte alter Kriege in Galizien zu schreiben, gleichwohl wird es nicht überflüssig sein, auf die hervorragendsten Momente der Vergangenheit, insoferne die historischen Quellen irgendwelche Möglichkeit ihrer Erforschung darbieten, hinzuweisen.

 

Über die Kriegsereignisse des 10. Jahrhunderts können wir, ihre politischen Resultate ausgenommen, nichts mehr sagen. Der Feldzug Wladimirs des Großen gegen das Gebiet von Tscherwen und Peremyschlj ist wahrscheinlich von Wolhynien über den Bugfluß (Anhaltspunkt : Stadt Wladimir) ausgegangen. Der Weg des polnischen Königs Boleslaw mit Swjatopolk gegen Kiew führte dagegen über den Bug bei Berestje (Brest), wo Jaroslau geschlagen wurde (1018); ebendahin zog vermutlich auch Boleslaw II. ein halbes Jahrhundert später. Viele interessante Momente bietet hingegen die Geschichte des galizisch-wolhynischen Krieges 1097 — 1100 dar. Hier haben wir den Feldzug

 

 

____

30

 

der Rostyslawiden gegen Wolodymyr und dessen barbarischen Fürsten David (1098); die siegreiche Schlacht derselben galizischen Fürsten gegen Svjatopolk, den Kiewer Fürsten (den Nachfolger Davids in Wolhynien) auf dem „Rozhne pole", das heißt, in der Gegend von Busk-Krasne; schließlich ihren Sieg über die Ungarn, welche Svjatopolk zu Hilfe kamen, bei Peremyschlj (1099). Vordem (1095) unternahmen die Ungarn unter dem Könige Ladislaus dem Heiligen irgendeinen Kriegszug nach Galizien, doch fehlen uns die näheren Nachrichten über denselben. Nach der Niederlage bei Peremyschlj fand der nächste Feldzug der Ungarn über die Karpathen im Jahre 1123 statt. Diesmal aber zog König Stefan II. mit den tapferen Rostyslawiden gegen Wladimir Monomachos; die Belagerung der Stadt Wolodymyr verlief jedoch wegen der Unlust ungarischer Magnaten im Sande.

 

Interessant ist der Krieg Wolodymyrkos von Halytsch mit Wsewolod von Kiew 1144. Dies war geradezu eine Invasion der durch Polen unterstützten Kiewer-, Tschernihower-, Perejaslawer-, Smolensker-, Wolhynischen und Turower Streitkräfte gegen Galizien. Sie rückten hauptsächlich von Osten gegen Terebowlja vor, und als Wolodymyrko mit der geringen ungarischen Hilfe (Banus Belus) den Fluß Sereth nicht verteidigen konnte, zog er sich nach Zwenyhorod (bei Lemberg) zurück und gedachte sich hier zu verteidigen; es gelang jedoch den Gegnern, ihn von Süden zu umgehen ; daher bat der Fürst um Frieden, welcher ihm auch, dank seiner Besonnenheit, unter nicht zu schweren Bedingungen gewährt wurde. Ein von Wsewolod im Jahre 1146 unternommener zweiter Feldzug war noch weniger gelungen ; er zerschellte an demselben Zwenyhorod.

 

In den Kriegen Wolodymyrkos mit Isjaslau, dem Fürsten von Lodomerien, unterstützte Ungarn, wie bekannt, den letzteren. Im Jahre 1150 bereitete sich Isjaslau zu einem Feldzuge gegen Galizien längs des Bugflusses vor, Wolodymyrko erwartete ihn bei Belz, als er jedoch erfuhr, daß König Géza II. schon die Karpathen passiert und Sanok genommen hatte, eilte er, um Peremyschlj zu verteidigen, gegen denselben. Als es sich aber herausstellte, daß er nicht in der Lage sei, die Ungarn mit Waffengewalt zu vertreiben, bewog er sie, bevor noch Isjaslau mit seinen Kräften herangezogen kam, durch Bestechung der Magnaten zum Rückzuge. Das Mißlingen dieses Kriegszuges sollte, als sich Isjaslau und Géza entschlossen, Wolodymyrko gänzlich zu vertreiben und sein Land unter sich aufzuteilen, durch einen neuen im Jahre 1152 unternommenen Feldzug gutgemacht werden. Der ungarische König führte eine für jene Zeiten große, aus 76 Regimentern bestehende Armee heran. Wolodymyrko, der ihn am linken Sanufer erwartete, wurde geschlagen und zog sich nach Peremyschlj zurück, um den Flußübergang zu wehren. Nachdem Isjaslau von Jaroslau herangezogen war, blieb dem galizischen Fürsten kein anderer Ausweg übrig, als sich den Siegern zu unterwerfen und die verhältnismäßig glimpflichen Friedensbedingungen anzunehmen. Zwei Jahre später unternahm Isjaslau einen neuerlichen Feldzug gegen Galizien, welcher in der blutigen Schlacht bei Terebowlja am Sereth entschieden wurde. Dieser Sieg Lodomeriens über Galizien konnte jedoch, wegen des raschen Todes Isjaslau, politisch nicht ausgenützt werden.

 

Von den Kriegsoperationen auf dem galizischen Territorium im

 

 

____

31

 

13. Jahrhundert verdient der Krieg zwischen Ungarn und Mstyslau Udalyj (1219 — 1222) besondere Beachtung. König Andreas II. rückte von Sanok gegen Peremyschlj vor. Die galizische Besatzung „evakuierte" diese Stadt, so daß sich die Ungarn derselben ohne Schwertstreich bemächtigten; ähnliches geschah in Horodok (Grodek), wo die Besatzung gegen Mstyslau rebelliert hatte. — Dieser hatte zwar dem Feinde den Weg am Zubrjaflusse (die Linie Lemberg-Mykolajiw am Dnister, vermutlich bei der Ortschaft Zubrja) verlegt, hielt es jedoch — angesichts der Ereignisse in Peremyschlj und Horodok — für geboten, in östlicher Richtung gegen den Fluß Sereth auszuweichen; nachdem er die Verteidigung von Halytsch dem Fürsten Danylo anvertraut hatte. Andreas konnte durch einen Handstreich Halytsch nicht nehmen und, da er, unter ständiger Bedrohung seiner Flanke von Podolien her, dasselbe nicht länger belagern wollte, so zog er (mit der herbeigeeilten polnischen Unterstützung) zuerst gegen Mstyslau, vertrieb denselben über die Grenzen Galiziens und wandte sich erst dann neuerdings gegen Halytsch. In Anbetracht dessen verließ Danylo die Stadt und machte, unter fortwährenden Kämpfen, einen gelungenen Rückzug auf Toumatsch (Tlumacz), Horodenka und die Bukowina nach dem heutigen Beßarabien, wo er den Dnister übersetzte und sich mit Mstyslau vereinigte. Darauf zog das ungarisch-polnische Heer gegen die Stadt Wolodymyr, aber Danylo sorgte für einen Einfall der Litauer in Polen und Mstyslau führte die Polouzen herbei, weswegen die Gegner einen eiligen Rückzug begannen und ungarische Besatzung in Halytsch samt dem jugendlichen König Koloman in Gefangenschaft geriet. Im späteren Konflikte Mstyslaus mit seinem Schwiegersohne und Kronprinzen Andreas (1226 — 1227) operierten in Galizien gleichzeitig zwei ungarische Armeen, die Peremyschlj zu ihrem Ausgangspunkte hatten; die eine unter dem Oberbefehl des Königssohnes rückte gegen Halytsch, die andere unter dem Könige gegen Horodok, Zwenyhorod (Lemberg) und Terebowlja nach Wolhynien; doch Kremenetz erwies sich als uneinnehmbar, woraus Mstyslau einen Nutzen zog, indem er in einem Gegenangriff die Ungarn besiegte.

 

In späteren Kämpfen Danylos mit dem ungarischen Königssohne Andreas um Halytsch (1230 — 1233) ist ein (wegen Krankheit im Heere mißlungener) Feldzug des zweiten ungarischen Königssohnes Béla ganz Galizien und die Bukowina entlang, von Sanok bis zum Rodnaer Paß (1230), von Bedeutung. Interessant, obwohl im ganzen wenig erfolgreich, waren die damaligen ungarischen Kriegszüge gegen folgende wolhynische Städte: Wolodymyr (über Jaroslau), Schumsk und Peremylj; Danylo hatte nicht nur Wolhynien beschützt, sondern eroberte auch ein für allemal Galizien zurück. Seine späteren blutigen Auseinandersetzungen mit Rostyslau (1244 — 1245) beschränkten sich auf das Sangebiet zwischen Peremyschlj und Jaroslau.

 

In den Kämpfen Ungarns und Polens gegen Litauen um Galizien Mitte des 14. Jahrhunderts sind die vom ungarischen Könige Ludwig dem Großen gemeinsam mit dem polnischen Könige Kazimir dem Großen unternommenen Feldzüge beachtenswert. Im Jahre 1351 rückte die Armee der Verbündeten von Krakau über Sandomir und Lublin gegen Berestje vor, wo mit dem litauischen Fürsten Kejstut ein für die Bundesmächte zwar günstiger, jedoch kurz dauernder Vertrag geschlossen

 

 

____

32

 

wurde. Gleich im nächsten Jahre darauf zogen die Ungarn gegen Sanok und Peremyschlj und vereinigten sich mit den Polen bei Belz, nachdem sie aber diese Festung in Sturm zu nehmen nicht vermochten, gaben sie sich auch mit nur formellen Vorteilen zufrieden.

 

Der dritte Feldzug der Verbündeten (außer Polen auch noch der Preußische Orden) im Jahre 1366 führte zur Eroberung von Belz, Cholm und Wolodymyr. Dieser Kriegszug, der im Jahre 1377 wiederholt wurde, endete mit der endgültigen Entreißung des linken Bugufers von Litauen und seinem Anschluß an Galizien.

 

Die Annexion Galiziens durch Polen im Jahre 1387 hatte folgende Richtung: Jaroslau, Peremyschlj, Horodok, Lemberg und Halytsch, wo der ungarische Kommandant Woiwode Benedikt zur Übergabe der Stadt überredet wurde. —

 

Wie wir sehen, war Galizien das 11. bis 14. Jahrhundert hindurch der Schauplatz von Kriegsoperationen nach verschiedenen Richtungen hin, und wie aus dem Ganzen hervorgeht, haben die altertümlichen Straßen, ungeachtet der kolossalen Entwicklung der technischen Kommunikationsmittel, auch bis zum heutigen Tage ihre strategische Bedeutung beibehalten. Wenn wir sogar die jetzige österreichisch-ungarische Offensive in Südostgalizien in Betracht ziehen, so haben wir auch in dieser Hinsicht, in den moldauisch-türkischen Feldzügen im Jahre 1496 und 1498, welche aus der Bukowina gegen Halytsch, Rohatyn, Lemberg, Peremyschlj und Jaroslau gingen, einen mittelalterlichen Prototypus.

 

Die nachmittelalterlichen Zeiten lassen wir, nicht nur des knapp bemessenen Raumes wegen, beiseite, sondern noch vielmehr darum, weil die Kämpfe um Galizien zur Zeit der polnischen Herrschaft (wegen der territoriellen Ausbreitung Polen-Litauens und des Verfalls Ungarns) fast vollständig aufhören; und wenn auch in unserem Lande Kriegsoperationen ausgeführt wurden, so übten sie einerseits nur wenig politischen Einfluß auf sein Schicksal aus, und andererseits — sind sie bezüglich ihrer kriegsgeschichtlichen Bedeutung ziemlich allgemein bekannt. —

 

Tomaschiwskyj, Die weltpol. Bedeutung Galiziens

 

 

____

33

 

III. Rußland und Galizien

 

Die eben entworfene Skizze erklärt — wie es uns scheint — zur Genüge die politische und strategische Bedeutung Galiziens bis zum Zeitpunkte der Liquidierung des historischen Bundesreiches Polen-Litauen, respektive bis zur Bildung des heutigen Kronlandes innerhalb Österreich. Auf Grund dieser Darstellung kann man die historische Bedeutung des alten Heimatlandes der Rostyslawiden folgendermaßen kurz charakterisieren: es war zuerst einer der Grundsteine des altruthenischen Reiches; ferner eine von den Mächten, welche diesen ersten Vorgänger des heutigen Rußland zum Verfall brachten; der Herd, dem das mächtige galizisch-lodomerische Reich — der erste Ausdruck der politischen Trennung der ukrainischen Territorien von moskowitischen, der erste reelle Untergrund in der Entwicklung der ukrainischen nationalen Idee — entsprang; es war durch lange Zeiten die Schutzwehr Ungarns gegen die mongolische Barbarei; nach seiner Abtretung an Polen bildete es den Grundstein der polnisch-litauischen Union — dieses Vorgängers des heutigen Rußland; beim Untergange der polnischen Republik fiel dieses vielbedeutende mitteleuropäische Durchgangsland und die Ausgangspforte gegen Osten, der Donaumonarchie zu — wie wenn der Geist der Geschichte ihr einen Wunderring schenkte, damit sie selbst das Beschwörungswort errate, welches die geheimnisvollen Eigenschaften des Geschenkes zur Geltung brächte.

 

Die österreichisch-ungarische Union im Jahre 1526 hatte die habsburgische Monarchie in die Sphäre der politischen Interessen des Balkans hineingezogen und in dieser Richtung ging fast die Hälfte aller politischen und kriegsoperativen Bestrebungen der Monarchie ; das Resultat wäre zweifellos noch größer, wenn nicht die alte politische Tradition einen vergeblichen riesigen Kräfteaufwand zur Behauptung der haltlosen Positionen in Belgien, Rheingebiet und der Lombardei erfordert hätte. . . . Die Erwerbung Galiziens eröffnete vor der Monarchie neue Horizonte der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung. Kaiser Josef II. war sich ohne Zweifel jenes historischen Momentes bewußt, doch haben die napoleonischen Kriege (neben ihrem Einfluß auf den Umfang der Karpathenbesitzungen Österreichs) und der spätere Legitimismus dieses Bewußtsein derart verdunkelt, daß nach dem Jahre 1848 schon gar kein Verständnis für die politische Bedeutung des östlichen Kronlandes vorhanden war.

 

Über Rußland könnte man dasselbe nicht sagen. Denn schon im Jahre 1772 machte es Österreich verschiedene Schwierigkeiten bei der Okkupation des Landes und zeigte kein geringes Interesse für dessen Hauptstadt. Bekanntlich schätzte auch Alexander I. die Möglichkeit einer Besitzergreifung Galiziens hoch und er war bereit, für dasselbe

 

 

____

34

 

die rumänischen Fürstentümer an Österreich zu „schenken", aber in Wirklichkeit konnte er nur den östlichen Abschnitt (das Gebiet von Temopilj), und zwar nur für sechs Jahre (1809 — 1815) annektieren. Ebenso ist es bekannt, daß Zar Nikolaus I. dieses „urrussische Land" unter seine erhabene Hand zu nehmen willig war. Mit echt moskowitischer Geduld begann Rußland stille, obwohl sehr systematische, breit entworfene und zielbewußte Vorbereitungen, um diesen fetten Bissen in seine Hände zu kriegen. In dieser Bestrebung kam anfangs hauptsächlich der expansive Geist des moskowitischen Reiches zum Ausdruck, doch mit der Zeit offenbarte sich der ernstere Charakter jener Bemühungen — der Wille durch die Eroberung Galiziens eine für das Reich des Zaren drohende Gefahr abzuwenden. Dies führt zu Erwägungen über die Hauptmotive Rußlands in dieser Politik.

 

In erster Linie sind die geographisch-strategischen Betrachtungen von Bedeutung. Für den russischen Staatsorganismus ist Galizien und die Bukowina auf der Strecke von der Warthe bis zum Pruth ein sehr unangenehmer Keil, um so mehr, als alle galizischen Flüsse im weiteren Laufe auf das russische Territorium übergehen. Den russischen Politikern und Strategen erscheint die Aussicht, ein Schutz- und Trutzbündnis mit denKarpathen schließen zu können, direkt als ein Ideal (ähnlich, wie sie am Baltischen Meere die Grenze an die Weichsel gerne verschieben möchten). Die Bedeutung dieser geographisch-strategischen Momente gab auch der General Kuropatkin, in einem besonderen Memorial für den Zaren (1900), zu, obwohl er selbst kein Anhänger der Eroberung Galiziens war.

 

Obwohl die — den oben angeführten — ähnlichen Momente über die Politik eines jeden Großstaates selbst entscheiden können, so waren für Rußland auch noch andere Rücksichten, unter ihnen nicht zum geringsten — die historischen, wichtig.

 

Das moskowitische Reich verdankt seine ungeheure Entwicklung in hohem Maße jener Gewandtheit, mit welcher seine Herrscher die historische Tradition nach dem ehemaligen altruthenischen Reiche auszunützen verstanden, eine Tradition, welche — wie wir es ja schon wissen — ihren politischen Inhalt sehr früh verloren hatte, und, von dem alten Namen (Rusj, Ruthene, Rußland, ruthenisch, russisch) abgesehen, nur mit der kirchlich-religiösen Überlieferung Kiews operierte, einer Überlieferung, die zur Zeit des galizisch-lodomerischen Reiches unterbrochen, später, während der polnisch-litauischen Union erneuert, schließlich den Werkzeugen der moskowitischen Politik: dem Patriarchat und der Synode, vollständig untergeordnet wurde. Diese religiöse Tradition benützten die moskowitischen Herrscher mit solchem Erfolg, daß sie bis zum Ende des 18. Jahrhunderts „alle vermachten ruthenischen Territorien", mit Ausnahme der innerhalb der Grenzen Österreich-Ungarns befindlichen, „zu sammeln" vermochten. Hierin ist auch die Erklärung zu suchen, warum das, im allgemeinen genommen, gegen alle Konfessionen tolerante Rußland gegen die kirchliche Union mit Rom einen so tiefen, unüberbrückbaren Haß bekundet; für sie kann es nicht nur keinen Platz in den Grenzen Rußlands geben, sie ist auch außerhalb der Reichsgrenzen der Gegenstand der beständigen, versteckten und offenen Angriffe von Seiten der offiziellen

 

 

____

35

 

russischen Kirche. *) Diese kirchliche Rolle hat der russischen Politik beim Untergang Polens und beim Zersetzungsprozeß der Türkei riesigen Gewinn gebracht, und jetzt versuchte man dasselbe Mittel an Österreich-Ungarn (die Prozesse in Sziget und Lemberg 1913/ 1914). „Das Sammeln ruthenischer Territorien" durch die Besitzergreifung des karpathenländischen Erbes der Rostislawiden und Romaniden, als deren rechtlicher Nachfolger das Haus Holstein-Gottorp gelten will, und durch die Restituierung der alten Orthodoxie in demselben ist eines von den erhabensten Traumgebilden der russischen Staatspolitik — ein Traumgebilde — das außerhalb Rußlands höchstens den Italienern vollkommen begreiflich ist. **)

 

Daher darf es nicht wundernehmen, daß gleich in den ersten Anfängen des Krieges zwischen der Monarchie und Rußland (am 18. August 1914) ein Manifest des russischen Oberstkommandierenden „das große historische Werk — das Werk der Vereinigung des russischen Territoriums" donnernd proklamierte, daß der Zar einen Monat später (am 22. September) den neuernannten Generalgouverneur von Galizien versicherte, „er freue sich mit ganz Rußland wegen der Angliederung des alten «Rotrußland»". Und schließlich nannte der russische Ministerpräsident in der Inaugurationsrede in der Duma (9. Februar 1915), die erhoffte Eroberung Galiziens „jene letzte Blüte, welche noch im lebenden Kranz des Zaren fehlte", wodurch alle drei endlich den Vorhang vom wirklichen Antlitz der langjährigen Politik Rußlands, Österreich gegenüber, lüfteten.

 

Daß diese Maske nicht früher fallen gelassen wurde, ist auch nichts Sonderbares; in der politischen Welt ist es nicht Sitte, sich von vornherein zu Eroberungsabsichten zu bekennen, und insbesondere verstand es Rußland, sich mit ideellen und altruistischen Interessen zu brüsten, da ja auch seine alte Konkurrenz mit der Monarchie am Balkan ihm die beste Gelegenheit zur Verheimlichung seiner wahren egoistischen Absichten bezüglich Galiziens bis zum Augenblicke der entscheidenden Auseinandersetzung darbot. Dabei verliert auch die galizische Angelegenheit, auf dem Untergrunde der Mißverständnisse am Balkan, nichts an ihrem politischen Wert, sondern im Gegenteil — sie erhebt sich zur Bedeutung der sichersten Etappe in der Bestrebung, den Einfluß der Monarchie am Balkan zu vernichten und die Herrschaft über Bosporus und die Dardanellen zu erlangen. Sind denn für Rußland jemals günstigere Verhältnisse zur Verwirklichung dieses

____

*) Angesichts dieser offenkundigen Tatsache erweisen sich die von manchen auf dem galizischen Kriegsschauplatze weilenden Korrespondenten wiederholt angezeigten „Entdeckungen", die griechisch-katholischen unierten, angeblich in „russischem Stil" gebauten Kirchen Galiziens seien „augenscheinlich" mit russischem Geld errichtet worden, als leeres und kaum gewissenhaftes Geschwätz. Der Umstand aber, daß man erst eines Weltkrieges bedurfte, um das Vorhandensein eines mit Moskowien in keinem Zusammenhange stehenden besonderen Stils der unter gesetzmäßiger Aufsicht der k. k. Verwaltungsbehörden erbauten Kirchen in 2/3 Galiziens und in der ganzen Bukowina für die breite Öffentlichkeit feststellen zu können — spricht Bände . . .

**) Die Kunst der russischen Politik, sich der historischen Tradition zu bedienen, kommt unter anderem auch dadurch am besten zum Ausdruck, daß die Russen schon während des Krieges die Annexion Galiziens in seinen historischen Grenzen (mit Rzeszowl) vorbereiten, den Rest des heutigen Kronlandes, mit einem guten Teil der ruthenischen Bevölkerung, dem zukünftigen Polenreiche von den Karpathen bis zum Baltischen Meere, von vornherein überlassend.

 

 

____

36

 

Traumgebildes der russischen Nationalisten eher denkbar, als dann, wenn über jedem Karpathen- und Balkantal, von der sudetisch-karpathischen Pforte bis Orsova und Cattaro, die drohende Gefahr der Invasion gegen die mittlere Donau schwebt, wenn die unsichtbare Hand der politischen Intrige die zahlreichen Völker Österreich-Ungarns gegeneinander hetzt, wenn der rollende Rubel sich in Dynamit zur Sprengung des letzten Hindernisses auf dem Wege von Petersburg nach der Adria und dem Mittelländischen Meere verwandelt? Wird es unter solchen Umständen noch lange möglich sein, von der Rivalität zwischen Rußland und Österreich-Ungarn am Balkan und nicht von der in ihren Folgen unberechenbaren Weltherrschaft des ersteren zu sprechen?

 

Alle oben genannten Motive der russischen Politik Galizien gegenüber (geographisch-strategische, historische und politische) haben einen offensichtlichen Eroberungscharakter, der das Programm der Staatspolitik für Jahrzehnte und Jahrhunderte bildet, für dessen Ausführung es jedoch keinen bestimmten Termin gibt und geben kann und dessen einzelne Phasen beliebig bis zu dem für die Sache günstigsten Momente verschoben werden können. Doch in diesem Bestreben Rußlands um Galizien ist noch ein Motiv enthalten, welches alle anderen an Bedeutung übertrifft; ein Motiv, welches durch den Instinkt der politischen Selbsterhaltung diktiert wird und das einen langen Aufschub der Eroberung Galiziens nicht gestattet. Dieses Motiv ist — die Gefahr der ukrainischen Nationalidee mit ihrem Brennpunkt in Galizien. Dies führt uns zur Charakterisierung der nationalen Entwicklung dieses Landes während der Herrschaft Österreichs.

 

Der historische Prozeß der Abtrennung und Selbständigmachung des gesamten ukrainischen Volkes begann — wie früher erwähnt wurde — zuerst auf politischem Gebiete in der Gestalt des galizisch-lodomerischen Reiches (seine spätere Nachahmung ist — die Hetmanenherrschaft im 17. bis 18. Jahrhundert); dann kam er in der religiös-kulturellen Sphäre — durch die Absonderung der galizischen, nachher Kiewer-galizischen Metropole, und am allermeisten durch die Union der ukrainischen Kirche mit Rom — zum Ausdruck; schließlich kam an der Schwelle des neuesten historischen Zeitalters die neuzeitliche, wichtigste Form der nationalen Sonderstellung — die sprachliche — an die Reihe, welche dem ukrainischen Volke den endgültigen Charakter einer national-kulturellen Individualität verleihen mußte. Ähnliche Entwicklungsstadien hatten die meisten westeuropäischen Völker schon lange durchgemacht; die slawischen Völker hingegen (höchstens mit Ausnahme der Polen) waren in dieser Beziehung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, sei es ob der Rückständigkeit ihres national-kulturellen Lebens überhaupt, oder der Benützung einer gemeinsamen slawischen Sprache als Schriftsprache halber, fast noch nicht differentiiert. Erst in der erwähnten Zeit trat, mit dem Bestreben die Umgangssprache des bestimmten Volkes zum Rang der Schriftsprache zu erheben, ein Umschwung zur Individualisation ein. Auch zwischen den Ukrainern und Russen herrschte lange Zeit hindurch etwas in der Art einer allgemein-russischen Κοινή auf kirchenbulgarischer Grundlage, doch vor einiger Zeit trat eine Spaltung in der Form besonderer

 

 

____

37

 

Literatursprachen, der großrussischen und kleinrussischen, das heißt ukrainischen, ein. Die erstere trennte sich, aus politischen Gründen, etwas früher ab und hörte als beatus possidens auch fernerhin nicht auf, sich des alten gemeinsamen Terminus „russische Zunge" zu bedienen, die letztere dagegen hatte, neben den in solchen Fällen gewöhnlichen Schwierigkeiten der Entzweiung mit dem Althergebrachten, nicht nur die Konkurrenz der Sprache des im Reiche privilegierten Volksstammes, sondern auch noch die absichtlichen Hindernisse von Seiten dieses Reiches zu bekämpfen. Denn Rußland hat sehr bald eingesehen, daß der sprachliche Separatismus der Ukrainer für das russische Staatswesen äußerst gefährlich sei, um so mehr, als er besonders lebhaft im Dniprogebiete zum Vorschein kam, wo — wie es schien — die Spuren der politischen und religiösen Sonderstellung durch die Nivellierungsbestrebungen der russischen Regierung zur Genüge verwischt waren. Die Perspektive der Erhebung der ukrainischen Sprache zur Literatursprache in ganz Südrußland war von den politischen und nationalistischen Kreisen Rußlands von vornherein gehörig beurteilt worden: die Wiedergeburt der ukrainischen Literatur faßte man als einen politischen Anschlag gegen die Integrität des russischen Reiches auf! Es wurde gegen die ukrainische Sprache eine ganze Reihe drakonischer, in der Geschichte kaum erlebter Erlässe herausgegeben, die mit gänzlichem Verbote derselben in der Literatur, Wissenschaft und im öffentlichen Leben schloß (1876). Die Revolution des Jahres 1905 brachte zwar den größeren Teil dieser Einschränkungen zu Fall, aber die Regierung änderte ihre prinzipielle Ansicht über die ukrainische Sprache ganz und gar nicht und — nachdem sie sogar bei einem Teil der gewesenen revolutionären Kreise Einhelligkeit gefunden hatte — wartete sie nur die Gelegenheit ab, um zum früheren Zustande der rücksichtslosen Repressalien zurückzukehren. Diese Gelegenheit fand sie in der Zeit des heutigen Krieges, indem sie durch ein Generalverbot das Erscheinen irgendwelcher Druckschriften in ukrainischer Sprache untersagte. *)

 

Doch Rußland sah und sieht gleichzeitig wohl ein, daß alle jene Verbote insgesamt mit allen anderen russifikatorischen Bemühungen in der russischen Ukraine vergeblich sein werden, solange der historisch vielbedeutende Teil der ukrainischen Territorien außerhalb der Machtsphäre der zarischen Erlässe und ministeriellen Verbote — nämlich bei Österreich-Ungarn bleiben wird, wo die ukrainische Idee immerhin eine gewisse Möglichkeit findet, auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens: dem politischen, religiösen und kulturellen zum Vorschein zu kommen und — allen örtlichen Hindernissen zum Trotz — feste Grundlagen zur neuzeitlichen Entwicklung zu gewinnen und dadurch auch in der russischen Ukraine zum Träger des ukrainischen Separatismus zu werden. Nachdem Rußland diese schwache Seite seiner russifikatorischen Politik erkannt hatte, ließ es kein offenes und geheimes Mittel außer acht, um auch innerhalb der Grenzen Österreich-Ungarns die ukrainische Nationalidee zu unterdrücken, zu hemmen oder wenigstens zu diskreditieren; als es aber die Erfolglosigkeit jener

____

*) Dabei erlaubte sie sich eine Ausnahme: indem sie in ukrainischer Sprache geschriebene Schmähschriften gegen Österreich zerstreute.

 

 

____

38

 

Bemühungen einsah, kam es bald darauf, daß das einzige Mittel gegen das Ukrainertum — die, im Gegensatz zur Konstantinopeler Angelegenheit, unverschiebbare und unverzügliche Annexion Galiziens sei, solange die Entwicklung des ukrainischen Nationallebens in Galizien und der Bukowina noch nicht solche Dimensionen, eine solche Stärke erreicht hat, daß nicht nur keine Repressalien dasselbe töten könnten, sondern es im Gegenteil — nach einer eventuellen Annexion dieser Länder — über alle ukrainischen Territorien Rußlands sich ergießen und alle bisherige Einigungserfolge auch daselbst zunichte machen würde.

 

Die ukrainische nationale Idee machte die russischen Bestrebungen betreffend Galiziens zu einem akuten und sehr wichtigen Problem der russischen Staatspolitik. Natürlich war es für ihre Staatsmänner unmöglich vorauszusehen, wann es die Umstände erlauben würden, die Maske in dieser Hinsicht abzulegen. Daher wurde die Energie zur Lahmlegung des ukrainischen Nationallebens auf dem Territorium unserer Monarchie verdoppelt, ja verdreifacht. Diese Aktion ist übrigens nicht neu. Sie begann besonders nach dem Jahre 1848 rege zu sein, als es sich (nach schweren Repressalien gegen angesehene Repräsentanten der ukrainischen Wiedergeburt in Rußland 1847) zum erstenmal herausstellte, daß eben „die galizischen Ukrainer ein gegen Rußland bei weitem wirksameres Element, als die Polen seien". Die ursprünglichen Methoden der russischen Propaganda beschränkten sich (im Hinblick auf die noch sehr geringe Verbreitung des zielbewußten ukrainischen Gedankens in Galizien) auf die Anwerbung von Anhängern der großrussischen Sprache als der „allgemein-russischen", auf die materielle Unterstützung der russischen Publikationen einerseits, und die Verunstaltung, Verspottung und Unterwühlung der ukrainischen sprachlichen Bestrebungen andererseits; besonders verhängnisvoll war der Einfluß des zweimaligen Durchzuges des russischen Heeres durch Galizien im Jahre 1849 (gegen den Aufstand in Ungarn), welches den Befehl hatte, im Lande den günstigsten Eindruck zu machen. Nach dem Krimkriege und noch mehr nach den Mißerfolgen des Jahres 1866 ging diese Propaganda auch auf das religiöse und politische Gebiet über. Die Glorifikation der alten Orthodoxie, sowie die Verherrlichung der russischen Macht und ihrer Erfolge verwandelten sich nach und nach, entsprechend der Verschärfung der Gegensätze zwischen Rußland und der Monarchie, am meisten nach 1908, in eine offene und versteckte Aktion in der Richtung der kirchlichen Apostasie, des Hochverrates und der militärischen Spionage, welch letztere mit Tausenden von Fäden das unglückliche Land immer fester umstrickte. An dieser Propaganda ist eines besonders interessant: die russischen Agenten schätzten besonders die Gewinnung der gebildeteren Jugend, auf die Bauernschaft schauten sie meistens von oben herab, nur in jenen Gegenden, welche sich im jetzigen Kriege als strategisch besonders wertvoll erwiesen haben, sparten sie weder Mühe noch Geld, noch ließen sie an äußerster Demagogie fehlen, um nur auch unter der unwissenden Bauernschaft russische Sympathien hervorzurufen. *)

____

*) Auf diesen Umstand hatten die ukrainischen Reichsratsabgeordneten die Regierung noch vor dem Kriege aufmerksam gemacht, aber ihre Ausführungen fanden kein Gehör.

 

 

____

39

 

Dieses Benehmen Rußlands gegenüber Galizien, respektive Österreich, war für die galizischen Ukrainer schon lange kein Geheimnis mehr. Obwohl ihre Überzeugung in den politischen Kreisen der Monarchie keinen Widerhall fand, spannten sie alle ihre schwachen Kräfte zum Aufbau ihrer eigenen Nationalkultur an, um im Momente, als die zwölfte Stunde schon geschlagen, Rußland vor die vollendete Tatsache der Ukrainisierung des öffentlichen Lebens Ostgaliziens zu stellen und auf diese Weise der russischen Regierung die Lust zur Annexion zu benehmen. Es begann ein Wettlauf, einzig in seiner Art, in welchem die galizischen Ukrainer, leider, zurückblieben. Doch sie tragen nicht die Schuld daran, daß sie bis zum Ausbruche des Krieges über die ersten Anfänge eines selbständigen national-kulturellen Lebens auf öffentlichem Gebiete (einige Universitätskatheder, einige Staatsgymnasien, eine Reihe der untersten utraquistischen Volksschulen, gewisse Rechte für ihre eigenartige Konfession und dergleichen) nicht hinauszukommen vermochten. Die Ukrainer hatten ja keinen Einfluß auf die politische Macht im Lande. Dort, wo die Ukrainer eine gewisse Möglichkeit der Selbstbetätigung hatten, nämlich auf privatrechtlichem Gebiete, sind zwar ihre nationalen Errungenschaften bedeutend, aber, im Verhältnisse zur Größe des Landes und seiner Volkszahl, sowie den gigantischen Kräften des Feindes, immerhin noch zu klein und zu jung.

 

Nichtsdestoweniger führte diese Tätigkeit dazu, daß von der Masse der sogenannten ruthenischen Bevölkerung mehr als zwei Drittel zu bewußten Ukrainern wurden und daß von dem Reste nur kleine Bruchteile für die feindliche Idee — den Russophilismus — gewonnen werden konnten. Dieser Prozeß schwächte jedoch keineswegs die oben erwähnte russische Aktion in Galizien, welche auch für einen Augenblick, vor allem gegen ihren Erzfeind und gegen ihr Hauptziel — die ukrainische Nationalidee — loszuziehen nicht aufhörte. Gleichzeitig mit dem rapiden Zusammenschmelzen des älteren, sozusagen, ideellen Moskalophilismus, nahm die ausschließlich mit Korruption operierende Propaganda unter dem Volke, solche erschreckende Formen an, daß man das heranziehende Gewitter direkt in der Luft schweben spürte, und nach dem Prozesse Bendasjuk und Konsorten, sowie der Tragödie in Sarajevo erwarteten die Ukrainer buchstäblich jeden Tag den Ausbruch des Krieges — um Galizien.

 

Daß Galizien von seiten Rußlands das Hauptziel des Krieges war, das wissen wir schon, und daß die Notwendigkeit der Vernichtung des Ukrainertums das Hauptmotiv dieses Schrittes bildete, bestätigte sich durch die späteren Ereignisse in vollem Umfange. An demselben Tage, als Goremykin in der Duma eine Rede über Galizien hielt, sprach auch der Minister des Äußeren Ssasonow über die Ursachen des Krieges und nannte die „ukrainische Idee" ausdrücklich als eine der Hauptursachen. Hier sprach das erstemal ein russischer Staatsmann offen über die ukrainische Gefahr außerhalb der Reichsgrenzen Rußlands. Zwei Monate vor dem Kriege (am 23. Mai) sprach er auch über dieselbe, aber er zauderte noch offenherzig zu sein; er erwähnte nur „russenfeindliche Strömungen an der Grenze", jetzt dagegen — es gibt kein Geheimnis mehr — jetzt beweisen schon unzählige Tatsachen, was Galizien für Rußland bedeutet. Noch donnern in Galizien die Kanonen, noch ist es nicht ganz in russischen Händen und das,

 

 

____

40

 

was schon vorhanden ist, ist bei weitem noch nicht gesichert, und schon entfaltet die russische Regierung eine fieberhafte organisatorische Tätigkeit, eine Tätigkeit, die nicht auf die Not des Augenblickes, sondern auf ferne Zukunft berechnet ist. Dabei ist — wie dies sogar die informierte polnische Presse konstatiert — die ganze Schärfe der „Reorganisation" ausschließlich gegen die ukrainische Sprache, die ukrainische Schule und gegen die ukrainische Kirche gewendet. Die Überführung und Internierung des galizischen Metropoliten Grafen Andreas Scheptyckyj und ganzer Hunderte der angesehensten Ukrainer ins Innere Rußlands, die zwangsweise Umänderung der griechisch-katholischen Kirchen in griechisch-orientalische, die Schließung aller ukrainischen Schulen, Vereine und Institute, das Verbot aller ukrainischen Zeitschriften und Bücher, die Ausschließung der ukrainischen Sprache vom öffentlichen Gebrauche bis zu den Ladenaufschriften und Maueranschlägen! Ein solches fieberhaftes Überholen der Geschichte gegenüber hat nur ein analoges Beispiel, eben in der russischen Geschichte, vor zweihundert Jahren: im Ausbau Petersburgs, noch lange vor dem Frieden mit Schweden. Beide Beispiele beweisen, wie sehr es Rußland am Besitze Galiziens gelegen ist. Abgesehen von den Stimmen der russischen Presse und einzelner Publizisten, gibt wohl die Diskussion in der geheimen Dumasitzung im Februar darüber das beste Zeugnis ab. Dort besprachen alle politischen Parteien und die Regierung die eventuellen Friedensbedingungen. Die Skala der Forderungen war verschieden, bei den einen sehr breit (Galizien und Bukowina, Posen, das alte Preußen, Kleinasien, Konstantinopel, die Dardanellen, Großserbien usw.), bei anderen sehr bescheiden (Galizien!), doch es gab keine einzige Partei und keinen einzigen Abgeordneten, der unter dieses Minimum herabgestiegen wäre. Galizien (offenbar mit Nordostbukowina) ist der niedrigste Preis für diese Blutströme, die schon seit Anfang August vorigen Jahres fließen, eine conditio sine qua non; auf alles andere — Serbien, Konstantinopel, Dardanellen, Restaurierung Polens — kann man, schließlich, (um die russische Ausdrucksweise zu gebrauchen) spucken. . . .

 

Wie die Dinge heute stehen, ist das politische Prestige Rußlands mit dem Besitze Galiziens so innig verknüpft, daß die eventuelle Wiedereroberung des Landes einer in ihren Folgen unübersehbaren politischen Katastrophe gleichkommen müßte.

 

 

____

41

 

IV. Österreich und die ukrainische Idee

 

In der Beurteilung des ukrainischen Lebens, durch die offiziellen, offiziösen und nationalistischen Kreise in Rußland, im allgemeinen, und des galizischen im besonderen, bemerken wir neben dem schämigen Zugeständnisse, daß beide Ideen, die ukrainische National- und die russische Staatsidee, sich gegenseitig prinzipiell ausschließen und, daß die erstere schon in ihrem Keim der letzteren zum Opfer fallen müsse (ein schämiges Zugeständnis, da es die Achillesferse des Zarenreiches enthüllt), noch eine andere, hauptsächlich in der breiten Öffentlichkeit Rußlands, ja sogar außerhalb desselben, verbreitete Anschauung, als ob die Gefahr der ukrainischen Bewegung hauptsächlich darin läge, daß es ein künstliches Produkt und ein Kampfmittel der politischen Feinde Rußlands wäre, daß nämlich — kurz gesagt — die ukrainische Bewegung eine, gegen die Einheit und Integrität Rußlands gerichtete, politische Intrige wäre. So war also die ukrainische Idee einst eine türkische Intrige, dann wurde sie zur polnischen, später zur österreichischen und schließlich zur preußischen, oder beides zusammen. Ein russischer Publizist trat, kurz vor dem Kriege, mit einer ähnlichen Anschauung in einem Wiener Tagblatte auf, indem er zu beweisen versuchte, daß alle politischen Mißverständnisse zwischen Rußland und Österreich früher oder später, auf eine oder die andere Art, ausgeglichen werden können; nur in einem Punkte sei es schwierig, über die Möglichkeit eines Ausgleiches zu denken — im Punkte der ukrainischen Frage: Österreich pflege den ukrainischen Separatismus, Rußland dagegen bekämpfe denselben; beide Staaten müssen leider im vollen Verständnisse ihrer politischen Notwendigkeit so handeln, und darin liege eben das tragische Moment der österreichisch-russischen Beziehungen. Obwohl dieser russische Publizist sich über das angebliche österreichische Prinzip in der ukrainischen Frage besonders loyal und objektiv ausdrückte (jene russ. Herren, die über dieses Thema in der Wiener Presse debütieren nicht wollen oder können, bedienen sich einer ganz anderen Sprache), so können die von ihm ausgesprochenen und vielfach geteilten Anschauungen immerhin nicht als völlig wahrheitsgetreu zugegeben werden. Ungeachtet der augenscheinlichen Tatsache, daß die ukrainische Idee, den wirklichen oder vorgeblichen Ansichten ihrer vielseitigen Feinde zum Trotz, keine künstliche Intrige, sondern eine organische Erscheinung des sozialen und kulturellen Lebens der ukrainischen Territorien war und ist — ist es notwendig festzustellen, daß man Österreich nicht nur keinen Vorwurf machen kann, als ob es die ukrainische Bewegung als einen Mauerbrecher gegen die Gesamtheit Rußlands verwenden wollte, sondern es ist sogar schwierig, unserer Monarchie vorzuwerfen, als ob sie sich der ukrainischen Nationalidee überhaupt geneigt zeigte und ihre Entwicklung förderte. Es scheint sogar der Fall zu sein, daß auch die russische Regierung über unsere Monarchie nichts Schlechtes denkt. Als Beleg

 

 

____

42

 

hiefür mögen die zwei oben erwähnten Reden Ssasonows in der Duma dienen. In der ersten klagt er nur über die „Duldung" der Rußland feindlichen Strömungen durch Österreich, in der zweiten teilt er direkt ohne Vorbehalt die bisher unter den Polen populäre Ansicht, daß nämlich „deutsches Geld die ukrainische Idee in Galizien geschaffen hätte". Und wahrlich, indem wir die Geschichte Galiziens in der Zeit ihrer Zugehörigkeit zu Österreich überblicken, sehen wir keine derartigen Tatsachen, welche die Beschuldigung Österreichs wegen ihrer Schaffung oder sinngemäßen Unterstützung des Ukrainertums in Galizien rechtfertigen könnten; im Gegenteil, man könnte eine ganze Reihe von Momenten anführen, welche über das Desinteressement beider Reichsregierungen an der Entwicklung des Ukrainertums und über eine sehr weitgehende Loyalität, dem Nachbarstaate auf diesem Gebiete keine Unannehmlichkeit zu bereiten, zeugen.

 

Mit der Förderung der ukrainischen Idee und dem Wunsche, dieselbe gegen Rußland auszunützen, müßte die Hochschätzung des Landes selbst, als eines Ausfalltores, unzertrennbar verbunden sein. Was sehen wir aber in der Tat? Mit einen Blick auf die Karte Europas überzeugen wir uns, daß einerseits nur wenige, von Natur aus so ungeschützte Grenzen, wie sie Galizien von Norden und Osten her hat, zu finden sind, andererseits gibt es gar kein anderes ähnliches Land, in dem die menschliche Kunst so wenig für den Ausgleich der Unzulänglichkeiten der Natur, wie eben in Galizien, gesorgt hätte. Auf eine Fläche von beinahe 80000 Quadratkilometer und acht Millionen Bevölkerung entfällt eine Festung Peremyschlj (Przemysl), welche dazu noch nicht an der Peripherie des Landes, sondern in dessen Innerem gelegen und zum Schutze des Landes selbst bestimmt ist (die zweite im Westen [Krakau] hat die Aufgabe andere Territorien zu decken). Einen sprechenderen Beweis ihrer Friedensliebe und der Abwesenheit aggressiver Pläne ihrerseits vermochte die Monarchie kaum zu liefern. Ebenso bekräftigt die kleine Zahl der militärischen Territorialkommanden, die sehr beschränkte Anzahl der mit dem Terrain, der Sprache, den Bräuchen und der Kultur der Landesbevölkerung vertrauten Offiziere, noch mehr den obigen Beweis.

 

Die politische Entwicklung Galiziens nach dem Sturze des Absolutismus in Österreich schließt ebenfalls irgendwelche Spekulationen mit der ukrainischen Bewegung zu Ungunsten Rußlands aus. Die tatsächliche Sonderstellung Galiziens nach 1866 gab der nationalen Minorität des Landes, den Polen, eine fast unbeschränkte Herrschaft über die ursprüngliche, historische Bevölkerung, die Ukrainer; sie wurde zum Hemmnisse in der nationalen Wiedergeburt der letzteren und zur Quelle der heftigsten Kämpfe zwischen beiden Völkern, — eines Streites, dessen eigenartige, vielleicht auch in Österreich einzig dastehende Eigenschaft in dem schroffen Widerspruche zwischen der verfassungsmäßigen Berechtigung und dem faktischen Besitzstand auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens lag und in dem politischen Einfall des Kanzlers Beust gipfelte, es sollte den Polen anheimgestellt werden, inwieferne die Ruthenen als selbständiges Volk zu existieren hätten. Diese Wendung in dem staatsrechtlichen Verhältnisse Galiziens wurde von Seiten Rußlands nicht ganz gleichgültig beobachtet. Zwar waren die Polen noch eine Zeit lang ziemlich allgemein gegen das Zarenreich

 

 

____

43

 

gesinnt und entschlossen, im Streite zwischen der ukrainischen und der russophilen Richtung bei den Ruthenen in manchen Momenten zugunsten der ersteren zu entscheiden, sie waren jedoch weit entfernt, den Ukrainern in ihren Bestrebungen auch außerhalb der Sprachfrage behilflich zu sein, vielmehr gewannen sie immer mehr die Überzeugung, daß durch die lebensfähige ukrainische Idee ihre politische Ausnahmestellung im Lande weit gefährlicher bedroht wird als durch die russophile. Andererseits mag es auch richtig sein, daß Rußland die Polonisierung Galiziens anfänglich unangenehm empfand (sie wurde kurz nach der endgültigen Vernichtung der Autonomie in Russisch-Polen durchgeführt); bald aber mußte es zur Überzeugung gelangen, daß von den zwei Möglichkeiten — der Polonisierung des ganzen Landes und der Ukrainisierung eines großen Teiles desselben — die erstere viel eher mit den russischen Staatsinteressen vereinbar ist als die letztere. Auf diese Weise ist die gemeinsame Grundlage zwischen den Polen und dem Protektor der russophilen Bewegung in Galizien von selbst entstanden, bevor noch in der galizisch-polnischen Gesellschaft direkte russophile Tendenzen bemerkbar geworden sind. Daß man sonst in Petersburg sich bald mit der polnischen Autonomie Galiziens abzufinden wußte, beweist am besten die Tatsache, daß die besten Beziehungen zwischen Österreich-Ungarn und Rußland mit der Führung des Auswärtigen Amtes der Monarchie durch den Grafen Goluchowski, den Sohn des Stifters der galizischen Autonomie, zusammenfallen.

 

Die Ukrainer, die in Wirklichkeit die Majorität im Lande haben, haben infolge dessen, kurz vor dem Kriege, nach den heftigsten Kämpfen, ihre politische Bedeutung im Lande nur soweit zu bringen vermocht, daß ihre Rechte im Rahmen der Landesautonomie und auf dem Gebiete der Staatsgesetzgebung im Vergleich zu den der Polen wie 1:4 gesetzlich festgestellt worden sind. In der Praxis steht der ukrainische Besitzstand weit tiefer. So zum Beispiel auf dem Gebiete des Schulwesens beträgt die Zahl der ukrainischen Staatsmittelschulen nur ein Zehntel der polnischen.

 

Die Angelegenheit der ukrainischen Universität ist allgemein bekannt, deren rechtzeitige Errichtung unabsehbare Folgen zugunsten Österreich-Ungarns hätte herbeiführen können. Sonderbar ist es, daß gegen die Idee einer selbständigen ukrainischen Universität in Lemberg Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt wurden seitens derjenigen polnischen Parteien, die ihre russophile Gesinnung zur Sicht trugen. Die Ukrainer sind auch heute nicht im klaren, aus welchem Grunde die österreichische Regierung die ukrainische Universitätsfrage fallen ließ, ob aus Respekt vor Polen oder vor Rußland.

 

Wenn die Monarchie irgendwelche aggressiven Absichten von Galizien aus gehabt hätte, so hätte sie auch für eine andere Einrichtung der politischen Verwaltung dieser beispiellos riesigen Provinz Sorge getragen. So zum Beispiel hätte sich die Zentralregierung durch die Einführung der polnischen Sprache in allen öffentlichen Behörden, die Möglichkeit der unmittelbaren Einsichtnahme in die Landesangelegenheiten und der Bildung eines selbständigen und objektiven Urteils über dieselben nicht abgeschnitten.

 

In der sprachlichen Evolution der galizischen Ukrainer, welche die nationale Individualität derselben zu entscheiden hatte, nahm die Regierung

 

 

____

44

 

keine Stellung zugunsten ihrer Bestrebungen ein; ja, was noch mehr, die Regierung stellte sich (in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) zur Idee der Einführung der Volkssprache in die Literatur vollkommen negativ, sie verbot Publikationen in derselben und konfiszierte solche anderswo erschienene, ausschließlich ihrer sprachlichen Form wegen, obwohl sie schon frühzeitig dessen bewußt war, daß die alte Literatursprache, wenn nicht der ukrainischen Volkssprache, dann der neuen großrussischen Platz machen muß. Die Regierung war zwar auch dieser letzteren nicht zugeneigt, und sie hätte am liebsten, wenn sich schon die Ukrainer keineswegs der polnischen Sprache bedienen wollen, die Bildung irgend eines besonderen galizischen Idioms gesehen, doch dies war, aus Rücksicht auf die große Einheitlichkeit der ukrainischen Sprache vom San bis über den Dnipro hinaus, nicht möglich. Der Grund, daß die ukrainische Volkssprache immerhin die Oberhand gewann, lag vor allem in der Lebensfähigkeit der Idee selbst und in einer gewissen oben erwähnten Unterstützung seitens der eigentlichen Machthaber in Galizien, der Polen. Doch sind die Rechte der ukrainischen Sprache auf dem Gebiete des öffentlichen Lebens noch bis heute beschränkt; sie wird im großen und ganzen nur geduldet. Es ist eine interessante Tatsache, daß die Anhänger der russischen Sprache als Literatursprache sich hier lieber der polnischen (in der Bukowina der deutschen) Amtssprache, als der ukrainischen Volkssprache, bedienten. Was Ungarn anbelangt, so ist dort die Regierung bis zum heutigen Tage der ukrainischen Sprache und Rechtschreibung abgeneigt und bedient sich zuweilen (die Rechte der „ruthenischen" Sprache in Ungarn sind sehr minimal) des russischen oder halbrussischen Dialekts.

 

In Verbindung mit der Sprache widersetzten und widersetzen sich die beiden Regierungen bis zum heutigen Tage den Bestrebungen der ukrainischen Intelligenz die alten Namen „Ruthene", „ruthenisch" durch die neuen „Ukrainer", „ukrainisch" zu ersetzen. Wenn nicht die Opposition der österreichischen Behörden, die bis zum heutigen Tage, sogar in Kriegszeiten, andauert, und wenn nicht der alte Terminus durch die Schulen und Behörden künstlich erhalten würde, so wäre er schon längst in Vergessenheit geraten und hätte auch keine Gelegenheit zu Mißverständnissen und zur Irreführung der unwissenden Bauern dargeboten. („Ruthene" ist sprachlich identisch mit „Russe" und dient beim gemeinen Volk in Galizien hauptsächlich zur Bezeichnung des griechisch-katholischen Ritus; für die Benennung des Großrussen wird ausschließlich das Wort „Moskalj" gebraucht). Auch in dieser Beziehung ist es damit in Ungarn noch schlimmer bestellt als in Österreich. Dort war sogar während des Krieges, als die ukrainischen Freiwilligen ihr Leben für den Schutz der ungarischen Grenze opferten, den Zeitungen erlaubt, die ukrainische Idee und den ukrainischen Namen auf unerhörte Weise zu besudeln.

 

Die traurige Tragödie eines hohen Staatswürdenträgers in Galizien, der den Russophilismus zuungunsten der Ukrainer unterstützte, ist noch in Erinnerung; mit diesem Vorwurf sparten die Interessierten auch gegen andere hohe Vertreter der Staatsgewalt nicht.

 

Es ist auch allgemein bekannt, daß zu einer reichen für die „Ruthenen" bestimmten kaiserlichen Stiftung in Lemberg, trotz aller Proteste

 

 

____

45

 

und Bemühungen der Ukrainer, nur eine winzige Schar der Russophilen berechtigt war.

 

Im Jahre 1913 gab es einen Augenblick, der eine Wendung in der Schätzung der ukrainischen Frage in Österreich anzukündigen schien: der bekannte Appell Seiner Majestät des Kaisers an den ukrainischen Verband im Abgeordnetenhause. Es folgten aber keine Tatsachen seitens der Regierung, die diese Hoffnung rechtfertigen könnten.

 

Die reichshauptstädtische Presse, welche für die ukrainische Bewegung nicht nur niemals ihre Sympathie kundgab, sondern direkt kein Verständnis für dieselbe besaß, konstatierte zu wiederholten Malen, daß zwischen der Tendenz derselben und der Richtung der Staatspolitik keine Gemeinschaft in ihren Grundsätzen bestehe. So rechtfertigte nämlich die Wiener Presse, nach der im vorigen Jahre in der Duma gehaltenen Rede Ssasonows, Österreich, daß dieses aus Rücksicht auf die Gesetze über die Freiheit der nationalen Entwicklung der Staatsbürger, die ukrainische Bewegung, als eine angeblich russenfeindliche, nicht aufhalten könne. Nicht lange darauf, als das k. k. Landesgericht in Lemberg die Russophilen Bendasjuk und Konsorten, die des Hochverrates beschuldigt waren (ihr wahres Gesicht zeigte sich schon jedem in der Kriegszeit), freigesprochen hatte, erklärte dieselbe Wiener Presse, daß der ganze Prozeß und dessen Resultat nicht Österreich, sondern . . . die Ukrainer kompromittiere.

 

Diese Reihe von Tatsachen dürfte wohl ausreichen, um die Unhaltbarkeit der russischerseits Österreich gemachten Vorwürfe nachzuweisen wegen der Schaffung der ukrainischen Idee und der Pläne der Monarchie unter der Mithilfe dieser Idee Rußland zu untergraben, seine Provinzen zu annektieren und dergleichen. Wenn ein solcher Gedanke wirklich vorhanden wäre, wenn Galizien dementsprechend eingerichtet, die national-kulturelle und politisch-ökonomische Entwicklung der Ukrainer während der letzten zwei Menschenalter frei, entsprechend beurteilt und unterstützt gewesen wäre — nur mit der Hälfte der österreichischerseits für Albanien aufgewandten Kosten und nur mit einem Bruchteil der russischerseits für die Entukrainisierung Galiziens während der Okkupierung des Landes verwendeten Energie — so würde es heute anders sein . . . ganz anders.

 

 

____

46

 

 

 

Karte Galizien-Lodomerien im Jahre 1240

 

 

 

 

 

Quelle:

Das Werk ist im Internet-Archiv unter folgendem Link zugänglich:

https://archive.org/details/dieweltpolitisch00tomauoft/page/n5/mode/2up

 

 

 

 

 

 

 

Otto Wallner (Wien) 1921 zu Ostgalizien

Die Glocke
27. Heft 26. September 1921 7. Jg.

 

. . .

 

____

741

 

OTTO WALLNER (Wien):

 

Die ukrainische Frage.

 

Es wird gemeldet, daß die Polen sich vollständig Ostgaliziens bemächtigen wollen. Die Ruthenen fordern Volksabstimmung nach Abzug der polnischen Besatzung. Völkerbund! Selbstbestimmungsrecht der Völker .... Wir kennen das Lied, wir kennen die Melodie. Wir wissen auch, daß alles andere, nur nicht allgemeine Grundsätze einer Völkerordnung die Entscheidung fällen wird. Wir wollen sie abwarten. Was liegt aber vor?

 

In Ostgalizien wohnen Polen, Ruthenen und Juden. Die Polen seit alters Großgrundbesitzer, Adlige, Herren, die Ruthenen Knechte, Diener, Kleinbauern, die Juden Händler, Vermittler, Wirtschafter, Verwalter, ehedem zu den Deutschen gezählt, als Oesterreich noch ein deutscher Staat war, später zu den Polen übergehend, die ihnen mehr Macht, als die Ruthenen geben konnten, Macht und Prügel, wie es kam, denn die Pogromstimmung hat in Lemberg und den anderen Städten nie aufgehört. Aber was sollte der Pole ohne den Juden anfangen? Man schlug ihn und nützte ihn.

 

Es gärte immer in Ostgalizien. Nationale Gegensätze. Wirtschaftliche Gegensätze. Auch religiöse Gegensätze. Die Polen, treue Anhänger der katholischen Kirche, waren seit altersher mit Rom innig verknüpft. Was galt ihnen das rohe Volk der ruthenischen Bauern? Das war bei der großen Kirchenspaltung orthodox geworden! Als die Macht der katholischen Kirche groß genug war, als der Arm der Polen stark genug war, hat man die ganze Herde der katholischen Kirche wiedergewonnen. Verträge und Vereinbarungen gewährten den neuen Gläubigen die Rechte, welche der Katholizismus fremden Völkern — und die Ostvölker werden als fremde Völker in Rom empfunden — so oft gewährte. Sobald einmal der Papst anerkannt war, die Dogmen angenommen waren, konnten die Ruthenen von ihren orthodoxen Riten gar vieles beibehalten, die Kirchen sahen wie russisch-orthodoxe Gotteshäuser aus, die Priester durften heiraten. Aber die neuen Katholiken galten nicht als vollwertig, trotz der Union. Die Polen sprachen wohl gar von der „Bauernreligion“. Uniert sein hieß ruthenisch sein, lateinisch-katholisch sein hieß polnisch sein. Als Nationalität entscheidend wurde, als die Statistik in ihre Rechte trat, kam es nicht selten vor, daß polnische Priester Kinder unierter Ruthenen in ihren Kirchenbüchern als Täuflinge führten und so den Stand der Polen vermehrten. Rom verbot’s. Es half nicht immer. Der Gegensatz blieb. Der unierte Erzbischof vertrat die Interessen der Landarbeiter, wenn sie streikten, er predigte vom Recht des freien Mannes. Der polnische Erzbischof lehrte die Unterwerfung. Er wußte die Worte so zu stellen, daß das Verhältnis von Herr und Knecht als moralisch-religiöse Forderung unterstrichen wurde.

 

____

742

 

Die ukrainische Frage.

 

So war der Gegensatz national, wirtschaftlich und konfessionell immer lebendig. Wie war es politisch? Die österreichische Regierung, gewohnt mit allerlei Völkern umzugehen, hat bald die Ruthenen den Polen ausgeliefert, bald sie zu selbständiger Politik anzuregen gesucht. Dazu mußten sie freilich erst eine wirkliche Nation werden. Die Ruthenen wußten nichts Rechtes mit sich anzufangen. Ein Teil sehnte sich nach Rußland. Weg von den Polen! Weg von Rom! Weg von Oesterreich! Und so verbreitete sich, besonders unter den Rückwanderern aus Amerika, die dort mit russischen Priestern in Verbindung traten, der Russophilismus rasch in Galizien. Die Russophilen warteten darauf, die russische Fahne auf den Karpathen wehen zu sehen. Versuche, sich der orthodoxen Kirche Rußlands anzuschließen, waren keine Seltenheit. Ein anderer Teil der Ruthenen bemühte sich, an alte Kulturüberlieferung anzuknüpfen. Aus Kiew war die älteste russische Kultur als eine kleinrussische hervorgegangen. Erst später hatte Moskau die Führung übernommen. Aus den Ruthenen wurden Kleinbauern und Knechte. Nun soll das Alte neu belebt werden. Die österreichische Regierung fördert’s. Eine eigene „ukrainische“ Sprache, eine eigene „ukrainische‘‘ Schrift wird geschaffen, absichtlich dem Russischen mehr entfremdet, als dies durch den Dialekt allein bedingt wäre. Neue Kulturworte werden eingefügt — genau so machten es ja die Tschechen und die Ungarn. Die Ukrainer, welche so als besondere Nation sich abgrenzten, hatten in Polen und im Russen ihren Feind. So war die Verwicklung groß genug, um zu Beginn des Weltkrieges die Kämpfe und sonstigen Maßnahmen wesentlich zu beeinflussen. Im „eigenen“ Lande mußten die österreichisch-ungarischen, die österreichischen und die ungarischen Truppen mit „Verrat‘“ rechnen.

 

So steht es mit Ostgalizien. Eine unterdrückte Bevölkerung will von ihrem Herrenvolk weg. Wird es ihr gelingen? Wird sie fähig sein, sich selbst zu verwalten? Wird sie sich an Rußland anschließen? Das alles sind offene Fragen. Die Telegramme werden uns darüber weiter unterrichten oder belügen, bis eines Tages die Tatsachen sprechen.

 

__________________________

 

Quelle: Otto Wallner (Wien): Die ukrainische Frage. Die Glocke 27. Heft 26. September 1921 7. Jg. S. 741-742 Verlag für Sozialwissenschaft Berlin 1921

 

Hinweis:

Der Artikel ist in archive.org unter folgendem Link online gestellt:

https://archive.org/details/dieglocke7.192122hefte127/page/n809/mode/2up

Identifier dieglocke7.192122hefte127

Identifier-ark ark:/13960/t2k72gb02

 

 

 

 

 

Vallentin-1922: Das ostgalizische Problem

Die Glocke 52. Heft 20.03.1922 7. Jg.

. . .

____

1446 Das ostgalizische Problem.

 

 

A. VALLENTIN (Lemberg): Das ostgalizische Problem.

 

Zu den vielen Feuerherden neuer Wirrnisse, die infolge des Versailler Vertrages entstanden sind, gehört auch das ostgalizische Problem. Artikel 91 des Staatsvertrages von St. Germain besagt in bezug auf die Gebiete, „die dermalen den Gegenstand keiner andern Zuweisung bilden“: „Oesterreich verpflichtet sich, die Bestimmungen anzuerkennen, welche die alliierten und assoziierten Hauptmächte bezüglich dieser Gebiete, vor allem mit Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit der Bewohner, treffen werden.“

 

Mit diesen, jede beliebige Auslegung zulassenden Worten, die alles von einer späteren Entscheidung abhängig machten, glaubten die Hauptmächte sich ihrer Verpflichtung gegenüber der galizischen Millionenbevölkerung entledigt zu haben. Ein unerträglicher Zustand wurde geschaffen. Es ist für einen Außenstehenden fast unmöglich, die unzähligen Komplikationen dieses galizischen Problems und ihren Kausalzusammenhang zu erkennen. Die Nationalitätenkämpfe in Ostgalizien wurden unter der fürsorglichen Obhut des alten Österreichischen Regimes hochgezüchtet. Um den Einfluß des Polenklubs und die Formation eines slawischen Blocks zu kontrekarrieren, nützte das bureaukratische Altösterreich sein ganzes Intrigenspiel, um eine nationalruthenische Bewegung zu fördern. Die Bevölkerung Ostgaliziens war vor Jahrzehnten weniger durch die Sprachdifferenzen — das polnische und das ruthenische Idiom —, als durch den Religionsunterschied geschieden. Erst die weiter gezüchteten Reibungen — dazu die nachdrückliche russische Agitation, die von Polen selbst zwecks einer Spaltung der ukrainischen Partei begünstigt wurde — haben den ruthenischen Bauern aus seinem politischen Indifferentismus wachgerüttelt. In einem Zeitraum von Jahren beinahe entstand eine grandios anschwellende Bewegung, die den Zwiespalt einer zweisprachigen Bevölkerung zu einer ungeheuren Kluft aufriß.

 

Damals haben die ukrainischen Politiker die Forderung der Autonomie Ostgaliziens — unter diesem Namen faßte man das Land bis zur Demarkationslinie des San, einschließlich Lemberg, zusammen — aufgestellt. Den Höhepunkt erreichten diese Wirren im November des Jahres 1919 und steigerten sich bis zur Tragik

 

 

____

1447 Das ostgalizische Problem.

 

blutiger Straßenkämpfe in Lemberg, von denen noch heute manches kugelzersiebte Haus zeugt. Mit der Einnahme Lembergs durch die Polen — dieser Tag wurde damals durch Judenpogrome auf eine so traurige Weise denkwürdig — erreichten die Waffenauseinandersetzungen ihren Abschluß. Es folgte nach einiger Zeit das bekannte Abkommen mit Petljura, in dem die Großukrainer ihr Desinteressement am ostgalizischen Problem erklärten und sich auf die Demarkationslinie des Zbrucz einigten. Im November 1919 versuchte die Entente, die Verhältnisse durch ein Abkommen zu festigen, aber der Entwurf der Statuten zur Regelung dieses Problems wurde suspendiert.

 

Nachdem die Ukrainer von ihren Brüdern in der Großukraine im Stich gelassen wurden, trat die Sowjetregierung als ihre Sachwalterin auf. Da jedoch der polnisch-russische Krieg durch den Rigaer Frieden am 18. März 1921 seinen Abschluß fand, haben sich dort auch die Sowjetvertreter der Großukraine für die Zugehörigkeit Ostgaliziens zu Polen erklärt. Von außen her erschien das Problem als erledigt. Aber um so brennender gestaltete es sich nach innen.

 

Die ruthenische Bevölkerung in Ostgalizien hat ein unbestrittenes Uebergewicht. Nach der Statistik, die im Jahre 1910 das höhere Landesgericht in Ostgalizien — die österreichische Regierung hatte diese Teilung des ausgedehnten Landes aus administrativen Gründen in Ost- und Westgalizien in rein territorialem Sinne aufgestellt — herausgebracht hat, setzt sich die Bevölkerung wie folgt zusammen: 2131574 Polen = 39,8% und 3133194 Ruthenen = 58,9%. In dieser Statistik entsteht eine Ungenauigkeit, weil man auf die beiden Nationen die Juden verteilte, deren nationaler Separatismus schon damals sich stark dokumentiert hat und denen es nicht erlaubt war, zur jüdischen Nationalität sich zu bekennen. Die Zählung nach Religionen sieht so aus:

 

1 349 626 römisch-katholisch = 25,3 %
3 293 073 griechisch-katholisch = 61,7 %
658 722 Juden = 12,4 %

 

Das Zahlenbild spricht für die Berechtigung der ukrainischen Forderungen. Es darf jedoch nicht verkannt werden, daß die Verhältnisse in Ostgalizien viel schwieriger sind als in andern Ländern mit einer gemischten Bevölkerung. Die Verquickung der Nationen ist eine so vollkommene, daß z. B. die Mutter des früheren polnischen Außenministers Dabski eine Ruthenin, während die Mutter des Ruthenenführers Hankiewicz eine Polin ist, daß der Erzbischof Metropolit Szeptycki — die treibende Kraft der Bewegung — der Enkel eines bekannten polnischen Dichters ist und einer alten polnischen Familie entstammt.

 

Ein nicht minder wichtiger Punkt ist die ausschließliche Zusammensetzung der ruthenischen Bevölkerung aus Landbebauern.

 

 

____

1448 Das ostgalizische Problem.

 

Auf 1000 Ukrainer kommen 918, die sich nur mit dem Ackerbau beschäftigen — die übrigen sind Geistliche, Volkslehrer — oder gehören freien Berufen an, während bei den Polen 618 Ackerbauer auf 1000 Polen kommen, und die Industrie sich fast ausschließlich in den Händen der Polen und Juden befindet. Dies fällt um so stärker ins Gewicht, als der Industriebezirk, die Naphtaquellen von Boryslaw und Drohobycz sich in Ostgalizien befinden. Man muß auch der Stimmung der Bevölkerung Rechnung tragen. Die Polen in Ostgalizien — in diesem von Kriegen so heimgesuchten Lande — haben sich mit ungeheurer Zähigkeit der bolschewistischen Invasion erwehrt, und ihre verbissene Abwehr gegen die Lostrennung Ostgaliziens — eine Abwehr, die sie jederzeit mit Waffengewalt zu unterstützen bereit sind — ist ein nicht zu unterschätzender Faktor.

 

Andererseits hat die ukrainische Bevölkerung über vielfache Uebergriffe der polnischen Verwaltung zu klagen, die sich auf die Minderwertigkeit des polnischen Beamtenapparats zurückführen lassen. Die ungenügende Administration ist überhaupt das Hauptübel des Landes, das allerdings aus den schwierigen Verhältnissen erwachsen ist. Dieses neu zusammengeschweißte Land, das vier Gesetzgebungen hat und in drei getrennte Formationen sich auswuchs, ist schwer zu verwalten, um so schwerer, da nur der Teil, der zu Oesterreich gehörte, ein teilweise geschultes Beamtenwesen liefern konnte, während die früheren deutschen und russischen Gebiete infolge der mangelnden Selbstverwaltung einen neugeschaffenen Administrationsapparat aufstellen mußten. Auf dieses unerfahrene Beamtenwesen gehen die meisten inneren Wirren zurück. Die ruthenische Agitation auf dem Lande reißt immer wieder die Bevölkerung aus dem Indifferentismus empor. Ich sah Aufrufe, die an das Provisorische des Zustandes mahnen und einstweilen eine passive Resistenz organisieren. Verschiedene Strömungen spielen dabei mit. Die starke bolschewistische Tendenz ist am deutlichsten zu erkennen. Die antibolschewistischen ukrainischen Politiker haben mit dem Traum einer Monarchie unter Habsburgern geliebäugelt, und erst wohl das Mißlingen der ungarischen Farce hat sie ernüchtert.

 

Neben der Neigung zu Sowjetrußland spielt ein anderer Faktor, rein gefühlsmäßiger Natur, eine bedeutende Rolle. Die griechisch-katholische Bevölkerung Ostgaliziens ist unitisch, im Gegensatz zu den Russen, die im Zaren das Oberhaupt ihrer Landeskirche sahen. Nun ist Väterchen Zar tot, und es ließen sich vielleicht die Russen für eine Union mit dem Papste gewinnen. Der Metropolit Szeptycki hat sich den Vatikan durch die Idee der Unifizierung gesichert, und die immer polenfreundliche römische Kurie ist auf diese Weise für die Errichtung eines selbständigen ukrainischen Staates gewonnen worden. Infolge der Tatsache, daß die Geistlichen der Ukraine die Hirne und das Gewissen zugleich der

 

 

____

1449 Eisgang.

 

Bevölkerung sind, konnte die Idee ihre Ausbreitung finden. Sie lebt nun neben Alltagsüberlegungen in den Herzen der ruthenischen Bauern als Bewußtsein einer großen Mission, und die fernen paradiesischen Hymnen der Millionen geeinigter Brüder haben vielleicht eine ebenso starke Gewalt wie die wachen Tendenzen der Gegenwart.

 

Während den polnischen Rechtsparteien das galizische Problem in seinem jetzigen Zustand als gelöst gilt und sie sich über die unhaltbare Lage hinwegzutäuschen suchen, würde sich die polnische Sozialdemokratie im Sinne der Selbstbestimmung der Völker auf eine territoriale Autonomie eines Teils Ostgaliziens einigen. Lemberg wird dabei ausgenommen. Die Stadt macht auch wirklich einen durchaus polnischen Eindruck, und das zahlreiche ruthenische Element fällt im Stadtbilde nicht auf. Der sprachkundige Fremde würde nicht einmal die Vorstellung einer gemischten Bevölkerung davontragen, während auf dem Lande die Ukrainer in einem so erheblichen Prozentsatz überwiegen. Der Urteilsspruch, den die Hauptmächte über Ostgalizien zu fällen haben, birgt eine ungeheure Verantwortung in sich.

 

An Ort und Stelle, unbemerkt und unbeeinflußt, müßte man die Verhältnisse prüfen, denn auf die Entfernung hin sprechen die Ambitionen der Führer lauter als die Nöte des Volkes.

 

 

Quelle:

Die Glocke 7. Jg. 52. Heft 20.03.1922 S. 1446-1449. Berlin. Verlag für Sozialwissenschaft

Vallentin, A. (Lemberg): Das ostgalizische Problem.

 

Hinweis:

Der Artikel ist in archive.org unter folgendem Link online gestellt:

https://archive.org/details/dieglocke7.192122hefte2853/page/n757/mode/2up

Identifier dieglocke7.192122hefte2853

Identifier-ark ark:/13960/t00084f7p