Heinrich L. Nickel: Klosterkirche Hamersleben - Untersuchung der Kapitellornamentik

WISSENSCHAFTLICHE ZEITSCHRIFT DER MARTIN -LUTHER -UNIVERSITÄT HALLE -WITTENBERG

wiss. Z. Univ. Halle, Ges.-sprachw. | Jahrg. 3, Heft 3 | S. 653-666 | Halle (Saale), 30. April 1954

 

Aus dem Kunstgeschichtlichen Institut

(Komm. Direktor: Prof. Dr. HEINZ MODE)

Zur Erbauungszeit des Langhauses der Klosterkirche zu Hamersleben *)

Eine stilkritische Untersuchung der Kapitellornamentik

Dr. HEINRICH L. NICKEL

 

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N2s

 

Vom Baubeginn an der Augustiner-Chorherren-Stiftskirche zu Hamersleben (einem Ort in der Nähe von Oschersleben) überliefern Urkunden genügend sichere Auskunft 1). Bischof REINHARD von Halberstadt stellte am 9. August 1112 die Stiftungsurkunde für das Kloster aus. REINHARD hatte bereits 1107, unmittelbar nach der Übernahme der Diözese, in Osterwieck, am Nordrande des Harzes ein Augustiner-Chorherrenstift eingerichtet. 1111 wurde dann das Kloster nach Hamersleben verlegt, sei es, weil Osterwieck als Marktplatz zu wenig weltabgeschieden war, sei es, weil zwei vornehme Damen, Thietburg und ihre Tochter Mathilde, dem Kloster ansehnliche neue Ländereien geschenkt

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*) Der vorliegende Aufsatz entstand .zusammen mit meiner Arbeit über spätromanische Bauornamentik, die im ersten. Heft dieses Jahrgangs der Wissenschaftlichen Zeitschrift (gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe) erschienen ist. Die außergewöhnlich hohe Qualität und Schönheit der Kapitellreliefs im Langhans der Kirche zu Hamersleben, - es wurde ihnen bisher zu wenig Beachtung geschenkt - rechtfertigen eine besondere Abhandlung. Da über die Bauzeit des Langhauses der Stiftskirche keine sicheren Nachrichten erhalten sind, bietet sich hier eine gute Gelegenheit, die gewonnenen Ergebnisse der früher veröffentlichten Arbeit für die Datierung praktisch zu verwerten. Wenn auf Abbildungen der ersten Arbeit verwiesen wird, so steht hinter der Abbildungsnummer ein a.

 

1) Eine Zusammenstellung der erhaltenen Urkunden bringt A. GUTH, Die Stiftskirche zu Hamersleben; Oschersleben 1932.

 

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hatten unter der Bedingung, das Kloster in dieses Gebiet zu verlegen. Die Mönche wurden bereits 1111 von Osterwieck nach Hamersleben übersiedelt, zu welchem Zeitpunkt sicherlich schon mit den Bauarbeiten begonnen wurde. Die Klosterkirche wurde dem St. Pancratius geweiht. An der nördlichen Säule der Vierung ist auf dem Kapitell der Heilige mit einem Palmenzweig in der Hand in Medaillonform dargestellt.

Die Stifterin Mathilde starb 1115 und wurde in der Kirche beigesetzt; wahrscheinlich in einer Seitenkapelle des Chorhauses. Um diese Zeit waren zumindesten.Teile des Chores und des Querhauses errichtet. Im gleichen Bauabschnitt wurden dann die Ostteile bis zum chorus minor

fertiggestellt.

Zwischen chorus minor und Langhaus verläuft eine auch heute noch gut sichtbare Baunaht, die sowohl im Mauerwerk, wie am Schachbrettfries im Innern zu erkennen ist. Das Langhaus wurde später errichtet. Die Annahme von GUTH, daß das Langhaus vom Westen zu bauen begonnen wurde, hat viel für sich. Da der Baugrund nach Osten hin ansteigt, mauerte man die Hochschiffwände, ohne es gleich zu bemerken, gleichfalls nicht ganz horizontal, so daß die Schachbrettrahmung der Arkaden nicht mit den Ansätzen am chorus minor zusammenpaßte und durch eine Stufe ausgeglichen werden mußte 2).

Wann wurde nun aber das Langhaus ausgeführt? Die Ansichten der Forscher weichen in diesem Punkt stark voneinander ab. DEHIO (Handbuch Bd. V, 3. unveränderte Aufl. 1944) gibt als Hauptbauzeit die 2. H. des 12. Jh. an. Die neuere Forschung dagegen neigt zu einer bedeutend früheren Datierung. Otto GAUL 3), der sich dabei auf H. KUNZE 4) beruft, meint, die Kirche gehöre als Ganzes noch in die 1. H. des 12. Jh. („2-3 Jahrzehnte nach der Stiftung“ 1111).

GAUL kommt zu dieser Datierung auf Grund einer von ihm selbst aufgestellten Entwicklungstheorie der mitteldeutschen Baukunst. In dieser Arbeit will er die niedersächsische Bauornamentik ohne maßgebliche fremde Einflüsse aus sich selbst entstanden wissen. Er sagt (S. 38): „Die Ornamentik der Hamerslebener Langhaus-Kapitelle schließt .sich jedoch, wie nunmehr mit aller Entschiedenheit festgestellt werden muß, unmittelbar an diejenige Ornamentik an, die wir als Quedlinburger Schule bezeichnet hatten; insbesondere ist die Ornamentik des Heiligen Grabes nächst verwandt“.

GAUL führt an, daß sowohl im Quedlinburger Formenkreis wie in Hamersleben Ranken mit Trauben in Verbindung gebracht werden, und daß die gleichen Tiere, Löwen, Vögel, Hirsch und sphinxartige Wesen, vorkommen. Stimmt! Aber weder die Ranken mit Trauben noch die dargestellten Tiere sind ein Privileg Quedlinburgs oder Hamerslebens, sondern sind Allgemeingut der Kunst des 12. Jh. in ganz Europa!

Interessant ist die Feststellung GAULS, daß das Langhaus fast die gleichen Aufrißmaße hat wie St. Godehard in Hildesheim. Wahrscheinlich wurde der Grundplan des Langhauses im ersten Bauabschnitt der Kirche schon festgelegt (Baubeginn von St. Godehard in Hildesheim 1133). Es ist ja eine sehr bezeichnende Gewohnheit der mittelalterlichen Baukunst, einmal begonnene Bauten über Jahrhunderte hinaus zwar mit den Mitteln der neueren Zeit, aber doch nach alter Disposition weiterzubauen. Das beste Beispiel für diese Gesinnung bietet der Halberstädter Dom, der, obwohl zum größten Teil erst im späten Mittelalter errichtet, trotzdem sein hochgotisches Gesicht gewahrt hat.

Erwin KLUCKHOHN setzte sich in seiner Habilitationsschrift auch für die frühe Datierung ein 5). Aus dem Vergleich mit italienischen Bauten kommt er zu einer Ansetzung „nicht vor 1130“. KLUCKHOHN betonte, daß die Hamerslebener Ornamentik außergewöhnlich selbständig und eigenwillig sei. Obwohl ein bestimmtes italienisches Vorbild nicht nachzuweisen sei, habe der Hamerslebener Steinmetz sicher Oberitalien gekannt, da motivische Anklänge in Pavia (S. Michele), Mailand (S. Ambrogio), Modena (Dom), Piacenca (S. Savino), Parma (Dom) und Ferrara (Dom) zu erkennen sind. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß der Hamerslebener Steinmetz an einem der Bauten mitgearbeitet hatte. Die Annahme, er hätte sich nur von den modernsten Bauornamenten Oberitaliens anregen lassen, ist daher m. E. Nicht zwingend. Man erhält bei einem Stilvergleich deutscher und italienischer romanischer Bauten selten mehr als einen terminus post quem für die ersten.

Den Untersuchungen Gerda WULFFS zufolge treten Individualisierungs- und Aktualisierungsmerkmale (wie wir sie in Hamersleben am Ken-

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2) Albert GUTH (a. a. O.) meint, daß gleichzeitig mit dem Chor auch die Westfassade des Langhauses errichtet wurde, da die Nonnenempore, deren Arkadenrahmung heute noch im Mauerwerk erkennbar ist, nur zu Lebzeiten der Stifterinnen gebaut werden konnte. In der späteren Zeit war das Kloster nur mit Mönchen besetzt. Eine Baunaht zwischen Westfassade und Langhaus ist jedoch nicht festzustellen. Die Details an der Innenwand der Westmauer lassen immerhin auch eine gleichzeitige Entstehung mit dem Langhaus zu.

GUTH gelang es auch, mit Grabungen in Hamersleben Fundamentansätze für einen Westvorbau, ähnlich Talbürgel und Paulinzella, festzustellen.

3) GAUL, Otto: Die romanische Baukunst und Bauornamentik in Sachsen. Diss. Köln 1932, S. 37.

4) KUNZE, Hans: Die Kirchliche Reformbewegung des 12. Jh. im Gebiet der mittleren Elbe. Jhb. Sachsen und Anhalt Bd. I, 1935.

5) KLUCKHOHN, Erwin: Die Bedeutung Italiens für die romanische Baukunst und Bauornamentik in Deutschland; Marburger Jhb. 1953/54, S. 46ff. (Dieser wichtigen Arbeit sind zahlreiche Abbildungen der italienischen Vergleichsbeispiele beigegeben.)

 

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taurenkapitell feststellen können) bei Mischwesen in Deutschland erst zu Ende des 12. Jh. auf 6). Am nördlichen Querschiff des Straßburger Münsters (um 1200) ist an der Ostwand eine langhaarige Frau mit Fischleib angebracht, die im Arme ein gleichfalls fischleibiges Junges hält. In der Liebfrauenkirche zu Maastrich kommen an einem Kapitell bewaffnete Vogelmenschen vor, die miteinander kämpfen (1190 bis 1200). Gerda WULFF gibt für Hamersleben jedoch auch die übliche Datierung (zwischen 1130 und 1140) an.

Im DEHIO/GALL Bd. 1 (Niedersachsen und Westfalen 1935) wird die Hamerslebener Langhausornamentik auch „zwischen Quedlinburg und Königslutter“ eingeordnet.

Schließlich setzt sich auch Albert GUTH in seiner Monographie über die Stiftskirche zu Hamersleben (1932) für eine Entstehung des Langhauses noch zu Ende der ersten Hälfte des 12. Jh. ein 7).

Vor dem Versuch einer Datierung auf Grund stilkritischer Feststellungen ist es angebracht, die außergewöhnlich schönen und qualitätvollen Kapitellreliefs nach ihren Motiven durchzusehen und sie künstlerisch zu würdigen. Nirgends sonst in Deutschland finden wir Kapitelle in so sicher durchgebildeter, technisch gekonnter Ausführung, bei beinahe klassischer Gliederung und Komposition des Kapitellwürfels. Die Lockerheit und Ungezwungenheit sowohl in der Körperhaltung der Figuren, wie in der Rankenführung wird gelenkt und gedämmt durch die Grenzen und die Aufteilungen des Kapitellblockes.

Diesem Umstand haben wir wohl die harmonische Wirkung der Hamerslebener Kapitelle zuzuschreiben: der unvergleichliche Reichtum an Einzelformen, und ihre beinahe barocke Bewegtheit finden den Ausgleich in der Kapitellgrundform - einem Würfelkapitell. Und mehr noch: sind die Schildflächen und Zwickel der Kapitelle auch in verschiedenartigster Weise ausgefüllt, so bleibt doch fast überall die Schildrahmung erhalten. An einigen Kapitellen sind sogar noch durch das reiche Rankenwerk hindurch die kleinen Halbkreisrahmungen der an Hirsauer Bauten so beliebten Doppelschilde vorhanden. Es wurde also Wert darauf gelegt, daß das struktive Rahmenwerk wie ein Gerüst dem Kapitell erhalten blieb.

Den reichen Kapitellen der Ostseite des Langhauses stehen im Westen einfache Würfelkapitelle gegenüber, deren Schildflächen vollkommen unverziert belassen wurden. Die auch in ihren Proportionen gut ausgewogenen Kapitelle werden von einfachen und an allen Säulen einheitlich ausgeführten Kämpferplatten bedeckt, bestehend aus einem Rundstab, einer tiefen Kehle, einem zweiten Rundstab und einer :flachen Leiste. Die tiefen, beschatteten Einschnitte der Kämpfer scheinen auf den optischen Effekt berechnet zu sein.

Der Reichtum der Kapitellornamentik nimmt im Langhans nach Osten hin zu: das ist leicht verständlich, da ja Kirchenräume auf das Heiligtum des Chores bezogen sind und somit die Bedeutung der Bauglieder bei Annäherung an den Chor größer wird 8). Eine andere Eigenheit der Hamerslebener Kapitelle ist jedoch aus dieser Uberlegung heraus nicht zu erklären. Die Kapitelle sind (bis auf zwei Ausnahmen S 1 und S 2) 9) jeweils nur auf drei Seiten ornamentiert. Die dem Seitenschiff zugekehrte Seite ist entweder ganz glatt oder nur durch Schildaufteilungen belebt. Hieran ist zweifelsohne erkenntlich, daß der Steinmetz bereits mit der Wirkung des Schmuckes auf den Betrachter gerechnet hat. Eine bescheidene Parallele hierzu befindet sich in Landsberg, wo an der Nordostsäule des unteren Raumes in der Doppelkapelle zum Mittelschiff hin an den Kapitellecken Halbfiguren gesetzt sind, während die dem Seitenschiff zugekehrte Seite nur Palmettenranken aufweist.

Obwohl die Weinranken an den Hamerslebener Kapitellen noch nicht nach Naturvorbildern geschaffen sind und die Tierdarstellungen erst zaghafte Andeutungen von Naturbeobachtungen aufweisen, sind alle Formen, auch die Phantasiegebilde, von solcher Natürlichkeit durchpulst, daß uns sogar die Zwitter- und Fabelwesen glaubhaft erscheinen. Ein kleiner Anstoß dürfte hier bereits genügt haben, um aus dieser Ornamentik die naturnahe, lockere Motivik der aufblühenden Frühgotik entstehen zu lassen.

Auch in Hamersleben bilden, wie so häufig an niedersächsischen Basiliken, zwei Säulen des Langhauses durch Gemeinsamkeiten im ornamentalen Schmuck zusammen eine Gruppe: so sind bei den Kapitellen N 1 und N 2 nur die Schildflächen des Kapitells ornamentiert, während die Zwickel glatt belassen wurden. S 3 und S 4 weisen ornamentierte Zwickel auf, während bei S 1 und S 2 die ganze Kapitelloberfläche mit Figurengruppen und Rankenwerk besetzt und auf eine Schildaufteilung verzichtet wurde.

Die Darstellungen auf den Seiten eines Kapitells oder verschiedener Kapitelle sind nicht inhaltlich aufeinander bezogen. Die auf den ersten Blick so überschäumend reiche Motivik läßt sich bei näherer Betrachtung leicht

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6) WULFF, Gerda: Die Eigenart des spätromanischen Kapitells in Deutschland; Diss. Erlangen 1952, S. 24. maschinenschriftlich, D. B. Leipzig.

7) GUTH, Albert: a. a. O., S. 38ff.

8) Es ist nicht notwendig, diese Unterschiede aus dem Fortschreiten des Bauvorgangs von Westen nach Osten zu erklären.

9) Die Chiffre gibt die Stellung der Säule im Kirchenschiff von der Vierung aus gerechnet an; z. B. S 3 o = S = Südarkade, 3 = 3. Säule von der Vierung aus gerechnet, o = Ostseite des Kapitells.

 

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in einige Hauptgruppen einteilen, die Variationen des gleichen Motivthemas enthalten. Drei Hauptgruppen schälen sich heraus:

 

1. Lebensbaum zwischen gegenständigen Tieren.

N1o 2 drachenschwänzige Vögel, die an den Blättern des Lebensbaumes fressen,

N2w 2 Vögel über Ranken,

S1w 2 Löwen rankenverschlingend,

S1s Lebensbaum zwischen 2 Löwen,

S2s 2 Ziegen am Lebensbaum fressend,

S3o 2 Basilisken seitlich des Lebensbaumes,

S3n 2 gegenständige Vögel (Kampfmotiv ?)

S3w Löwe und Vogel mit Drachenschwanz, seitlich des Lebensbaumes.

 

2. An der Mitte des Kapitellschildes angebrachte Gesichtsmaske, aus deren Mund Ranken quellen.

N4s Normalausbildung dieses Typs,

N4w Hier münden anstatt der Ranken die Rahmungen der Schildaufteilung im Mund der Maske,

S1n Die Maske verschlingt die Leiber von Drachen,

S1o Normalausbildung des Typs,

S2w Die Maske ist gehörnt, an den Ecken des Kapitells sind langohrige Tiere (Hasen oder Esel), die Posaunen blasen, untergebracht,

s4 Hier werden die unteren Ecken des Kapitells durch plastische Masken gebildet, denen gleichfalls Ranken aus dem Munde quellen.

 

3. Kampfszenen:

S2n Kampf zwischen zwei Kentauren.

Eine Sonderstellung nehmen drei Kapitellschilde ein, auf denen die Besiegung eines Tieres oder eines Menschen durch ein zweites Tier dargestellt wird. Diese Figurengruppen sind (bedingt durch den Inhalt) unsymmetrisch aufgebaut.

N2s Greif bedrängt (oder besiegt) einen Menschen,

N1s Panther besiegt einen Drachen,

S4o Löwe besiegt ein Reh.

 

An der so häufigen Verwendung des gleichen Grundmotivs ersehen wir, daß der symbolische oder gleichnishafte Sinn der Darstellungen wohl weniger wichtig war als ihr ornamentaler Schmuckwert. Zweifelsohne liegen den Schildreliefs trotzdem allgemeine, die Heilswahrheiten verdeutlichende Sinngehalte zugrunde.

Bei den baumartigen Gebilden zwischen zwei gegenständigen Tieren handelt es sich sicher um den „Lebensbaum“, der ja eines der ältesten Symbole sowohl der Mittelmeervölker wie auch der Germanen ist (Weltesche Yggdrasil). Im Christentum bedeutet der Baum Christus: in der Offenbarung Johannis. wird Christus als das Holz des Lebens bezeichnet. Der Physiologus berichtet von einem Baum Perideixion, in dessen Ästen Tauben nisten und sich von seinen Früchten ernähren. Der Drache ist ein Feind der Tauben und vernichtet diese, sobald sie sich vom Baum entfernen. In dem theologischen Kommentar hierzu wird der Baum als Gott Vater ausgelegt, in dessen Schatten die Gläubigen wohlbehalten weilen können, während sie bei einer Entfernung von Gott (vom Glauben unweigerlich zugrunde gehen. (Physiologus 34. Rede. 10) Eine Darstellung der Tauben auf einem Baum haben wir auf dem Kapitell N2w vor uns.

 

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Die Ziege wird im Mittelalter als gutartiges Tier betrachtet, da sie sich von den Blättern des Baumes (der Christus bedeutet) nährt. Zwei am Baum fressende Ziegen sind auf Kapitell S2s abgebildet (Abb. 17).

 

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Der Lebensbaum zwischen zwei dämonischen Tieren (hauptsächlich zwei verschiedenartigen = Kapitell S4w Löwe und Basilisk -- Abb. 23 bedeutet nach Wera BLANKENBURG den Kampf Christi gegen Tod und Teufel oder allgemeiner ausgedrückt: des guten Prinzips gegen das Böse 11).

 

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Die Gesichtsmasken auf den Schildflächen sollen Christus (Pantherköpfe), die Ranken, die ihnen aus dem Maule quellen, das Evangelium bedeuten. Die Grundbedeutung ist aber wohl einfach ein Sinnbild des allumfassenden Lebens, der Einheit von Pflanzen- und Tierwelt.

Das Kapitell S1n kann man noch genauer deuten (Abb. 12). Eine Panthermaske verschlingt hier zwei sich heftig wehrende Basilisken.

 

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Vom Panther berichtet der Physiologus, daß er drei Tage schlafe und darauf erwache (dies wird bezogen auf die drei Tage zwischen Tod und Auferstehung Christi) und einen Schrei ausstoße, der Wohlgeruch verbreite und so alle Tiere anlocke, mit Ausnahme des Basilisken, der ein Feind des Christus sei.

Diese Darstellung soll also die Überwindung des Bösen durch Christus zeigen.

Interessant ist die in diesen Zusammenhang gehörende Darstellung auf Kapitell S2w (Abb. 16).

 

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Hier wurde die Panthermaske mit Hörnern versehen. Zu beiden Seiten der Maske blasen langohrige Tiere (Hasen oder Esel) auf Posaunen, wie sie sonst bei Jüngsten-Gericht-Darstellungen von den Engeln gehandhabt werden (s. Die Stuckfiguren im Langhaus der Hecklinger Klosterkirche und das Tympanon mit dem Jüngsten Gericht zu Beaulieu, Corrèze 11a). Offenbar soll hiermit ausgedrückt werden, daß der Unglauben sich genau wie das Evangelium verbreitet, ja daß der Böse sich oft in der Gestalt Gottes verbirgt (der Teufel ist bekanntlich ein gefallener Engel!).

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10) HOMMEL, Fritz: Die aethiopische Übersetzung des Physiologus; Leipzig 1877.

11) BLANKENBURG, Wera von: Heilige und dämonische Tiere; Leipzig 1943, S. 205.

11a) DESCHAMPS, Paul: Die romanische Plastik Frankreichs (Pantheon), Berlin-Firenze 1930.

 

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Die beiden gehörnten Kentauren auf Kapitell S2n, die sich mit Lanzen gegenseitig bekämpfen, bedeuten das Böse, das sich letztlich selbst vernichtet (Abb. 14).

 

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Der Physiologus bezeichnet den Kentauren als das Sinnbild des unzuverlässigen Menschen. Auf Kapitell N1s besiegt der Panther den Basilisken. Diese Szene geht eindeutig auf den Physiologus zurück. Die bezügliche Textstelle haben wir bereits bei der Deutung des Kapitells S1n besprochen.

Schwieriger zu erklären sind die formal verwandten Darstellungen auf Kapitell N2s und S4o.

 

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Hier wird einmal ein nackter (!) Mensch und zum anderen ein Rehkitz von einem Greifen bzw. einem Löwen bedrängt. Das Gute unterliegt hier offenbar dem Dämonischen. Sollte dadurch die Seele bezeichnet werden, die ohne den Glauben (ohne das Opfer Christi) dem Bösen unterliegen muß?

Kapitell S4n soll nach Wera BLANKENBURG (S. 203) Daniel in der Löwengrube darstellen.

 

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Vielleicht liegt dieser 3-Figuren-Gruppe auch tatsächlich ein solcher Sinn zugrunde. Was der Künstler jedoch daraus machte, ähnelt viel eher einer Darstellung der altorientalischen Göttin der Tierwelt, oder der Artemis, und es könnte mit den besten orientalischen Vorbildern dieses Themas durch seine Qualität konkurrieren. Die „Göttin“ faßt mit den ausgebreiteten Armen links in das Laub der Ranke und rechts an den Schweif eines Löwen und bändigt so die wild um sich beißenden Tiere. Sehr locker und sicher sind die einzelnen Bildelemente auf der Schildfläche an- und ineinander gefügt. Eine zu starre Symmetrie wird durch leichte Abweichungen in der Rankenführung auf beiden Schildseiten und durch eine leichte Neigung des Kopfes der Halbfigur vermieden.

Mit der Beschreibung dieser Beobachtungen sind wir bereits bei der künstlerischen Würdigung der Hamerslebener Kapitelle und ihres Schöpfers, des Kapitellmeisters, angelangt. Des Meisters, denn offenbar haben wir es nur mit einem Künstler zu tun, der die Kapitellreliefs entworfen und wohl zum großen Teil auch selbst ausgeführt hat.

Neben der künstlerischen Einheitlichkeit aller Kapitellskulpturen erhärten auch noch bestimmte handschriftliche Eigenheiten, die an den verschiedenen Kapitellen auftreten, unsere Annahme: so wird das Haupthaar der menschlichen Figuren durchweg wellenmäanderförmig stilisiert, die Schwänze der Basilisken und ihre Hälse werden durch eingelegte Diamantbandmuster verziert.

Mit überzeugender Sicherheit gelang es dem Hamerslebener Kapitellmeister, die Figurengruppen harmonisch auf den Schildflächen der Kapitelle unterzubringen. Zumeist wählte er die traditionelle heraldische Anordnung der Bildelemente, doch kommen auch, wo es inhaltlich bedingt ist, asymmetrische Kompositionen vor. Und diese unkonventionellen Schildreliefs sind zugleich die künstlerisch reizvollsten; wahrscheinlich deshalb, weil hier die Phantasie des Steinmetzen nicht durch vorgebildete Formen eingeengt wurde. Die asymmetrischen Gruppen sind in ihrer Bewegungsrichtung, wenn sie sich an der dem Mittelschiff zugekehrten Seite des Kapitells befinden, nach Osten, die an den Seitenflächen des Kapitells nach dem Mittelschiff zu ausgerichtet. Der Reliefgrund der ornamentierten Schilde ist an sichtbaren Stellen aufgerauht, damit sich die figürlichen Darstellungen besser vom Grunde abheben (z. B. N2s - Titelbild).

Unser Hamerslebener Meister sah die Umwelt mit aufnahmebereiten Augen an, und das zeichnet ihn gegenüber den meisten Steinmetzen seiner Zeit aus. Wenn er zwei kämpfende Kentauren bildet (S2n -- Abb. 14), so bewaffnet er sie nicht in üblicher Weise mit Pfeil und Bogen (wie z. B. der Kentaur auf dem Tympanon im Kreuzgang zu Gernrode), sondern stattet sie wie Ritter des 12. Jh. aus: mit kostbarem Gürtel, Lanze und Schild. Die Iris der Augen vertieft er durch Bohrung, was den Gesichtern eine unheimliche Lebendigkeit verleiht.

 

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Das bedrängte Reh am Kapitell S4o (Abb. 22) weiß der Meister durch kleine Kreise auf dem Hals als junges Tier zu charakterisieren.

 

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Rehkitzen haben ja im ersten Lebensjahr am Körper weiße Flecke. Selbst die Fabelwesen sind so organisch lebendig entworfen, daß sie uns möglich erscheinen. Deutlich ist das buschige Nackenfell des Löwen von dem schuppenbedeckten Hals des Greifen unterschieden. Auch die Blattranken sind, obwohl ihnen noch keine Naturformen zugrunde liegen, von vegetabilem Wachstum erfüllt.

Das überraschendste und außergewöhnlichste Kapitellrelief ist jedoch N2s (Titelbild).

 

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Wo sonst noch finden wir in der Romanik - außer bei Paradies-Szenen - einen nackten Menschen abgebildet? Schon die Tatsache selbst, daß hier eine nackte Figur am Kapitell erscheint, ist erstaunlich, die Darstellungsweise jedoch einmalig. Schutzsuchend kauert sich der Mensch in der Ecke des Schildfeldes zusammen und verschränkt die Arme schreckhaft ineinander. Sein Gesicht ist schmerzlich verzogen. Die Körperhaltung der Figur erscheint uns vollkommen organisch, die Proportionen der einzelnen Körperteile zueinander sind richtig.

 

Datierung:

Die stilistische Einordnung der Hamerslebener Kapitellreliefs ist schwierig, da nahverwandte Kapitelle in Niedersachsen und auch im übrigen Deutschland nicht bekannt sind.

Die figürlichen Motive entlehnte der Hamerslebener Meister dem Kreis um Quedlinburg und Königslutter und der oberitalienischen

 

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Baukunst. Einen starken Anteil an der Königslutterer und Quedlinburger Bauornamentik müssen wir italienischen oder zumindest in Italien geschulten Steinmetzen zuschreiben. Daß aber der Hamerslebener Meister ein Deutscher war, hat bis dahin kein Forscher bezweifelt. Dafür spricht nicht nur die Bevorzugung des Würfelkapitells als Kapitellgrundform, sondern auch die geringe plastische Tiefe des Ornamentreliefs. Nun können wir in Deutschland wiederholt beobachten, daß es oft Jahrzehnte dauert, bis importiertes Ornamentformengut selbständig verarbeitet an deutschen Bauten verwendet wird. Die Bauornamentik der Stiftskirche zu Königslutter datiert man in letzter Zeit wieder früh (unmittelbar nach 1135) 12). Von einer Königslutterer Bauschule kann man in Mitteldeutschland aber erst, wie Erwin KLUCKHOHN nachgewiesen hat, nach 1170 sprechen 13). Die sicherste Übersetzung (wenn man so sagen will) in die deutsche Formensprache erfuhr die Königslutterer Ornamentik an den Kapitellen des Adelogschen Umbaues der Hildesheimer Michaelskirche. Hier beträgt der zeitliche Abstand zwischen Vorbild und einheimischer Auswertung bereits vier Jahrzehnte!

Ausgehend von diesen Überlegungen wird es sehr unwahrscheinlich, daß die Hamerslebener Kapitelle, bei denen die fremden Motive bereits sehr sicher verarbeitet sind, unmittelbar im

Anschluß an Königslutter oder die italienischen Vorbilder (von denen wie gesagt nur die figürlichen Motive übernommen wurden) entstanden sind.

Versuchen wir zunächst die Grundform der Kapitelle und das Profil der Kämpfer stilistisch in die mitteldeutsche Entwicklung einzuordnen. 14) Die Kämpferprofile stimmen fast genau mit den Kapitellkämpfern in Paulinzella überein. Da ähnliche Kämpfer im 12. Jh. in Mitteldeutschland auch anderwärts häufig vorkommon, lassen sich daraus noch keine Schlüsse ableiten. Bezeichnend für die Hamerslebener Würfelkapitelle sind die tief herabgezogenen Backen. Die Kapitelle sind darin fortgeschrittener als die Langhauskapitelle in Paulinzella und etwa gleichstufig mit den Langhauskapitellen der Klosterkirche zu Hecklingen (3/4 12. Jh. - Abb. 104a).

 

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Verwandtschaft mit den letzteren zeigt auch die Westseite des Kapitells N3 in Hamersleben (auf der Gesamtaufnahme des Innenraumes zu erkennen), an dem die Schildrahmung und Unterteilung eingetieft sind: ein Motiv, das häufig im letzten Drittel des 12. Jh. vorkommt.

Auch Einzelformen der Schildreliefs lassen sich gut mit den Bauornamenten anderer Bauten in Verbindung bringen. Die modernsten unter ihnen dürften genaueren Aufschluß über die Entstehungszeit des Hamerslebener Langhauses erlauben.

Die Schildfläche des Kapitells N 2 o ist mit einem Diamantbandmuster gefüllt (Abb. 6).

 

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Diamantbänder, die nicht nur als Verbindungsglieder an Palmettenkapitellen Verwendung finden, sondern selbständige Flechtornamente bilden, waren uns in Mitteldeutschland in Drübeck begegnet, und zwar an den Konsolen der Wandvorlagen, die im Langschiff der Kirche eingezogen wurden, um dem einzufügenden Gewölbe als Vorlage zu dienen (Abb. 82a, 83a).

 

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Die Einwölbung der Kirche ist wahrscheinlich zugleich mit der Erbauung der Westtürme vorgenommen worden, die in den Formen vom Braunschweiger Dom abhängig sind. Wir werden also nicht fehl gehen, das Drübecker Diamantband-Ornament um 1190 zu datieren.

Die beiden kleinen oberen Schildfelder auf Kapitell N4w (Abb. 10) weisen (auf dem Kopf stehend) das Motiv auf, das wir als Diamantbogen-Palmette bezeichnet haben (s. Abschnitt Palmettenornament).

 

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Dieses Motiv ist charakteristisch für Bauten des spätesten 12. Jh. und begegnete uns z. B. in der Neuwerkskirche und der Domvorhalle zu Goslar und in Wimmelburg.

Die fächerartigen und an den Ecken des Kapitells muschelartigen Palmetten am Kapitell S1 (Abb. 12)

 

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sind ferner zu vergleichen mit ähnlichen Palmettenbildungen in der Krypta der Prämonstratenser-Klosterkirche zu Jerichow, wo auch im Zusammenhang mit diesen Palmetten große Weintrauben auftreten (Abb. 87a, 88a).

 

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Im weiteren Umkreis von Hamersleben besitzt die Krypta des Brandenburger Domes vergleichbare Kapitelle. Besonders der rechte Schild eines Doppelkapitells (Abb. 27), auf dem ein fischschwänziges Ungetüm in Ritterrüstung, umschrieben von der Kapitellrahmung, dargestellt ist, erscheint Hamersleben verwandt.

 

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Die Ausbildung des Reliefs ist gegenüber Hamersleben fortgeschrittener. Die Domkrypta in Brandenburg ist um oder kurz nach 1200 entstanden.

Doch auch zu außerniedersächsischen Gebieten weist die Hamerslebener Ornamentik Verbindungen auf. An einem Kapitell in der Galerie der Kaiserpfalz zu Gelnhausen ist eine Panthermaske, aus deren Maul Ranken herauswachsen, abgebildet (Abb. 25).

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-24-25-Kaiserpfalz-Gelnhausen-Kapitelle.jpg

 

Diese Kapitelldarstellung ist nahe verwandt mit dem in Hamersleben so häufig auftretenden gleichen Motiv. All den Kapitellen in Gelnhausen kommen auch in Ranken verschlungene Menschenfiguren vor (Abb. 24), die sich gut mit dem „Daniel“-Schildrelief in Hamersleben ver-

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12) SCHMITT, Otto: Zur Datierung des Externsteinreliefs: Beiträge für Georg Swarzenski, Berlin-Chicago 1951, S. 26-38.

13) KLUCKHOHN, Erwin: Die Ornamentik der Stiftskirche zu Königslutter; Marburger Jhb. 11/12, 1938/39.

14) In den folgenden Absätzen wird mehrmals auf meinen Beitrag im Heft 1 der Wiss. Zeitschr. der MartinLuther-Universität Jg. 1953/54 verwiesen.

 

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HEINRICH L. NICKEL: Zur Erbauungszeit des Langhauses der Klosterkirche zu Hamersleben 659

 

gleichen lassen (S4n).

 

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Übrigens sind die Kapitelle der beiden Bauten auch in ihrer Gesamtformung nicht so fremd, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. In Gelnhausen wie in Hamersleben achtete der Steinmetz darauf, daß die begrenzenden Flächen spürbar erhalten blieben. Die Galerie der Kaiserpfalz, der die besprochenen Kapitelle angehören, entstand unter Heinrich IV. nach 1190.

Alle Vergleichsbeispiele, die wir angeführt haben, gehören der spätesten romanischen Ornamentik vor dem Einbruch der gotisch-französischen Formen an. Die Kapitellornament in Hamersleben ist demnach in der 2. Hälfte des 12. Jh., mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch in den letzten beiden Jahrzehnten entstanden.

Jetzt könnte man noch einwenden, daß mit diesem Beweis noch nicht die Entstehungszeit des Langhauses gegeben wäre, da die Kapitelle auch nach dem Versetzen skulptiert worden sein könnten. Diese Möglichkeit ist in Erwägung zu ziehen. Man könnte dafür als Argument anführen, daß die weniger wichtigen, den Seitenschiffen zugekehrten Seiten der Kapitelle glatt belassen wurden. Ja es wäre denkbar, daß die Kapitelle ursprünglich nur durch einfache Schildaufteilungen verziert waren (nach hirsauer Gewohnheit), da das Rahmenwerk der Schilde im reichen Schmuck mehrfach noch zu erkennen ist. Es befindet sich auch an einem Kapitell ein Schildrelief, das nicht fertig ausgeführt worden ist (S3w - Abb. 20).

 

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Wahrscheinlich unterzog man die Kapitelle erst an Ort und Stelle einer letzten Uberarbeitung, um dadurch das Risiko der Beschädigung der geglätteten Oberfläche beim Versetzen der riesigen Kapitellwürfel zu vermeiden. Für unsere Annahme, daß die Grundformen der Ornamente bereits vor der Einfügung im Bauwerk den Kapitellblöcken eingemeißelt wurden, spricht, daß die Pantherköpfe an den unteren Ecken des Kapitells S4 (Abb. 21) leicht über die Bossenform des Kapitellwürfels hinausstehen.

 

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Das Langhaus ist nach dem ursprünglichen Plan ein halbes Jahrhundert später entstanden als die Ostteile. Mit diesem Gedanken muß man sich befreunden. Es kam im Mittelalter jedoch nicht selten vor, daß die verschiedenen Teile einer Kirche nicht in der gleichen Bauzeit errichtet wurden. In der Zwischenzeit hat man sich in Hamersleben sicherlich mit einem vorläufigen hölzernen Kirchenschiff beholfen.

Nun bleibt uns noch zu einem schwierigen Problem Stellung zu nehmen. Wo liegen die künstlerischen Quellen des Hamerlebener Kapitellmeisters?

Die von ihm verwendeten Grundformen hat der Meister zweifelsohne aus der älteren mitteldeutschen Bauornamentik entlehnt, aus dem Formenkreis um Quedlinburg, Riechenburg und Königslutter. Ein sichtbarer Hinweis darauf, daß der Meister Quedlinburg oder das benachbarte Kloster-Gröningen kannte, ist die Verwendung des Sternblattmotivs am Kapitell S1n (Abb. 12).

 

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Auch die häufig wiederkehrenden Diamantbänder in Verbindung mit Palmetten sind in Mitteldeutschland heimisch.

Anklänge an die Ornamentmotive zahlreicher italienischer Bauten machen es wahrscheinlich, daß der Hamerslebener Kapitellmeister Oberitalien gekannt hat, wie Erwin KLUCKHOHN in seiner Arbeit über die Bedeutung Italiens für die romanische Baukunst und Bauornamentik in Deutschland festgestellt hat. Die Beziehungen zu Italien sind aber längst nicht so eng wie z. B. bei Quedlinburg und Königslutter.

Der formale Aufbau der meisten Schildreliefs weist Beziehungen zu gleichzeitigen rankenornamentierten Tympana auf. (Die Form eines Kapitellschildes entspricht ja umgekehrt einem Tympanonfeld.) In den letzten Jahrzehnten des 12. Jh. und besonders häufig um 1200 werden Tympana in Mitteldeutschland mit einem Rankenmotiv geschmückt, das sich astartig aus einem Mittelstamm entwickelt. Zuweilen sind zu beiden Seiten des Stammes gegenständige Tiere zwischen den Ranken dargestellt, wie z. B. am Südportal von St. Godehard in Hildesheim. Ein ähnliches Tympanon hat das Westportal der Martinikirche zu Braunschweig, nur ist hier vor den Stamm ein Kreuz gesetzt. Zu Seiten des Kreuzes befinden sich ein Panther und ein Basilisk.

Der Hamerslebener Kapitellmeister ist zweifelsohne der bedeutendste Steinmetz seiner Zeit in Mitteldeutschland. Trotzdem ist seine Tätigkeit an anderen Bauwerken nicht festzustellen. Nach Fertigstellung der Hamerslebener Arbeiten hatte er auch kaum noch die Möglichkeit, Langhauskapitelle zu skulptieren, da die spätesten romanischen Kirchen in Mitteldeutschland als Pfeilerbasiliken errichtet wurden. Nur an zwei Orten glaubt man die Nachwirkungen seiner Kunst zu erkennen: in Brandenburg, wo die Kapitelle der Domkrypta eine ähnlich gezügelte Lebendigkeit aufweisen und in Hecklingen, an einem Tierkapitell in der Nordostecke des Nonnenemporen-Unterbaues der Kirche (Abb. 154a).

 

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Die vier Tiere, die die Seiten des Kapitells schmücken, weisen die gleiche organische Bewegtheit auf, wie wir sie von den Tieren in Hamersleben gewöhnt sind. Der Kopf des Vogelmischwesens an der Ostseite des Kapitells gleicht fast übereinstimmend dem Kopf des Rehs an einem Kapitell in Hamersleben (S4o).

 

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660 Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-VVittenberg, 3. Jahrgang

 

REGISTER

zu den „Untersuchungen zur spätromanischen Bauornamentik Mitteldeutschlands“ (Heft 1, S. 25) und „Erbauungszeit des Langhauses der Klosterkirche zu Hamersleben“.

 

Aachen, S. 30

Ballenstedt, S. 43, 50; Abb. 76, 112, 156

Bedeutung der Figurenornamentik, S. 60

Brandenburg, S. 658; Abb. 26, 27

Bursfelde, S. 40, 50; Abb. 53, 114

Diamantband, S. 43

Drübeck, S. 40, 44, 59; Abb. 54, 82-84, 158

Figürliche Ornamentik, S. 53

Freyburg/U., S. 45; Abb. 91

Frose, S. 37, 53; Abb. 40, 125, 126

Gandersheim, S. 43, 47, 51; Abb. 79, 95-97, 116, 118

Gelnhausen, S. 658; Abb. 24, 25

Geometrisches Muster, S. 47

Gernrode, S. 28, 42, 51, 54, 63; Abb. 7, 71, 115, 132

Goslar Domvorhalle. S. 43, 52, 58; Abb. 52, 81, 122, 141, 155

Goslar Neuwerkskirche, S. 27, 43, 50; Abb. 4, 5, 80, 81,111

Hadmersleben, S. 48; Abb. 99

Halberstadt, S. 42, 52; Abb. 70, 123

Hamersleben, S. 26, 39, 44, 653-665; Abb. 50, 1--23

Hecklingen, S. 42, 58, 60, 65; Abb.104, 154, 166-170

Helmstedt, S. 43; Abb. 73

Hildesheim Dom, S. 43; Abb. 78

Hildesheim St. Godehard, S. 40, 55; Abb. 48, 49, 139

Hildesheim St. Michael, S. 30, 36, 43, 47; Abb. 8, 37,38

Hirsauer Bauschule, S. 37

Huysburg, S. 49, 51, 52; Abb. 105, 117, 173, 174

Ilsenburg, S. 40, 42, 49, 51; Abb. 55-58, 67--69, 107, 120

Jerichow, S. 44 ; Abb. 86-88

Kloster-Gröningen, S. 28, 34ff.; Abb. 23--29

Klostermansfeld, S. 26, 60; Abb. 159

Clus, S. 51; Abb. 119

Königslutter, S. 35ff., 43, 57; Abb.32--35, 74, 121, 148--152

Konradsburg, S. 44; Abb. 89

Korinthisierendes Kapitell, S. 51

Corvey, S. 30

Landsberg b. Halle, S. 37, 41, 45, 60, 64; Abb. 41, 42. 63--66, 94, 160--165

Leitzkau, S. 27; Abb. 1--3

Lippoldsberg, S. 48; Abb. 101--103

Magdeburg Dom, S. 42, 45, 60; Abb. 72, 90

Magdeburg Liebfrauenkirche, S. 50, 53, 59; Abb. 113, 124, 157

Michaelstein, S. 36, 43, 49; Abb. 36, 75, 106, 108--110

Naumburg, S. 41; Abb. 61, 62

Palmettenkapitell, S. 38ff.

Paulinzella, S. 47, 48; Abb. 98

Petersberg bei Halle, S. 44, 57; Abb. 43, 85, 153

Quedlinburg, S. 31ff., 38, 52, 54, 63; Abb. 9--22, 45, 133, 134, 171, 172

Riechenberg, S. 28, 40, 56; Abb. 59, 60, 142--147

Sangerhausen, S. 53; Abb. 128--131

Sittichenbach, S. 37; Abb. 44

Süpplingenburg, S. 27; Abb. 6

Vorromanische Bauornamentik, S. 29

Wechselburg, S. 45, 53; Abb. 92, 93, 127

Wimmelburg, S. 43; Abb. 77

Wunstorf, S. 37, 40; Abb. 38, 51

Würfelkapitell, S, 46

 

Abbildungen S. 661 bis S 665:

 

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Abb. 1 – Ostansicht der Hamerslebener Stiftskirche

 

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Abb. 2 – Mittelschiff von Westen aus gesehen

 

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Abb. 3 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 1. Säule Südseite

 

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Abb. 4 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 1. Säule Ostseite

 

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Abb. 5 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 1. Säule Westseite

 

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Abb. 6 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 2. Säule Ostseite

 

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Abb. 7 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 2. Säule Westseite

 

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Abb. 8 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 4. Säule Südseite

 

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Abb. 9 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 4. Säule Ostseite

 

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Abb. 10 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 4. Säule Westseite

 

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Abb. 11 – Hamersleben Langhaus Kapitell Nordarkade 5. und 6. Säule

 

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Abb. 12 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 1. Säule Nordseite

 

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Abb. 13 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 1. Säule Westseite

 

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Abb. 14 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 2. Säule Nordseite

 

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Abb. 15 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 2. Säule Ostseite

 

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Abb. 16 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 2. Säule Westseite

 

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Abb. 17 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 2. Säule Südwestseite

 

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Abb. 18 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 3. Säule Nordseite

 

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Abb. 19 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 3. Säule Ostseite

 

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Abb. 20 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 3. Säule Westseite

 

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Abb. 21 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 4. Säule Nordseite

 

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Abb. 22 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 4. Säule Ostseite

 

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Abb. 23 – Hamersleben Langhaus Kapitell Südarkade 4. Säule Westseite

 

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Abb. 24 – Kaiserpfalz Gelnhausen Kapitell    Abb. 25 – Kaiserpfalz Gelnhausen Kapitell

 

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Abb. 26 – Brandenburg Domkrypta Kapitell

 

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Abb. 27 – Brandenburg Domkrypta Kapitell

 

 

 

Veröffentlicht in:

Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin -Luther-Universität Halle-Wittenberg, gesellschafts-und sprachwissenschaftliche Reihe, Jahrg. III, 1953/54 Heft 3, S. 653-666

Halle (Saale), 30. April 1954

 

 

 

Albert Guth - Die Stiftskirche zu Hamersleben

ALBERT GUTH

Die STIFTSKIRCHE zu HAMERSLEBEN

MIT 28 ABBILDUNGEN

 

OSCHERSLEBEN <BODE> 1932

VERLAG DES KREIS-HEIMATMUSEUMS

 

 

Genehmigt durch die Philosophische Fakultät, I. Abt. am 22. VII. 1930

 

Berichterstatter: Prof. Dr. Christian Rauch

Prof. Dr. Theodor Mayer

 

Die Arbeit erscheint gleichzeitig als Bd. I der Schriften des Kreis-Heimatmuseums Oschersleben (Bode).

 

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Einleitung.

Nördlich der Bahnlinie Oschersleben - Braunschweig, 3 km von der Station Neuwegersleben entfernt, liegt das Kirchdorf Hamersleben. Nach seiner erhöhten Lage am Rande eines ausgedehnten Bruchgebietes und einer Anzahl alter Flurnamen zu urteilen, bestanden hier bereits lange vor der Christianisierung menschliche Siedlungen.

Mit dem Dorfe ist ein Klostergut verbunden, das bis zu seiner Aufhebung - infolge des Lüneviller Friedens - am 19. September 1804 dem Orden regulierter Augustiner-Chorherren gehörte und dem Bischof von Halberstadt unterstand. Während bei der Säkularisation der östliche Teil (am Kreuzgang) und die Klosterkirche der katholischen Gemeinde belassen wurden, nahm der preußische Staat die weitläufigen Wirtschaftsgebäude und großen Ländereien an sich und ließ sie als Königliche Domäne bewirtschaften. Vor wenigen Jahren gingen sie in den Besitz einer Saatgutzüchterei über.

Fast alle Wirtschafts- und Wohngebäude erfuhren im Laufe der Jahrhunderte starke Veränderungen, soweit sie nicht durch die Brände in den Jahren 1502 und 1533 überhaupt vernichtet wurden und hiernach völlig neu erstanden. Die Kirche selbst blieb im wesentlichen in der ursprünglichen Gestalt erhalten. Sie fällt durch feine schlanke Proportionen auf und darf als eines der edelsten Bauwerke der Hirsauer Bauschule angesprochen werden, obwohl Kloster Hamersleben nicht unmittelbar zur Hirsauer Congregation gehörte. Als baukünstlerische Leistung wird sie weder von den Thüringer Bauten Paulinzella und Thalbürgel, noch von einem anderen Bauwerk der Hirsauer übertroffen.

Baugeschichtliche Nachrichten aus den ersten Jahrzehnten nach der Gründung besitzen wir nicht, und die gelegentlichen Bemerkungen über die Kirche, die uns in Urkunden und Aufzeichnungen

 

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begegnen, können wegen ihrer Dürftigkeit nur mit größter Vorsicht den Untersuchungen nutzbar gemacht werden.

Eine Chronik, die wohl das Dunkel, das gerade über den wichtigsten Jahren des Kirchenbaues liegt, beseitigen könnte, ging leider verloren. Dieses „Chronicon Hamerslebense" war von einem Mönch der ersten Hamerslebener Generation geschrieben worden und noch vorhanden, als Mader an seinem Manuskript zum „Chronicon monasterii St. Laurentii” arbeitete, das dann später von dem Professor der Helmstedter Universität, Heinrich Meibom, herausgegeben wurde. Es hat sich trotz eifrigster Bemühungen weder in Maders Nachlaß, noch sonstwo finden lassen. Wir sind deshalb auf die spärlichen Daten angewiesen, die uns aus sonstigen Abhandlungen über Hamersleben mitgeteilt werden. Hier sind in erster Linie zu nennen:

1. Eine Zusammenstellung der Hamerslebener Pröpste, die der Prior Thomas Hartmann um 1540 machte, von Johann Evers (1740-1743) und dann von unbekannter Hand bis 1804 fortgeführt. Sie enthält einige Aufzeichnungen zur Geschichte des Klosters und befindet sich im Staatsarchiv in Magdeburg.

2. „Geschichte des Klosters Hamersleben“ St. Kunze, 1835 Quedlinburg.

3. Eine handgeschriebene Chronik aus dem 18. Jahrhundert in der Bibliothek des katholischen Pfarramtes Hamersleben, die Kunze z. T. wörtlich abgeschrieben hat.

4. das „Urkundenbuch des Hochstiftes Halberstadt und seiner Bischöfe", herausgegeben von Dr. G. Schmidt, Leipzig 1883.

5. J. J. Leuckfeld: „Antiquitates Halberstadtenses”, Wolfenbüttel 1714.

6. Hauck: „Kirchengeschichte Deutschlands" Band III und IV, Leipzig 1887-1903.

Alle übrigen Quellen, die gelegentlich heranzuziehen waren, sind aus den Anmerkungen zu ersehen.

Von kunsthistorischen Abhandlungen über die Klosterkirche sind zu erwähnen:

1. v. Quast: „Zeitschrift für christliche Archäologie und Kunst” Band 1 und 2, Leipzig 1856/58.

2. H. Otte: „Geschichte der romanischen Baukunst in Deutschland" Leipzig 1874.

 

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3. Hase in: „Die mittelalterlichen Baudenkmäler Niedersachsens“, herausgegeben vom Architekten- und Ingenieurverein Hannover, Band 1, Hannover, 1861.

4. Schmidt: „Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Oschersleben”, herausgegeben von der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen, Halle 1891.

5. Zeller: „Frühromanische Kirchenbauten und Klosteranlagen der Benediktiner und der Augustiner Chorherren nördlich des Harzes”, Berlin und Leipzig 1928.

6. Hans Kunze: „Die kirchliche Reformbewegung des 12. Jahrhunderts im Gebiet der mittleren Elbe“, im Jahrbuch Sachsen und Anhalt der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen, Magdeburg 1925.

Alle diese Arbeiten konnten die allerdings äußerst schwierigen Fragen nach dem ersten Plan und der ursprünglichen Gestalt nicht beantworten. Sie kommen nur zu Hypothesen, ohne stichhaltige Beweise erbringen zu können. Besonders das Vorkirchenproblem war seit Jahrzehnten umstritten, und da bei wiederholt vorgenommenen Ausgrabungen niemals Fundamente angeschnitten wurden, kam es zu einander widersprechenden Rekonstruktionen.

Die ohne zuverlässige Anhaltspunkte erzwungenen Versuche sind nur aus der Tatsache zu erklären, daß neben dem Chorherrenkonvent ein kleiner Nonnenkonvent bestand, an seiner Spitze die Stifterin des Klosters. Die Urkunden bestätigen das zweifelsfrei. Nach den strengen Vorschriften mußten die Nonnen ihren Platz auf einer Empore am Westende des Mittelschilfes erhalten. Platz und Form der Empore sind aber bisher in Hamersleben vergebens gesucht worden.

Im Jahre 1927 wurde die Kirche von Zeller vermessen und aufgenommen. Auch bei dieser Gelegenheit fanden Grabungen statt, die zu negativem Ergebnis führten. Infolgedessen standen mir aus allen bisherigen Arbeiten keinerlei Anhaltspunkte zur Verfügung, sodaß ich mich genötigt sah, selbst Grabungen vorzunehmen, um mich wenigstens davon zu überzeugen, daß die Frage nach der ursprünglichen Westseite wirklich nicht mehr zu beantworten ist. Meine mühsamen, umfangreichen Grabungen, die ich ohne jede Hilfskraft

 

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vornahm, um nicht eventuelle wichtige Spuren verwischt zu bekommen, brachten einen positiven Erfolg. Für die Erlaubnis zur Grabung danke ich an dieser Stelle Herrn Regierungsbaumeister Kniese vom Hochbauamt II in Halberstadt, Herrn Pfarrer Thon und der Gutsverwaltung der Firma Knoche & Wallwitz in Hamersleben.

Ich stieß vor der Westwand auf die Fundamente der geplanten und bereits zum Bau vorbereiteten Vorkirche, die dann allerdings, wie wir sehen werden, niemals ausgeführt wurde. Ferner legte ich vor dem südlichen Teile der Westwand eine Mauer frei, die für die Regelung des Zuganges der Nonnen nach Aufgabe des Vorkirchenplanes die notwendigen Aufschlüsse erbringt. Als Ergänzung hierzu fand ich an der Westwand des südlichen Seitenschiffes eine Tür, die als Eingang der Nonnen anzusprechen ist.

Die vorliegende Arbeit, als Gießener Dissertation entstanden, will seitherige Unklarheiten über die Hamerslebener Stiftskirche beseitigen und bestehende Irrtümer berichtigen. Die Baugeschichte soll nach Möglichkeit geklärt, und das interessante Bauwerk in den Entwickelungszug der kirchlichen Baukunst des 12. Jahrhunderts richtig eingegliedert werden, sein Zusammenhang mit früheren Bauten und sein Einfluß auf spätere ist aufzuzeigen. Zu diesem Zweck waren die Untersuchungen auf weitere niedersächsische Kirchenbauten auszudehnen. Die wichtigsten – Riechenberg, Königslutter – sind der Arbeit als Exkurse angehängt.

Die Mehrzahl der Abbildungen sind Aufnahmen der Staatl. Bildstelle Berlin, die restlichen Bilder und sämtliche Zeichnungen habe ich selbst angefertigt.

Für die freundliche Überlassung der Druckstöcke zu drei Abbildungen danke ich Herrn Direktor Dr. Möllenberg vom Staatsarchiv in Magdebung.

Zu besonderem Dank verpflichten mich die tatkräftigen Unterstützungen seitens der Philosophischen Fakultät der Universität Gießen und des Herrn Konservators für die Denkmale der Provinz Sachsen, Dr. Giesau in Halle, die es ermöglichten, der Abhandlung die erforderlichen Illustrationen beizugeben.

 

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Die Gründung.

Wir besitzen glücklicherweise die Stiftungsurkunde, die uns bei dem Mangel an zuverlässigen Nachrichten aus der Gründungszeit wenigstens über den Vorgang der Stiftung selbst, über die Beweggründe dazu und über den Umfang der Schenkungen genau unterrichtet. Die Urkunde ist ausgestellt von Bischof Reinhard von Halberstadt am 9. August 1112. Sie befand sich nach Schmidt's Angaben 1) im Jahre 1883 im Besitze des Herrn Dr. Kratz in Hildesheim. Mit Spuren eines Siegels ist sie einem Copialbuch des Klosters Hamersleben vorgeheftet. Bei Schmidt ist sie abgedruckt. Ich bringe sie wegen ihrer Wichtigkeit hier im Auszug 2).

Ueber die Person der Stifterin, ihre Tochter und deren Sohn wissen wir nichts Näheres, weder über ihre Abstammung, noch über ihren vorherigen Wohnsitz. Zum ersten Male machte Meibom

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1) Schmidt: Urk. Buch des Hochstiftes Halberstadt Bd. 1 Leipzig 1883, Seite 100-102.

2) Wortlaut der Stiftungsurkunde (Auszug): In nomine sancte et individue Trinitatis. ego Reinhardus Halberstadensis Dei gratia episcopus. Notum sit omnibus Christifidelibus presentibus et futuris, quod ego Reinhardus Halberstadensis ecclesie Dei gratia episcopus, divina suadente gratia, pro remedio anime mee in villa, que dicitur Osterwic, regularem clericorum vitam, que b. Augustini inscribitur, instituerim et canonicis ipidem Deo famulantibus in sustentationem predia donaverim sita in comitatu Friderici comitis in villa, que dicitur Ottenleve, (folgt Aufzählung). postea quedam matrona nomine Dietburc, religionis habitum professa, pro salute anime sue et parentum suorum, Macthilda filia sua et ceteris heredibus suis presentibus et consentientibus, predia sua b. Stephano in Halberstat sub hac condicione se tradituram promisit, si predictam vitam b. Augustini, quam in Osterwic inchoaveramus, in villam que dicitur Hameresleve, transferremus. cuius salubre votum, ut oportuit, intendentes nec minus incommoditates forensium causarum, que in Osterwic prefatam vitam plurimum inquietare poterant, declinare cupientis, accepto fidelium ecclesie nostre consilio cum prememorata matrona, datis iam suis ut promiserat, prediis, pacti prefiniti sententiam confirmavimus et fratres, quos in Osterwic Deo servire disposueramus non mutata vivendi regula, in Hameresleve transtulimus. (Es folgt Aufzählung der Güter). dehinc Macthilda, eiusdem religiose Dietburge filia, cum consensu et favor: filii sui Widichini predia, que mater sua b. Stephano donaverat in prescripte vite supplementum in Hameresleve, suorum prediorum traditione ampliavit. (Es folgt Aufzählung der Güter). ut ergo pacti nostri cum premissa matrona habiti firma staret deffinitio, predia, que fratribus primum in Osterwic constitutis deputaveramus, et predia, que predicta Dietburc s. Steph. in Halb. donaverat, cum prediis a Macthilda filia eiusdem Dietburge in canonice vite usum deputatis, b. Pancratio in Hameresleve perpetua stabilitate tradidimus.

in huius rei testimonium interfuerunt: Conradus camerarius, Thietmarus prepositus, Gerhardus prepositus, Fridericus laicus et fratres eius, Walo et Adelbertus comes, quibus ita gestis, prefatus Widechinus, deposito secularis militie cingulo, ad prefatum monasterium in Hameresleve, regularis vite facta professione, se ipsum s. Pancratio obtulit et sanctitatis vestem suscepit. et quoniam suscepti ministerii cura provocamur ecclesiasticarum rerum providere cautelam, hoc quoque statuimus, ut obeunte patre eiusdem ecclesie, fratres ibidem constituti alium patrem, vel in eodem claustro vel in eodem proposito militantem, sibi eligendi liberam habeant potestatem, at mutandum vero prescripte vite regulam nullus presumat inferre violentiam.

. . . data V. Idus Augusti, anno domonice incarnationis MCXII, indictione V.

 

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den Versuch, die Stifterinnen in die Familie der Pfalzgrafen von Sommerschenburg einzugliedern 1).

In dem Stammbaum der Familie der Pfalzgrafen gibt er Friedrich I. von Sachsen die in der Stiftungsurkunde von Hamersleben erwähnte Mechtildis zur Gattin. Meibom schreibt wörtlich: „Seine Gattin ist Mechtildis aus der Familie Theberg und Gründerin des Klosters Hamersleben. Gestorben 1115.” Wie er auf die Familie Theberg kam, sagt er nicht. Caspar Abel 2) erklärt den Irrtum Meiboms so, daß er aus dem Vornamen Thietburg einen Familiennamen Theberg machte. Abel führt weiter den Nachweis, daß die Gattin Friedrichs I. von Sommerschenburg Adelheid hieß und eine Tochter des Grafen Heinrich von Loufe war.

Gegen Meiboms Annahme spricht seine eigene Angabe, die Stifterin Mechtildis habe mit Friedrich I. vier Kinder gehabt: Friedrich Il. von Sommerschenburg, Adelheid, Juditha und Agnes, abgesehen davon, daß Abel 1) diese Angaben begründet widerlegen kann, muß auffallen, daß Widekind, der in der Stiftungsurkunde ausdrücklich als Sohn der Mechthilde genannt wird -- er legt sein Ritterkleid

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1) Heinrich Meibom: „rerum Germanicarum Tom. III. Chronicon Marienthalense". Helmstedt 1688. p 254.

2) Caspar Abel: „H. Meiboms d. Aelt. Walbeckische Chronike”, herausgegeben in Helmstedt 1749. Seite 60.

 

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ab, um als Bruder in das gestiftete Kloster einzutreten – nicht mit genannt ist.

Da Mechtildis auch die Gemahlin Friedrichs II. von Sommerschenburg nicht gewesen sein kann - er hatte die Tochter des Markgrafen Rudolf I. von Brandenburg, Lucardis, zur Frau – so hat demnach unsere Stifterin und deren Mutter mit der Familie der Pfalzgrafen von Sommerschenburg nichts zu tun, es könnte sich nur um entferntere Verwandtschaftsbeziehungen handeln.

Daß Meibom die Stifterin irrtümlich zum Hause Sommerschenburg rechnet, geht offenbar auf die Inschrift am Grabmal der Thietburg und Mechtildis zurück, die er gekannt haben muß, da er das Grabmal erwähnt. Die Inschrift lautet 2):

Occulit haec fossa Mechtildis nobilis ossa.

Obtulit haec Christo, quod mundo sprevit in isto

O bona matrona digna redimita corona,

O gaudens vivis nova iussis reddita civis.

und dabei:

Anno MCXV obiit nobilis Mechtildis comitissa

palatina annorum LX. et sepulta cum matte sua

Thietburga, cuius anima requiescat in pace +.

Hier ist zwar ausdrücklich von der Pfalzgräfin – comitissa palatina - Mechtildis die Rede, doch stammt das Grab nach Schmidt's Angaben aus dem Ende des 15. Iahrhunderts, eine „imago aequalis terrae de calce et supra illam allia imago (lignea) in lecto ligneo". Es liegt also die Vermutung nahe, daß man sich zur Zeit der Herstellung der Grabplatte nur noch des Namens der Stifterinnen erinnerte und sich die auf einem früheren Irrtum beruhende Ueberlieferung zu eigen machte. Sicher erscheint jedenfalls, daß alle späteren Angaben, die sich mit den Stifterinnen als Angehörigen der Pfalzgrafen von Sommerschenburg befassen, auf die Grabinschrift zurückzuführen sind. Oder sollte man etwa aus der Tatsache, daß in der Stiftungsurkunde die Besitzungen der beiden Frauen als in der Pfalzgrafenschaft Sommerschenburg gelegen bezeichnet werden, herausgelesen haben, daß auch sie selbst zur Pfalzgrafenfamilie gehörten? Das wäre natürlich nicht angängig, denn in der Urkunde ist mit keinem Wort davon die Rede.

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1) Abel: a. a. O. S. 60.

2) G. Schmidt: „Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler im Kreise Oschersleben". Halle 1891, Seite 107.

 

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Nach Schmidt stand das Grab der beiden Frauen ursprünglich im Chor der Kirche, „es wurde dann an den im Seitenschiff (soll wohl Querhaus heißen) gelegenen Altar S. Michaelis -- später der 5 Wunden -- verlegt, wo es noch 1670 stand. 1679 wurde es bei einer Erhöhung des Fußbodens zugedeckt und ist nicht mehr sichtbar". Nach dieser Angabe müßte also das Grab noch im Querhause liegen. Bauinspektor Pelizaeus 1) entdeckte jedoch, als er im Jahre 1838 eine Reparatur an dem im 17. Jahrhundert um 2 Fuß erhöhten Boden der Vierung ausführen ließ, das Grab in der Mitte der Vierung. Mit der erwähnten Erhöhung des Fußbodens ist demnach die der Vierung vom Turmpfeiler ab gemeint. Er schreibt: „Der Fußboden des Chores ist im 17. Jahrhundert um 2 Fuß höher gelegt und scheint der alte Boden noch zu liegen. Ich habe 1838 bei Reparaturen einen Teil des Bodens mit dem Grabmal der Gräfin Mathilde gefunden. Der Sarkophag ist krippenartig von Sandstein gearbeitet mit einem Deckel, auf welchem die Gräfin im Stile des 16. Jahrhunderts abgebildet ist“. Zeller fand 1911 in der Vierung unter größeren Steinplatten die Grabplatte ebenfalls, und zwar auch in der Höhe des Langhaus-Fußbodens 2). Es ist somit anzunehmen, daß das Grab niemals im südlichen Querhaus lag. Daß die Stifterin aber bereits unmittelbar nach 1115 in der Vierung beigesetzt wurde, halte ich für ausgeschlossen, denn drei Jahre nach der Stiftung des Klosters konnte der Bau nicht soweit vorgeschritten sein, sie hätte sonst inmitten der Baugerüste und des Bauschuttes bestattet werden müssen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß das Grab ursprünglich in der nördlichen Seitenkapelle lag. Das Chorhaus war, wie wir später sehen werden, zuerst hochgeführt. Damit man auch während der Bauzeit Gelegenheit zum Gottesdienst hatte und doch gegen die Unruhe der Bauarbeiten abgeschlossen war, setzte man zwischen die Pfeiler der nördlichen Seitenkapelle, die bereits mit Tonnengewölbe gedeckt war, nachträglich eine Wand, um so einen in sich abgeschlossenen Raum zu erhalten. Es bestand aber wohl die Absicht, diesen auch für spätere Zeiten zu erhalten, denn man gliederte die Wand auf der Querhausseite mit Arkadenstellungen, Nischen und vorgesetzten Säulchen. Durchaus im Bereich der Möglichkeit liegt auch, daß man den Frauen diese Kapelle schon während

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1) Pelizaeus in einem Bericht über den Baubefund der Kirche vom 4. August 1857 beim Hochbauamt II Halberstadt.

2) Zeller: a. a. O. Seite 66.

 

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des Bauens für gottesdienstliche Zwecke reservierte. Die nördliche Seitenkapelle war der einzige gegebene Platz zur vorläufigen Beisetzung der beiden Frauen, wenn man ihnen die Ehre, die ihnen als Stifterinnen des Klosters zukam, erweisen wollte. Wann Thietburga gestorben ist, kann nicht mehr festgestellt werden, nach der Ueberlieferung starb sie vor Mechtildis, und das wird den Tatsachen wohl nahe kommen, denn ihre Tochter war 1115 bereits 60 Jahre alt.

Von Widekind, dem Sohne der Mechtildis, hören wir nach seinem Eintritt in das Kloster nichts mehr. Propst ist er nicht geworden.

Dem Bischof Reinhard von Halberstadt (1107-1123) schwebte wohl als Ideal vor, in seinem Bistum eine Stätte zu schaffen, die für den Norden ein ebensolches Vorbild sittenreiner, strenger Klosterzucht und wissenschaftlicher Arbeit werden sollte, wie es im Süden Hirsau war. Durch den Einfluß eines solchen Musterklosters hoffte er dann seine Diözese zu einem Musterbistum ausgestalten zu können. Wie konsequent er dabei vorging, zeigt unsere Stiftungsurkunde. Gleich nach der Uebernahme des Bistums, die im Jahre 1107 erfolgte 1), hatte er in Osterwieck, am Nordrande des Harzes, den Augustiner-Chorherren-Orden eingerichtet und ihn mit Schenkungen versehen [bestätigt mit Urkunde vom 7. August 1108 2)]. Schon nach vier Jahren kam Reinhard zu der Ueberzeugung, daß die Wahl des Ortes nicht glücklich war. Das Kloster lag scheinbar nicht genügend von der Außenwelt abgeschieden, um sich ungestört von Vorgängen außerhalb der Klostermauern zu dem Vorbild entwickeln zu können, das Reinhard brauchte, um damit auf die übrigen Klöster seines Bistums einzuwirken. Er sagt selbst in der oben abgedruckten Urkunde, daß es die Unruhe des Marktverkehrs gewesen sei, die ihn veranlaßt habe, das Kloster von Osterwieck nach Hamersleben zu verlegen. Hamersleben lag ziemlich isoliert und besonders nach Süden durch das Bruchgebiet vom Verkehr abgeschnitten, entsprach also den Absichten Reinhards besser. Man möchte deshalb annehmen, daß die Initiative zur Wahl Hamerslebens von Reinhard ausging, obwohl die Urkunde sagt, die Stifterin habe bei dem Schenkungsakt die Bedingung gestellt, daß das Kloster dorthin käme. Nur eine Persönlichkeit von der Tatkraft Reinhards konnte den Wirren und Kämpfen, die das voraufgegangene Halberstädter

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1) Joh. Fritsch: „Die Besetzung des Halberstädter Bistums in den 4 ersten Jahrhunderten seines Bestehens". Dissertation 1913 Halle. S. 49.

2) Schmidt: Urk.-Buch Halberstadt S. 90.

 

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Schisma verursacht hatte, ein Ende bereiten. Fritsch 1) schreibt: „Von den Parteiungen, die das letzte Schisma verursacht und so lange hingezogen hatte, hören wir nichts mehr". Reinhard war zuvor Kanoniker in Mainz und wurde, wie Fritsch meint 2), Angehörigen der Halberstädter Kirche auf der Kirchenversammlung von Guastalla bekannt, wo sie Anklagen gegen ihren Bischof Friedrich erhoben. Reinhard war auf ebendieser Versammlung als Begleiter des Erzbischofs Bruno von Trier. Dem König Heinrich V. war er wohl bereits bekannt oder als geeignete Persönlichkeit empfohlen, denn dessen Wille gab bei der Wahl den Ausschlag. Reinhard war ehemals Schüler des Augustiner-Chorherrenstiftes von St Viktor in Paris, wie Schmidt 3) angibt, ohne allerdings seine Quelle zu nennen. Daraus würde sich die Vorliebe Reinhards für den Orden der Augustiner Chorherren erklären. Ein Schüler der ersten Zeit des aufblühenden Klosters Hamersleben, Hugo, aus dem Regenstein-Blankenburger Grafenhaus, ging ebenfalls nach St. Victor, dessen Abt er schließlich wurde. Es ist der berühmte Reformator Hugo von St. Victor 4). Außer Hamersleben gehen noch einige Klostergründungen bezw. Umwandlungen in Augustinerklöster auf Reinhard zurück, so Schöningen 5), Stötterlingenburg und Kaltenborn 6). Wegen seiner großen Verdienste um die hergestellte Klosterzucht im Bistum Halberstadt erhält er von Papst Paschalis Il. eine Belobigung 7). Reinhard stirbt am 2. März 1123 8).

Der erste Propst des Klosters Hamersleben war Thietmar. Sein Name wird zum ersten Male in der Schenkungs- und Bestätigungsurkunde Bischof Reinhards für das Augustiner-Mönchskloster Osterwieck am 7. August 1108 9) erwähnt. Bei Ausstellung der Urkunde war er als Zeuge zugegen, damals noch als Presbyter. Vorher wird er nirgends in Urkunden der Diözese Halberstadt erwähnt. Thietmar war der Liebling und die rechte Hand Bischof

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1) Fritsch: a. a. O. S. 54.

2) Fritsch: a a. O. S. 50.

3) Schmidt: Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Oscherslebcn S. 106

4) Schmidt: a. a. O. S. 108. Ausführlicher berichtet Meibom in „rerum Germanicarum Tom III".

5) Meibom: Chronikon St. Laurentii.

6) Schmidt: Urk. Buch Halberstadt. Seite 116 u. f.

7) Schmidt: Urk. Buch Halberstadt S. 107.

8) Fritsch: a. a. O. S. 55.

9) Schmidt: Urk. Buch Halberstadt. S. 91.

 

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Reinhards 1), wie ihn Schmidt nennt, ein Mann, wie ihn Reinhard zur Verwirklichung seiner Ideen brauchte. Wo eine wichtige Klostergründung oder Umwandlung in ein Augustinerkloster erfolgen sollte, wurde er zugezogen. Am 18. Oktober 1120 2) erhielt er den Auftrag, das Benediktiner-Nonnenkloster in Schöningen in ein Augustiner-Mannskloster umzuwandeln. Im gleichen Jahre, am 16. April 1120, war er bereits Propst des neugegründeten Klosters Kaltenborn geworden und als Zeuge bei Ausstellung der Urkunde zugegen 3). Er wird hier als erster Propst des Klosters angeführt. Daß er zu gleicher Zeit Vorsteher dreier Klöster war, kann beweisen, daß er ein hervorragender Kopf gewesen ist. Meibom 4) rühmt ihn als sittenreinen Mann, Freund der Wissenschaften und eifrigen Förderer der Klosterzucht („vir a morum sanctitate et disciplina regulari multum commendatus necnon litterarum sive studiorum cultor et fautor eximius”). Thietmar ist es auch gewesen, der dem später berühmt gewordenen Abt Hugo von St. Victor die Grundlagen für seine wissenschaftliche Tätigkeit gab.

Der große Einfluß Thietmars scheint bei den Nachfolgern Reinhards fortbestanden zu haben, er wird in wichtigen Angelegenheiten noch kurz vor seinem Tode im Jahre 1138 nach Rom gesandt. Auf seine Veranlassung hin bestätigt Papst Innocenz II. die Satzungen und Privilegien der „canonici regulares” der Halberstädter Diözese mit Urkunde vom 14. November 1138 5). Acht Tage nach Ausstellung der Urkunde, am 22. November 1138, starb Thietmar, noch in Rom. In der Kirche St. Johannes im Lateran wurde er beigesetzt. Die Inschrift seines Grabsteines ist bei Schmidt 6) wiedergegeben.

Für unsere Untersuchungen ist es wertvoll, aus dem bisher Berichteten folgendes noch einmal klar herauszustellen: Bischof Reinhard hat seine Ausbildung bei den Augustiner Chorherren genossen. Er führt den Orden der Augustiner in der Diözese Halberstadt ein. Vor seiner Berufung nach Halberstadt ist er Kanoniker in Mainz.

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1) Schmidt: Bau- und Kunstdenkm. d. Kr. Oschersleben S. 108/109.

2) Schmidt: Urk. Buch Halberstadt S. 118.

3) Schmidt: Urk. Buch Halberstadt S. 116.

4) Meibom: Chronikon St. Laurentii.

5) Schmidt: Urk. Buch Halberstadt

6) Schmidt: Bau- und Kunstdenkm. d. Kr. Oschersleben S. 109.

 

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Der einflußreiche Augustinerpropst Thietmar tritt mit Reinhard zugleich in der Diözese auf. Das berechtigt zu der Annahme, daß sie einander bereits in Mainz kannten, vielleicht gar dort zusammen gewirkt hatten.

Es unterliegt kaum einem Zweifel, daß der ungeheure Einfluß und die großen Erfolge der Hirsauer den Mainzer Augustinern, also auch Reinhard und Thietmar, bekannt waren, berichtet doch das Chronicon Hirsaus gerade in den Jahren kurz vor und nach 1100 verschiedentlich von Entsendungen kleinerer Konvente an Orte im Erzbistum Mainz. Hirsau konnte also für Reinhard ein recht gutes Vorbild sein, als er sich vor die schwierige Aufgabe gestellt sah, im Bistum Halberstadt Ordnung in das klösterliche Leben zu bringen. Würden wir dennoch daran zweifeln wollen, daß sich Augustiner Chorherren den Hirsauer Benediktinerorden zum Vorbild genommen haben sollten, dann müßte uns die Tatsache überzeugen, daß die Klosterkirche Hamersleben nach den Baugewohnheiten der Hirsauer Bauschule, sowohl im Grundriß als auch im Aufbau, ausgeführt wurde.

Ist einerseits die Hirsauer Bauhütte und ihre Arbeitsweise für die weiteren Untersuchungen von großer Bedeutung, so verdient andererseits Mainz besondere Beachtung wegen einer Eigentümlichkeit an der Ostapsis des dortigen Domes, die uns in gleicher Weise an Hirsauer Bauten Sachsens zum ersten Male in Hamersleben begegnet. An der Außenwand der Apsis des Mainzer Domes sind die Fenster mit Säulenarkaden umrahmt. An den Mauerflächen zwischen den Fenstern sind niedrigere Blendarkarden angeordnet. Eine ganz ähnliche Arkadengliederung hat die Ostapsis in Hamersleben, mit dem einzigen Unterschied, daß hier noch die spezifisch hirsauischen Lisenen vom oberen Fries zu den Kapitellen herabführen. Der fragliche Teil des Mainzer Domes gehört dem vom Jahre 1081 ab neuerrichteten Bauteil an, der 1137 bereits geweiht wurde. Reinhard, der bis zum Jahre 1107 in Mainz war, hat also diese Apsidengliederung, die am Rhein Schule machte, bestimmt gekannt. Von dem Hamerslebener Baumeister muß -- wegen ihres frühen Auftretens in Hamersleben -- dasselbe angenommen werden.

Die Beantwortung der Frage, wann in Hamersleben mit den Bauarbeiten begonnen wurde, ist für die späteren Untersuchungen von größter Wichtigkeit. Es liegen hier zuverlässige Angaben vor. In der Stiftungsurkunde vom Jahre 1112 sagt Reinhard, daß

 

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er die Augustiner-Mönche aus Osterwieck bereits nach Hamersleben überführt habe (transtulimus). Der „monachus Hamerslebensis"schreibt auch in seiner Chronik 1):„sub huius tempore – Papst Paschalis II. -- fundatum est monasterium in Hamersleve A. MCXI.” Da der Mönch der ersten Hamerslebener Kloster-Generation angehörte, war für ihn das Jahr der tatsächlichen Uebersiedlung, die er selbst mitgemacht haben wird, maßgebend und nicht die später erfolgte Formalität der Uebereignung. Demnach könnte als Zeitpunkt für den Baubeginn der Kirche das Jahr 1111 angenommen werden, vorausgesetzt, daß sofort nach der Uebersiedelung begonnen wurde.

Von der Einrichtung eines besonderen Frauenkonventes ist zwar nicht ausdrücklich die Rede, aber Thietburg und Mechtildis gehen selbst in das Kloster „und wohnen in einem besonderen Frauenhause, das außer Verbindung mit dem Mannskloster errichtet wird". Es muß also in der Kirche nach den strengen Regeln ein abgetrennter Raum geschaffen werden, und so besteht die Absicht, vor dem Mittelschiff im Westen über einer Vorhalle eine Frauenempore anzulegen, die in damals üblicher Weise nach dem Mittelschiff zu geöffnet werden sollte.

Es scheint niemals eine beträchtliche Zahl von Nonnen dort gewesen zu sein, ganz vereinzelt hören wir von Neuaufnahmen, so z. B. im Jahre 1174 2), wo eine Schenkung von Eheleuten dafür erfolgt, daß ihre Tochter als Nonne in Hamersleben aufgenommen worden war.

1238 schreibt Bischof Ludolf von Halberstadt 3) an den Propst Werner in Hamersleben, daß der „Conventus regularium sororum ecclesiae S. Pancratii in Hamersleve” der Christenheit zum größten Ärgernis gereiche, und daß künftig keine Schwester mehr aufgenommen werden solle, auch wenngleich sie im Frauenhause wohne. Hier ist also zum ersten Male offiziell von einem Nonnenkonvent die Rede. Für die Folge werden die Novizen nach St. Marienthal bei Helmstedt verwiesen, die in Hamersleben anwesenden läßt man bis zu ihrem Tode hier. Erst nach 1315 wird nichts mehr von Hamerslebener Nonnen erwähnt.

Die Klosterkirche wird, wie schon aus der Stiftungsurkunde hervorgeht, dem St. Pancratius geweiht. Er soll als Jugendlicher

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1) Mader: Manuscr. zu Meiboms Chronikon St. Laurentii.

2) Stef. Kunze: Geschichte d. Kl. Hamersleben (Urk. abgedruckt).

3) Stef. Kunze: Geschichte d. Kl. Hamersleben. S. 11.

 

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den Märtyrertod erlitten haben. Im 12. Jahrhundert erscheint er nur ganz selten noch als Schutzpatron einer Kirche.

Sein Bild befindet sich sowohl auf dem Vorderblatt der handgeschriebenen Hamerslebener Bibel 1) aus dem 13. Jahrhundert (in Wasserfarbenmalerei, umgeben von den Stiftern und Pröpsten), als auch an den vier Seiten des Kapitells der Säulen auf den Chorschranken, in der Mitte der Vierung. Auch das Siegel des Klosters Hamersleben trägt sein Bild 2). Er hält einen Palmenzweig in der Hand.

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1) Heute in der Bibliothek des Domgymnasiums Halberstadt. Das Vorderblatt ist abgebildet bei Schmidt: Bau und Kunstdenkmäler des Kreises Oschersleben S. 117.

2) Schmidt: Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Oschersleben S. 116.

 

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Der Bau der Klosterkirche.

Aus der Baugeschichte zahlreicher Kirchen ist uns bekannt, daß die Oberleitung des gesamten Bauunternehmens in der Regel in der Hand des Konventsvorstehers lag. Der Propst bezw. Abt traf seine Dispositionen nach den Vorschriften des Ordens, er hatte darüber hinaus den besonderen örtlichen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Das setzt voraus, daß er über die Baugewohnheiten seines Ordens genauestens orientiert sein mußte. Ganz ausgeprägt begegnet uns die Doppeltätigkeit als Architekt und Abt bei den Benediktinern der Hirsauer Kongregation. In Hirsau selbst hatte Abt Wilhelm eine ausgesprochene Klosterbauschule unterhalten, in der Abtsanwärter zu Bauleitern, und Brüder des niederen Chordienstes - fratres conversi und fratres barbarti - zu Werkleuten ausgebildet wurden. Hirsau, dem die Durchführung der Clunyazenser Reform auf deutschem Boden zufiel, war auf einen Stamm praktisch geschulter Bauleute innerhalb des Konventes angewiesen. die Chronik des Klosters berichtet laufend von der Entsendung kleinerer Konvente zu Klostergründungen an zahlreichen Orten.

Beim Orden der Augustiner Chorherren haben wir es nicht mit einer besonderen Bauschule eigenen Gepräges zu tun. Die Bestimmungen der Augustiner über Klosterleben und Gottesdienst stimmten in wesentlichen Punkten mit denen der Benediktiner überein, besonders nach der Neuordnung durch die Lateransynode von 1059 1).

Wenn also Augustiner Chorherren sich der Hirsauer Bauleute bedienten, so braucht das durchaus nicht zu verwundern.

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1) Die „Geschichte des Klosters Lausnitz“ (in „Mitteilungen des Geschichts- und altertumsforschenden Vereins zu Eisenberg", Heft 17, Jahrgang 1902) liefert uns hierzu einen schlagenden Beweis: Der zweite Propst von Lausnitz, Wulferus, kommt 1152 vom Kloster Hamersleben. Er versucht mit allen Mitteln, die Hirsauer Reform der Benediktiner einzuführen. Seine Schwester, die Benediktinerin Limburga vom Kloster Drübeck, hilft ihm dabei. Vier Jahre lang kämpfen sie gegen den Widerstand der Klosterinsassen. Da sie ihn nicht brechen können, gehen sie in ihre Heimatklöster zurück. Wulferus wird bei den Augustinern in Hamersleben Propst. Die Lausnitzer Choranlage nach Hirsauer Muster, in Wulferus' Zeiten entstanden, hat schon Bergner („Die Entwicklung der kirchlichen Baukunst im Westkreise") als direkte Ableitung von Hamersleben erkannt. Die Seitenkapellen sind, wie dort, vom Chor durch volle Mauerwände getrennt.

 

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Daß der Hamerslebener Baumeister und seine Leute aufs beste mit den Hirsauer Baugepflogenheiten vertraut waren, steht außer Zweifel.

Geeignetes Baumaterial -- ein guter, heller Sandstein mit sehr feinem Korn -- war nicht weit von Hamersleben zu finden. Die riesigen grobkörnigen Monolithe der Säulen entstammen vermutlich einem Steinbruch in Ummendorf, nördlich von Hamersleben, wie Pelizaeus 1) meint. Hilfsarbeiter standen wohl genügend zur Verfügung, denn das Kloster wurde ja direkt beim Dorfe Hamersleben angelegt. Finanzschwierigkeiten scheinen nicht bestanden zu haben, die Schenkung brachte dem Kloster einen recht ansehnlichen Besitz. So wird man also sofort im Jahre 1111 mit der Anlage der Klostergebäude und gleichzeitig mit der Fundamentierung der Kirche haben beginnen können. Für die Kirche muß von vornherein ein konsequent durchdachter Plan vorgelegen haben, von dem man auch – mit Ausnahme der nach dem Tode der Stifterinnen fallengelassenen Westvorbauten -- während des Bauens nicht abwich. Der Baugrund ist vorzüglich. Man kam mit einer Fundamenttiefe von nicht ganz 2.00 m aus. Als Bindemittel für das Mauerwerk verwendete man einen sehr kalkreichen, festbindenden Mörtel mit wenig Sand. Alle späteren Aenderungen sind ganz deutlich an der Verschiedenheit des Mörtels zu erkennen. So wird z. B. 1512 bei Aenderungen an der Kirche ein Mörtel verwendet, der bedeutend weniger Kalk, aber ziemlich grobkörnigen Sand enthält.

Das sanft nach Westen abfallende Terrain kam der Absicht des Baumeisters, das Chorhaus höher zu legen als das Langhaus, sehr zustatten, führte aber später beim Setzen der Mittelschiffswände zu einem unliebsamen Irrtum, der eine ausgesprochene Notlösung in der Anlage der Arkardenumrahmung nach sich zog. Das Höherlegen des Bodens erfolgte von den westlichen Vierungspfeilern ab um eine Stufe (vom chorus minor zum chorus maior), was sich an der Pfeilerbasis erkennen läßt. Drei Stufen führten dann vom chorus maior - Vierung - an den östlichen Turmpfeilern zum Altarhaus.

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1) Bericht v. J. 1857 beim Hochbauamt II Halberstadt.

 

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Dort behielt der Boden gleiche Höhe bis zu den Pfeilern der Apsis, wo wieder zwei Stufen folgten. Die beiden Querhausflügel hatten mit dem Langhaus gleiche Bodenhöhe. In die Seitenkapellen führten zwischen den Kapellenpfeilern drei Stufen nach oben. Die Nordseite zeigt noch den ursprünglichen Zustand. Das Südquerhaus erhielt im Jahre 1679 1) eine Bodenerhöhung um drei Stufen, sodaß es heute mit der südlichen Seitenkapelle und der Vierung auf gleicher Höhe liegt. Dafür sind jetzt drei Stufen neben dem südwestlichen Vierungspfeiler. Der äußere Sockel an Langhaus, Querhaus und Seitenkapellen hält sich genau in der Horizontalen, der Fußboden der Kirche jedoch steigt von Westen nach Osten genau so an wie das Gelände neben der Kirche. Der Baumeister hat also das vorhandene Terrain verwendet, wie er es vorfand, ohne größere Erdabtragungen vorzunehmen, sodaß nur für die Fundamente auszuschachten war. Damit aber auch die Sockelhöhe der Westseite in die Horizontale kam, war das Fundament hier entsprechend höher zu ziehen.

Der Grundriß ist der eines reinen Hirsauer Baues. Das Langhaus besteht aus vier gleichgroßen Quadraten, hierauf folgt das der Vierung, flankiert von denjenigen des Querhauses, als letztes reiht sich nach Osten das Altarhausquadrat an. Da die Maße an verschiedenen Stellen nicht genau übereinstimmen (sie schwanken zwischen 8,65 m und 8,75 m), darf als Mittelmaß für sämtliche Quadrate 8,70 m angenommen werden. Die beiden Seitenschiffe haben eine Breite von 3,60 m 2). Die Mittelschiffswände ruhen je auf 6 Säulen, die durch Rundbogen miteinander in Verbindung stehen. Nach der Vierung zu folgt auf die letzte Säule ein Pfeiler, dem die Aufgabe zufällt, den Seitenschub der Arkadenwand vom Vierungspfeiler abzuhalten, zum andern einen annähernd quadratischen Turm tragen zu helfen, der über dem östlichen Teile des Seitenschiffes angeordnet ist. Im Osten, jenseits des Querhauses, liegen zwei gewölbte Seitenkapellen, vom Hauptchor durch Mauerwände getrennt. Ihre Tiefe ist gleich der des

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1) Siehe auch S. 11. Als neue Bodenplatten wurden Teile älterer Grabplatten benützt, deren Inschriften noch heute teilweise lesbar sind.

2) Bei anderen Hirsauer Bauten finden wir folgende Maße für Mittelschiff und Seitenschiffe: St. Peter, Hirsau 10,75 X 5,00 m, Paulinzella 8,00 X 4,00 m, Riechenberg 8,00 X 3,50 m. Während Paulinzella an den Hirsauer Verhältnissen ungefähr festhält, macht man in Hamersleben und Riechenberg die Seitenschiffe schmaler, wodurch die Kirchen schlanker erscheinen.

 

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Hauptchores, bis zum Anfang der Apsis gemessen. ihre Breite 4,60 m, also um einen Meter breiter als die Seitenschiffe, eine Eigentümlichkeit. die wir an der Mutterkirche St. Peter in Hirsau auch finden. Dort sind die Seitenschiffe ca. 5,00 m, die Seitenkapellen aber ca. 6,00 m breit. In Paulinzella haben die Seitenkapellen gleiche Breite mit den Seitenschiffen. Die Verbreiterung war in Hamersleben umsomehr geboten, als gegen den Hauptchor eine volle Wand kam; die Kapellen hätten sonst beängstigend eng und finster gewirkt. Sie sind sogar jetzt nicht ganz frei von diesem Eindruck.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-1-Grundriss.jpg

 

Abb. Nr. 1- Grundriß.

 

Die im Grundriß (Siehe Abbildung Nr. 1) gezeichneten Türen waren, mit Ausnahme von a und g, ursprünglich angelegt. Die Tür a, heute der Haupteingang für die Gemeinde, wurde erst nach

 

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Abb. Nr. 2. Ansicht von O

 

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1804 gebrochen 1). Der romanische Türsturz mit zwei Basilisken, aus deren Rachen Ranken wachsen (siehe Abbildung Nr. 6), wurde im Jahre 1856 der zugemauerten Tür c an der nördlichen Kapelle entnommen. Die Tür g am Kreuzgang zeigt gotische Spitzbogenform und stammt wahrscheinlich aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts 2). Seit 1856 ist sie wieder vermauert 3). Ob der Tür c entsprechend an der Außenwand der südlichen Kapelle auch ein Eingang war, kann heute nicht mehr ermittelt werden, es scheint aber nicht der Fall zu sein. Die Südseite der Kirche ist dem Kloster abgewandt und besaß als Eingang für die Laien sicherlich nur eine Tür. Diese sitzt in der Mitte der Querhausgiebelseite und ist heute vermauert. Genaue Ermittelungen über eine etwaige Tür an der Außenwand der Südkapelle sind aus dem Grunde nicht möglich, weil die Kapelle im 17. Jahrhundert abgerissen und erst 1887 4) wieder in ursprünglicher Gestalt errichtet wurde. Als nämlich der riesige barocke Hochaltar errichtet wurde, der noch heute die ganze Hauptapsis bis zum Schwibbogen einnimmt, fehlte es an genügender Beleuchtung von der Mittagsseite her. Man brach daher kurzerhand die Seitenkapelle im Süden ab und setzte in die Chorwand ein größeres Fenster von schlechten Verhältnissen unter die oberen romanischen. Da der Hochaltar die Jahreszahl 1680 trägt, darf etwa dieses Jahr als Zeitpunkt für die Niederlegung angenommen werden. Bei der Erneuerung der Südkapelle im Jahre 1887 fand man die alten, sehr gut erhaltenen Fundamente, die wieder benutzt wurden. Von Spuren einer seitlichen Tür wird nichts erwähnt.

Der Ostteil der Kirche weist überall -- mit Ausnahme der eben erwähnten Südkapelle - festen Verband an Ecken und Uebergängen auf. Während das Chorhaus bis zur Koncha flache Balkendecke trägt, sind die Seitenkapellen tonnengewölbt. An der Außenwand konzentriert sich der Schmuck auf die Hauptapsis. (S. Abb. Nr. 2) Sie wird in halber Höhe von einem einfachen Flechtfries umzogen, der als Gesims ausgebildet ist. Das Gesims trägt sechs schlanke, verschieden hohe Säulchen mit einfachem Würfelkapitell und oben ausladendem Kämpfer, auf dem Arkardenbögen

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1) Akten beim Hochbauamt II Halberstadt.

2) 1512 fanden bauliche Veränderungen statt (Siehe später).

3) Akten beim Hochbauamt Il Halberstadt.

4) Akten beim Hochbauamt Halberstadt.

 

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ruhen. Von den drei Apsidenfenstern ist das mittlere höher. Dementsprechend sitzen hier die höheren Säulchen. Von den Arkadenbögen ist auch der mittlere der höchste. Er legt sich direkt um die reichprofilierte Fensterumrahmung. Die Quaderwand zu seiten

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-3-Gesims-Hamersleben-und-Kaltenborn.jpg

 

Abb. Nr. 3

 

des Hauptfensters hat tiefer sitzende Blendarkadenbögen auf niedrigeren Säulchen, diesen folgen über den beiden Seitenfenstern wieder höhere Bögen, die, obgleich sie ein Stück über die Fensterumrahmungen hinausgehen, doch nicht die Höhe des mittleren erreichen. Die letzten Arkaden nach dem Chorhaus zu sind wieder Blendarkaden und endigen an der Chorhauswand auf Pilastern. Ihre Bögen sind die niedrigsten der ganzen Gruppe. Von den Kämpfern führen die bei den Hirsauern gern verwendeten schachbrettartig gehaltenen Leisten senkrecht zum Dachgesims, dessen Hohlkehle nach oben auslädt und Palmettenschmuck trägt. Diese eigenartig schöne Gliederung einer Hauptapsis ist um 1115, wie schon erwähnt, noch an keiner niedersächsischen und thüringischen Kirche Hirsauer Herkunft zu finden. In Riechenberg 1), dessen Kirche sonst mit Hamersleben manches Uebereinstimmende hat, finden wir einfache Lisenen- und Bogenfriesgliederung. Paulinzella, auf das man bei Hamersleben immer hinwies, hat, nach dem sonstigen Baucharakter zu urteilen, an den Apsiden wahrscheinlich auch Lisenen gehabt, wie sie sich dort ja auch am Langhaus finden. Es ist kaum anders denkbar, als daß der Hamerslebener Baumeister dieses Motiv der Ostapsis des Mainzer Domes entlehnt hat. Oder sollte er gar am Dom in Mainz tätig gewesen und dort Reinhard bekannt geworden sein? Der Zeit des Dombaues nach (1081--1137) liegt es durchaus im Bereich der Möglichkeit. Jedenfalls steht fest, daß am Rhein kurz vor 1100 das Motiv angewandt wird und nur ausnahmsweise nach Sachsen gelangt. Erst später kommt es von Hamersleben nach Holzzelle (Mansfelder Seekreis), das zum Kloster

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1) Zeller: a. a. O. Tafel 24.

 

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Kaltenborn gehörte und 1120 von Thietmar eingerichtet wurde, also auf ihn zurückzuführen ist 1). Wie die Abbildungen Nr. 3 und 4 zeigen, können es nur die Hamerslebener Bauleute gewesen sein, denen die Ausführung der Klosterkirche Kaltenborn und der in Holzzelle übertragen war. Erst etwa ein halbes Jahrhundert später treffen wir an der Kirche des Klosters Neuwerk in Goslar eine Variante.

Das Kranzgesims der Seitenapsiden sitzt in halber Höhe der Hauptapsis, darunter läuft ein einfacher Rundbogenfries hin. Die Ostwand oberhalb der Apsidendächer weist keinerlei Schmuck auf. Die Ecken haben festen Einband mit den Langwänden.

Im Oberlichtgaden des Chorhauses sitzen je zwei Fenster. Sie haben keinerlei Umrahmung und sind in üblicher Weise nach innen abgeschrägt, um genügend Licht einfallen zu lassen. Das

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-4-Saeulenbasen-Hamersleben-und-Holzzelle.jpg

 

Abb. Nr. 4 Säulenbasen

 

Kopfstück besteht aus einem größeren Quader, aus dem der Bogen des Fensters herausgearbeitet ist. (Alle später eingesetzten Fenster sind daran erkennbar, daß sie den charakteristischen Kopfquader nicht haben und als Wandung nicht die Mauerquader anstehen. Eine Ausnahme bilden nur die kleinen Fenster der 1887 wieder errichteten Südkapelle.) Unmittelbar unter den Sohlbänken der Fenster liegen die Dächer der Seitenkapellen an. Der untere Teil der Altarhauswände besteht aus vollem, regelmäßig geschichtetem Mauerwerk. Von Hirsauer Kirchen in Norddeutschland hat neben

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1) Dr. Schmidt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Sangerhausen 1882 (Kaltenborn) und Größler: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Mansfelder Seekreises, Halle 1895 (Holzzelle, Seite 269 u. f.)

 

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Hamersleben nur noch die Liebfrauenkirche in Halberstadt die Trennungswand zwischen Altarhaus und Seitenkapellen 1). In Mitteldeutschland kennen wir Klosterlausnitz, auf dessen direkte Beziehung zu Hamersleben durch Wulferus (1152--56) oben bereits hingewiesen ist, und Thalbürgel. An den übrigen Hirsauer Kirchen finden wir das Beispiel von St. Peter in Hirsau, die Seitenkapellen durch Arkaden gegen das Altarhaus zu öffnen, nachgeahmt. Auch Paulinzella wich wahrscheinlich davon nicht ab 2). Holtmeyer 3) glaubte, daß die Anordnung durchgehenden Mauerwerkes statt der Arkaden in Thalbürgel wie in Hamersleben aus Aengstlichkeit geschehen sei, der Seitenschub der Langhausarkadenwand könne nicht genügend Widerlager finden. Soweit Hamersleben in Frage kommt, trifft Holtmeyers Mutmaßung bestimmt nicht zu. Hier hatte man ja bereits in der Vierung vorgesorgt, indem man den oberen Teil über einer Arkatur in vollem Mauerwerk ausführte. In der Anlage dieses Bauteiles erkenne ich zweifelsfrei das Bestreben des Baumeisters, ein Weichen der Langhauswand und der Seitenschifftürme nach Osten hin zu verhindern. Das Altarhaus liegt dagegen so weit ab, daß durch dessen Wände, beim Fehlen der oberen Vierungswand, der Gefahr gar nicht unmittelbar begegnet werden könnte. Viel näher liegt der Gedanke, daß die Seitenkapellen mit bestimmter Absicht gegen das Chorhaus abgeschlossen werden sollten, daß man also ganz bewußt vom Hirsauer Prinzip abwich. Bischof Reinhard hatte sich die Aufgabe gestellt, in seiner Diözese eine straffere Klosterzucht einzuführen. Dazu gehörte die freiwillige Geißelung und stille Andacht, zu deren Erfüllung sich die Mönche in die gegen das Altarhaus isolierten Seitenkapellen zurückziehen konnten. Es wird sich demnach um eine liturgische Veranlassung, nicht aber um eine bautechnische Notwendigkeit handeln.


tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Altarziborium-fruehes-13-Jh-im-suedlichen-Querschiff-IMG-4752.jpg

Einfügung: Altarziborium frühes 13. Jh. im südlichen Querschiff

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1) Neuerdings untersuchte ich die interessante, etwa um 1100 erbaute, jetzt leider verstümmelte Kirche in Kloster-Gröningen. Dabei stellte sich heraus, daß auch sie die Hirsauer Choranlage mit Seitenkapellen hatte und nicht, wie stets angegeben, kleine Querhauskonchen. Auch hier war, wie in Hamersleben, auf Arkadenöffnungen zwischen Chor und Seitenkapellen verzichtet. Der Tonnengewölbeansatz für die Kapellen steht noch aus der Chorwand vor. Das Gesamtergebnis meiner Ermittelungen wird im „Jahrbuch der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen" veröffentlicht werden.

2) Holtmeyer: Beiträge zur Baugeschichte der Paulinzeller Klosterkirche. Dissert. 1904, Jena. Grundrißzeichnung.

3) Derselbe Seite 156.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Bogenfeld-ueber-vermauertem-Portal-am-suedlichen-Querschiff-IMG-4473-small.jpg

 

Abb. Nr. 5. Bogenfeld (Tür b des Grundrisses)

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Portal-am-suedlichen-Seitenschiff-IMG-4419-small.jpg

 

Abb. Nr. 6. Bogenfeld (jetzt Tür a, früher c des Grundrisses)

 

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Ganz eigenartig ist in Hamersleben das Querhaus angeordnet. Die Seitenflügel sind so niedrig gehalten. daß sie mit ihrem Dachfirst kaum über das Dachgesims des Langhauses hinausragen. Die Giebelspitze des Südflügels sitzt etwa 1,00 m höher als die des Nordflügels 1). In der Mitte des Südgiebels befindet sich eine – heute vermauerte -- Rundbogentür. Ihre kräftige Umrahmung ist als Fortsetzung des Sockels zu betrachten und hat einfache Abschrägung. Ihr Bogenfeld zeigt als plastischen Schmuck zwei einander zugekehrte, in der Mitte durch eine schlanke Säule getrennte Löwen, die den Kopf dem Eintretenden zukehren. Um diese Darstellung legt sich ein palmettenartiger Pflanzenfries, unterbrochen durch Löwenköpfe in den Ecken zu beiden Seiten und oben in der Bogenmitte (Siehe Abbildung Nr. 5).


tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Bogenfeld-ueber-vermauertem-Portal-am-suedlichen-Querschiff-IMG-4473-small.jpg


Das Löwensymbol an Eingängen, das auf oberitalienischeVorbilder zurückgeführt werden darf, ist hin und wieder stark variiert anzutreffen. Kunze 2) erwähnt dasjenige in Murbach. In der näheren Umgebung Hamerslebens wäre das Nordportal an der Kirche in Königslutter zu nennen, wo zwei Löwen, zu den Seiten der Tür liegend, je eine Säule tragen 3).

Ueber der Tür befinden sich zwei Fenster, deren Sohlbank wenig höher sitzt als das Kranzgesims des Seitenschiffes. Ein gleiches Fenster haben Ost- und Westwand. Das Giebeldreieck tritt von der Dachbodenhöhe ab in die Wandfläche zurück, um eine Zahnschnittumrahmung und drei Lisenen mit gleichem Muster anstehen zu lassen. In Dachbodenhöhe sitzen weit aus der Giebelwand ausladende Kragsteine. Bis zu deren Höhe müssen auch Ost- und Westwand des Querhauses gedacht werden, wenn die dekorative Andeutung im Giebelfeld einen Sinn haben soll. Heute sitzt das Dach unter Kragsteinhöhe und stößt deshalb etwas unglücklich in das Dach der südlichen Seitenkapelle, es liegt auch zu dicht über den Querhausfenstern (Siehe Abbildung Nr. 7).


tl_files/Fotos/Hamersleben/Einfuegung-Abb-7-Giebelfeld-suedliches-Querhaus-auf-Kragsteinhoehe-IMG-4347-small.jpg

Einfügung Abb. Nr. 7 Giebelfeld südliches Querhaus


Daß das Dach früher tatsächlich in Kragsteinhöhe auf der Wand saß, geht aus Mörtelansätzen und dem Fehlen des entsprechenden

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1) Die Zeichnungen Zeller: (a. a. O.) sind insofern ungenau, als beide Firste gleich hoch gelegt sind.

2) Hans Kunze: a. a. O. Seite 429. Auf die verblüffende Uebereinstimmung der beiden Ornamentmotive am Murbacher Bogenfeld mit denen des zweiten Bogenfeldes in Hamersleben (Abb. Nr. 5) sei besonders hingewiesen.

3) Die direkte Ableitung von langobardischen Vorbildern steht hier fest (Siehe Exkurs II).

 

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Gesimsstückes am Südturm hervor. In dieser Höhe hätte man sich demnach am Querhaus ein Palmettenkranzgesims mit darunter liegendem Rundbogenfries als ursprünglichen Zustand zu denken. Gesims und Bogenfries wurden später abgetragen. Das Dach bekam eine steilere Lage, um den Südturmwinkel besser zu entwässern.

Ostendorfs 1) Nachweise bestätigen meine Feststellungen.

Der nördliche Querhausflügel besitzt drei Zugangstüren. Stärkere Betonung hat die Tür in der Westwand, durch die man vom Kreuzgang her eintritt. Auch sie zeigt außen starke Umrahmung als Fortführung des Sockels, ihr Bogenfeld trägt indessen keinen Schmuck. Geringe Bedeutung ist der Tür zur Sakristei in der Nordwand und dem Zugang vom Pfarrgarten her in der Ostwand beigemessen. Beide schließen oben gerade ab. In der Ost und Westwand sitzt je ein Rundbogenfenster. Beide sind vermauert. Auch hier ist der obere Teil der Ost- und Westwand nachträglich abgetragen worden, der Giebel behielt seine alte Gestalt. Wie dort, so war auch hier bessere Dachentwässerung die Ursache zur Aenderung.

Da, wo die Querhausflügel gegen die Vierung stoßen, sitzen Chorschranken, die das Altarhaus mit dem Langhaus verbinden. In der Mitte der Schranke führt ein Pfeiler bis zur Schrankenoberkante. Während er in der Vierung die Flucht der Wand einhält, steht er nach dem Querhausflügel ebensoweit vor wie der Vierungspfeiler. Ueber der Schrankenoberkante erhebt sich auf kräftigem Sockel mit Basis eine Säule. Sie trägt ein besonders reich ornamentiertes Kapitell und darüber einen profilierten Abakus, von dem aus zwei Arkadenböden die Verbindung mit den Vorlagen der Vierungspfeiler herstellen. Ueber den Bögen sitzt regelmäßig geschichtetes Quadermauerwerk, das bis zum Dach des Langhauses hochgeführt ist. In der Vierung hat die Arkade eine Umrahmung wie im Langhaus, nur daß sie hier, der Bogengröße entsprechend, höher hinaufreicht. (Siehe Abbildung 8).

Ueber die Frage, ob Querhaus und Vierungsarkaden dem ersten Plan oder einem späteren Umbau zuzuschreiben sind, gehen die Meinungen auseinander, sodaß nur durch peinlichste Untersuchung des Mauerwerkes Klarheit geschaffen werden konnte.

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1) Ostendorf: „Die deutsche Baukunst des Mittelalters", Bd. 1. Aufnahme und Differenzierung der Bautypen, Berlin 1922. Seite 148 und Fig. 173.

 

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Als erster hat sich F. v. Quast 1) mit dem Problem befaßt. Als Denkmalpfleger überwachte er die Arbeiten der Restaurierung im Jahre 1856. Seine Feststellungen veröffentlichte er im Jahre 1858. Die Arbeit ist mit sorgfältigen Zeichnungen versehen. Quast vertritt dort die Ansicht, die Kirche habe nachträglich, wenn auch schon in früherer Zeit, einen Umbau erfahren, der die Türme mit der darunter sitzenden Pfeilerarkade, das Querhaus und die Chorschranken umfaßte. Das Langhaus hält er für ursprünglich. Er nimmt an, daß der Umbau dadurch veranlaßt worden sei, „daß bei zunehmendem Wohlstand des Klosters der nur enge Raum des Chores für den Konvent nicht mehr groß genug erschien und man doch nicht, wie anderwärts, zu einer Erneuerung desselben schreiten wollte. Man führte daher den Chor, wie gleichfalls anderswo häufig geschah, bis ins Querschiff, ja über dieses hinaus, bis zu dem östlichen Pfeiler des Langhauses hin, wo die Stufen noch jetzt den Anfang des Chores der Mönche bezeichnen". Den Einbau der Türme mit östlichem Arkadenpfeiler möchte Quast als eine damit nicht zusammenhängende Aenderung betrachten, die bereits vorher erfolgt war. Vom Turmeinbau sagt er wörtlich: „Trotz der Rundbogenöffnungen in verschiedenen Geschossen und der Rundbogenfriese, die letztere trennen, ist nicht zu verkennen, daß diese Anlage erst nachträglich, wenn auch schon in sehr früher Zeit, zugefügt wurde. Auch die Unregelmäßigkeit in der Anordnung des isolierten Ostpfeilers im Langhause, der jederseits dem Turm mit als Auflager dient, läßt sich durch diesen Umbau sehr wohl erklären."

Nach Quast wäre also, nachdem die Langhauswand bereits vollständig stand, neben dem östlichen Arkadenpfeiler das Stück Längswand bis zum Vierungspfeiler von oben bis unten herausgerissen worden. Das ist ein Unding! Zunächst hätte zwischen Vierungspfeiler und Mittelschiffswand durch den Aufriß eine Lücke von 5,00 m geklafft. Welcher Baumeister der Romanik hätte das gewagt, noch dazu an einer Langhauswand, die auf schlanken Säulen und Arkadenbögen mit starkem Seitenschub stand? Wenn nun trotz alledem der Einriß geschehen wäre, um den Turm dahin zu setzen, so hätte sich das äußerst riskante Unternehmen nur dann rechtfertigen lassen, wenn man an die Stelle der eingerissenen Wand eine stärkere gesetzt hätte, die der Turmlast besser widerstand.

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1) F. v. Quast und H. Otte: Zeitschrift für christliche Archäologie und Kunst. Bd. 2. Leipzig 1858. S. 78, 79, 81 und Abbildungen.

 

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Nun zeigt sich aber. daß die Wand des Turmes an dieser Stelle genau so stark ist wie die ganze übrige Langhauswand. Man hätte sich also in große Gefahr begeben, nur, um an Stelle des eingerissenen Mauerwerkes genau das gleiche wieder zu errichten. Das ist gänzlich ausgeschlossen. Quast ließ sich dadurch irreleiten, daß die Arkadenumrahmung vom Langhaus her gerade an dieser Stelle plötzlich abbricht und 30 cm tiefer ihren restlichen Weg zum Vierungspfeiler wieder aufnimmt. Würden wir trotz aller Unmöglichkeiten auch hier Quast folgen wollen, so finden wir wohl kaum eine Erklärung für das Tiefersitzen der Arkadenumrahmung. Weshalb soll der Baumeister, wenn er schon die Mauer neu errichtet, nicht den anstehenden Zahnschnittfries in richtiger Höhe weiterführen? Für Quast's Ansicht könnte höchstens die Tatsache sprechen, daß das Mauerwerk der oberen Langhauswand sich von dem am Turm unterscheidet. Die Quaderschichten der Turmseite sind etwas größer. Die Grenze der Unterschiede führt genau vom Absatz der Arkadenumrahmung senkrecht nach oben. Quast hat also durchaus recht, wenn er annimmt, daß hier nicht zu gleicher Zeit gebaut wurde. Die genaue Prüfung der Mauerfugen hat ergeben, daß man beim Bauen eine Verzahnung anstehen ließ. Diese Verzahnung steht von der Turmwand her an. Da sie aufwärts bis zur Balkendecke des Mittelschiffes ansteht, muß notwendig das Turmpaar bis zur Mittelschiffshöhe, Vierung und Querhausflügel, also der ganze Ostteil der Kirche, bereits gestanden haben, als man an die Aufrichtung der Langhauswände ging. 1) Daß das Querhaus zu dieser Zeit unbedingt gestanden haben muß, wird schon allein aus der Erwägung heraus geschlossen werden müssen, daß im Falle seines Fehlens der Turm ganz frei auf einem Stückchen Seitenschiffswand, Arkaden- und Vierungspfeiler hätte stehen müssen. Sollte das ein Hirsauer Baumeister ernstlich gewagt haben? Folgerichtig zeigt dann auch die Wand der Querhausflügel innige Verbindung mit dem Mauerwerk der Türme. So bilden Altarhaus, Querhausflügel und Turmpartie ein unbedingt zusammenhängendes Ganzes.

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1) Die Untersuchung der Fugen über den östlichen Arkadenpfeilern ist heute durch den Anstrich etwas erschwert. Abbildung No. 12 (Aufnahme der Staatlichen Bildstelle Berlin) zeigt die fragliche Mauerwand vor dem Anstrich. Durch sie wird die Richtigkeit meiner Untersuchungen klar bewiesen.

 

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Durch den von mir ermittelten Bauverlauf klärt sich aber auch ganz von selbst die bisher so sehr umstrittene Frage, ob die Chorschranken und Vierungsarkaden zum ursprünglichen Bau gehören, – also im Plan des Baumeisters bereits vorgesehen -- oder ob sie eine spätere Veränderung darstellen. Standen nämlich Altarraum, Querhausflügel und die zwei Vierungsbögen Nord-Süd, so waren zwar in dieser Richtung für die im Unterbau überaus stark durchbrochenen Türme Verstrebungen geschaffen, einmal durch die westlichen Querhauswände, zum andern durch den Schwibbogen über dem Mittelschiff 1), wollte man dann aber die Mittelschiffswände gegen die Türme legen, so entstand für diese durch den Seitenschub der letzten Arkade ernstliche Gefahr, da sie nach Osten hin kein Widerlager hatten. Um der Gefahr von vornherein zu begegnen wurde die Arkade der Vierung vorgesehen und über dieser volles Mauerwerk. Diese Vorkehrung schien dem Baumeister sicherer als die Abstrebung der Türme durch Vierungsbögen in der Richtung West - Ost. Jedenfalls ist von solchen Bögen an keiner Stelle auch nur eine Spur vorhanden.

Daß die Arkatur der Vierung höher sitzt, ist dem Bestreben des Baumeisters zuschreiben, den beiden Querhausflügeln nicht völlig den Charakter als Kirchenschiffe zu nehmen.

War, wie wir gesehen haben, die Einziehung der Arkadenwand in die Vierung eine konstruktive Notwendigkeit, so ist die Tieferhaltung der Querhausdächer eine logische Folge. Man denke sich z. B. die Decke der durch die obere Arkadenwand vom Langhaus getrennten Querflügel in die Höhe der Langhausdecke gelegt, um sofort einzusehen, daß der Baumeister mit feinem Gefühl für gute Raumverhältnisse das einzig Richtige getan hat. Daß die Tieferlegung vornherein geplant und konsequent durchgeführt wurde, geht aus der Anordnung der Querhausfenster hervor, die wesentlich tiefer sitzen, als die des Oberlichtgadens im Mittelschiff 2)

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1) Sonst werden allgemein Türme als zuverlässigstes Widerlager für Wände, Bögen und Gewölbe gesetzt. In Hamersleben stehen die Türme aber auf zu schwachen Füßen, daß sie selbst einer Verstrebung bedürfen, als Widerlager aber nicht in Betracht kommen können.

2) Hase (a. a. O. S. 102) glaubte, es könne bei einer späteren Restauration das Querhaus tiefer gelegt worden sein. Als Folge hiervon sei die obere Vierungswand nötig geworden, unter der man die Arkatur angeordnet habe. Welche Veranlassung sollte aber bestanden haben, das Querhaus abzutragen, um einen erheblichen Einbau zu rechtfertigen? Setzen wir aber den Fall, es wäre wirklich so geschehen, so hätte man sicher nicht gewagt, die West-Ost-Vierungsbögen. die ja dann bestanden haben müßten, niederzulegen, weil der Turm hätte weichen können. Wäre aber der Bogen geblieben und man hätte untermauert, dann müßte er heute noch vorhanden sein. Es fehlt jedoch jede Spur auch nur eines Ansatzes. Uebrigens hätten nach Hase beide QuerhausfIügel sehr weit herunter abgetragen und dann wieder mit tiefersitzenden Fenstern neu hochgeführt werden müssen.

 

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Wie man sich bisher über das Querhaus und die Vierungsarkatur nicht einig war, so bestand auch Unklarheit über die Frage: Sind die Schrankenmauern unter der Arkatur ursprünglicher Absicht oder späterer Zutat zuzuschreiben? Dehio, Quast und Hase betrachten die Schrankenmauern, wie die ganze Arkatur, als nachträgliche Aenderung, Ostendorf 1) und Kunze 2) sehen darin ursprüngliche Anlage, Zeller 3) neigt dieser Ansicht zu. Er stützt sich dabei auf die Ermittelungen Mettlers, 4) nach denen von den Hirsauern der Einbau von Schrankenwänden für den „chorus maior” – in der Vierung -- und den „chorus minor” -- zwischen den Türmen vor der Vierung -- ursprünglich geplant oder bei älteren Kirchen nachträglich angeordnet wurde. Lägen die Untersuchungen Mettlers nicht vor, so könnte uns Hamersleben zeigen, daß die Schrankenwände tatsächlich von vornherein geplant waren. Hier liegen nämlich die Quader der westlichen Vierungspfeiler nach Ost und West in die Schrankenwand hinein, und zwar genau bis zur Höhe des dann eingesetzten schwächeren Wandteiles. Der Säulenstuhl der Vierungsarkade steht mit dem Vierungspfeiler gleichweit aus der Wand und hat keine Verzahnung mit ihr. Daraus geht der Bauverlauf einwandfrei hervor. Bei der Anlage der Türme ist die Schrankenwand berücksichtigt worden; man hat sie aber nicht gleich mit errichtet, um beim Arbeiten genügend Bewegungsfreiheit zu haben. Der Pfeiler der Vierungsarkade als Träger der Oberwand mußte natürlich wegen eines etwaigen Weichens des Turmes gleich mit hochgeführt werden. Nach Fertigstellung des Turmes wurde dann die schwächere Schrankenwand eingesetzt. Ihre Außenseite erhielt später reiche, außerordentlich feine Stuckdekorationen mit köstlicher Umrahmung. Heute ist nur noch eine Wandfläche

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1) Ostendorf: a. a. O. Seite 116.

2) Kunze: a. a. O. Seite 427.

3) Zeller: a. a. O. Seite 66. Fußnote 48.

4) Mettler: Mittelalterliche Klosterkirchen und Klöster der Hirsauer und Zisterzienser in Württemberg. Stuttgart 1927.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Blick-aus-dem-noerdlichen-Querschiff-IMG-4736-small.jpg

 

Abb. Nr. 8 Blick aus dem nördlichen Querschiff

 

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(nordöstlicher Teil) neben dem Rundbogenzugang vom Querhaus her geschmückt. Die übrigen Mauern haben noch die Löcher, in denen der ehemalige Stucküberzug befestigt war.

Die Schrankenmauern unter den Turmarkaden sind, wie die Quaderfugen zeigen, ursprünglich, jedoch in Pfeilerstärke eingesetzt. Die Wand läßt vor dem westlichen Turmpfeiler einen Zugang von 1,50 m frei. Wie die Quaderkantenbearbeitung des Pfeilers erkennen läßt, ging sie auch nie von Pfeiler zu Pfeiler. Aus der Tatsache, daß die Außenseite schmucklos ist und die Sockelprofilierung tiefer sitzt, ist zu schließen, daß es sich hier um den „chorus minor” handelt, der um eine Stufe tiefer lag als der „chorus maior". Nach der Planung hätte aus dem Langhaus zum kleinen Chor wenigstens eine Stufe führen sollen, die aber dann nicht mehr angelegt wurde, da man später den ansteigenden Boden des Langhauses nicht bis zur Horizontalen abtrug, was wir bei der Besprechung des Langhauses noch sehen werden. Die Stufe zwischen kleinem und großem Chor lag, nach dem Versetzen des Sockels zu urteilen, unmittelbar hinter den westlichen Vierungspfeilern.

Die Türme ruhen auf den östlichen Arkadenpfeilern des Langhauses und auf Vorlagen der Vierungspfeiler, also in der Flucht der Arkadenwand einerseits und auf der Wand der Seitenschiffe andererseits. Von den Arkadenpfeilern führt je ein Bogen gegen die Seitenschiffswände, dort auf Konsolen ruhend. Gleiche Bögen sind von Vorlagen der Vierungspfeiler aus gegen die Q u e r h a u s w ä n d e geschlagen, und sitzen auf Eckpfeilern. Zwischen den Bögen ist je ein Kreuzgewölbe eingezogen. Die Türme zeigen außerordentliche Schlankheit, besonders in ihren oberen Geschossen. Bis über die Langhauswände führen sie quadratisch hoch und gehen dann durch Eckkappen zur Achteckform über. Während die Fenster im letzten quadratischen Geschoß gute Proportionen zeigen, leiden die oberen im Achteckteil an dem Mangel guter Verhältnisse. Die Außenfläche des Turmmauerwerkes weist in Erhaltung und Flächenbehandlung große Unterschiede auf. Der quadratische Teil des Turmes ist stark verwittert, und wo der Steinschlag gut zu erkennen ist, gleicht er dem der übrigen alten Bauteile. Der ganze achteckige Turmaufbau dagegen sticht durch weit bessere Erhaltung und andere Flächenbehandlung ab. Die Frage, ob hier nicht eine nachträgliche Veränderung vorliegt, drängt sich unwillkürlich auf. In der Tat finden wir auch in dem Priorenverzeichnis

 

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Thomas Hartmanns die Nachricht, daß im Jahre 1512 unter dem Prior Bernhard Fabri die Kirche erweitert und die beiden Chortürme „errichtet” wurden. Da, wie wir oben bereits sahen, die Türme von Anfang an ausgeführt waren, Hartmann aber dennoch von einer „Errichtung der Türme” spricht, muß es sich doch um einen erheblichen Umbau gehandelt haben? Wie waren dann aber die Türme vorher beschaffen? Hätten sie früher die gleiche Gestalt gehabt, so ließen sich Parallelen zur Liebfrauenkirche in Halberstadt ziehen, wie es Quast 1) ja auch getan hat. Ist der Oberteil aber tatsächlich erst 1512 entstanden, so könnte man einwerfen, es sei dann im Geiste dieses Jahrhunderts gebaut worden. Daß man aber in späteren Zeiten bei Aenderungen sehr wohl dem Charakter der ersten Erbauungszeit Rechnung zu tragen wußte, lehrt uns ein Beispiel vom Jahre 1696. Damals wurde die Außenwand des südlichen Seitenschiffes neu errichtet 2). Zwar hat man größere Fenster eingesetzt, doch wurde die romanische Form genau nachgebildet.

Dem Geist von 1512 entsprechend, hätten die Türme gotische Aufbauten erhalten müssen. Das hat man wohl doch nicht verantworten wollen, zumal die Seitenschifftürme der Liebfrauenkirche im nahen Halberstadt für den neuen Turmteil zum Vorbild genommen werden konnten.

In der Bibliothek des Domgymnasiums Halberstadt befindet sich eine Bibel, die von einem Hamerslebener Mönch im 13. Jahrhundert geschrieben wurde. Die erste Seite zeigt in bunter Malerei St. Pankratius, den Schutzheiligen des Klosters Hamersleben, umgeben von der Stifterin Mechtildis, Bischof Reinhard und den ersten Pröpsten. Mechtildis und Reinhard tragen auf ihren Händen die Kirche Hamerslebens. Bei allem Primitivismus der Zeichnung ist doch recht auffällig, daß der Zeichner einmal die Querhausflügel niedriger darstellt, zum andern die Türme genau in der Form, wie wir sie sonst an Hirsauer Bauten finden. In der Höhe des Langhauskranzgesimses haben die Türme zwei Fenster, das Geschoß darüber ist durch kräftige Gesimse außen angedeutet und hat gleiche Fenster, die gerade über den First des Langhauses hinausragen. Darüber lädt die Wand mit schrägem Kranz-

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1) Quast: a. a. O. Seite 78.

2) „hic murus ex novo fundamento erectus est 1696" lautete eine In-

schrift an der Wand.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-9-Ansicht-von-Sueden.jpg

 

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Abb. Nr. 9. Ansicht von S.

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gesims aus, um den niedrigen Helm zu tragen. Die Türme haben bis oben hin quadratische Form. Zwar könnte man sich daran stoßen, daß sie auf der Zeichnung mit dem Querhaus nicht in Verbindung stehen, ja, daß dazwischen eine naiv gezeichnete Tür sitzt, die bis zu den oberen Langhausfenstern hinauf reicht. Das ist aber der in technischen Dingen ungeübten Hand des Zeichners zuzuschreiben. An Querhaus und Türmen erkennen wir nur zu deutlich, daß tatsächlich die Hamerslebener Kirche Vorbild für die Zeichnung gewesen sein muß, denn es kann nicht gut angenommen werden, daß

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-10-Seitenschifftuerme.jpg

 

Abb. Nr. 10. Seitenschifftürme

 

der Mönch für das Querhaus die Hamerslebener, für die Türme aber eine beliebige andere Kirche, die zufällig den typischen Hirsauturm hat, als Vorbild wählte. Die Hamerslebener Türme wären also quadratisch gewesen und hatten zwei Geschosse gehabt, deren oberes über Firsthöhe des Langhausdaches lag und mit niedrigem Helmdach gedeckt war. (Siehe Abb. Nr. 10). Es darf mir erlassen werden, auf andere Hirsaubeispiele hinzuweisen, da sie häufig genug vorkommen. Holtmeyers Annahme 1), die Hamerslebener Kirche habe bereits ursprünglich typisch „sächsische“ Türme erhalten, trifft also nicht zu.

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1) Holtmeyer: a. a. O. Seite 168

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Uebrigens erlitt das Helmdach des Nordturmes seit 1787 zweimal Veränderungen. Am 5. Juni 1787, abends kurz vor 6 Uhr, schlug der Blitz in den Turm 1). Er brannte völlig aus, wobei die große Glocke das Kreuzgewölbe des Turmbodens durchschlug und in die Kirche fiel, jedoch unbeschädigt blieb. Bei der Erneuerung erhielt das Dach barocke Zwiebelform, die sich dem unversehrten Südturmdach gegenüber recht geschmacklos ausnahm. Erst im Jahre 1887 2) beseitigte man das Uebel, indem man das jetzige Dach aufsetzte.

Der Bauteil, über den sich die Kunsthistoriker einig waren, ist das Mittelschiff. Alle halten es für zuerst fertiggestellt. Und dennoch ist gerade das Gegenteil richtig. Das Langhaus ist, wie uns der Baubefund lehrt, tatsächlich zuletzt gebaut worden, wenn auch ungefähr zu gleicher Zeit mit den übrigen Baugliedern, doch immerhin zuletzt. Ganz allgemein betrachtet ist es ein Unding, das Langhaus als zuerst errichtet anzunehmen und dabei die Meinung zu vertreten, das schöne Doppelportal in der Westwand entstamme wegen seiner Pfeilerbildung mit vorgesetzter Säule und verkröpftem Kapitell einer späteren Zeit. Daß die Westwand zum größten Teil bereits vorhanden sein mußte, als die Langhausarkaden geschlagen wurden, kann keinem Zweifel unterliegen, denn ohne gediegenes Widerlager gegen den Schub ist die Arbeit einfach nicht denkbar. Sollten aber nach den bisherigen Datierungen Arkadenwand und Doppelportal wirklich zeitlich soweit auseinander liegen, so gäbe es dafür zwei Erklärungen: entweder der ganze Mittelteil der Westwand vor dem Langhause wäre später aufgeführt worden, oder das Portal würde nachher in die Wand gebrochen worden sein. Beide Erklärungen halten aber klarer Ueberlegung und eingehender Untersuchung nicht stand. Zunächst ist es undenkbar anzunehmen, der Baumeister habe als Widerlager nur einen kleinen Streifen Mauerwerk vor jeder Längswand hochführen lassen. Wenn die Stirnwände der Seitenschiffe

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1) Priorenverzeichnis des Klosters Hamersleben.

2) Akten und Zeichnungen beim Hochbauamt II Halberstadt. Es könnte vermutet werden, der Nordturm sei zum letzten Male bereits vor 1861 geändert worden, da ihn Hase damals in seiner Arbeit genau so zeichnet wie den Südturm. Das ist aber eine Aenderung, die er frei vornahm, es widerstrebte ihm sicher, das schöne Bauwerk im Bilde mit der häßlichen Zwiebelform zu versehen. So zeichnet er beispielsweise auch die südl. Seitenkapelle mit, die erst 26 Jahre später, i. J. 1887, wieder errichtet wurde.

 

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auch mit errichtet worden wären, so war damit dem Arkadenschub noch nicht begegnet. Man mußte unbedingt im unteren Teile der Westwand einen ganz soliden Verband schaffen. Es bliebe dann nur die zweite Erklärung: späteres Einsetzen des Portales. Das ist nach dem Baubefund aber völlig ausgeschlossen! Sockel, Wandungen und Kopfstücke des Portals ruhen in so festem Verbande mit der Wand, daß auch der leiseste Zweifel nicht aufkommen kann. Dennoch habe ich sowohl die Quaderfugen als auch den Mörtel genau untersucht. Der Mörtel enthielt die gleiche Zusammensetzung - außerordentlich viel Kalk und sehr wenig feinen Sand -- wie das übrige älteste Mauerwerk. Hieran und am Sitz der Fugen gegen das seitliche Mauerwerk war zweifelsfrei die Zusammengehörigkeit von Westwandmauerwerk und Doppelportal zu erkennen. Es ist schon aus diesem Grunde ganz unmöglich, an der seitherigen Hypothese, die Arkadenwand sei der älteste Bauteil und das Westportal um Jahrzehnte jünger, fernerhin festzuhalten.

Hat Kunze 1) auf eine Bauführung von West nach Ost etwa deshalb geschlossen, weil einige Säulenkapitelle nahe der Westwand anspruchsloseren Flächenschmuck tragen als die vor und in der Vierung, so hat er nicht berücksichtigt, daß die Gliederung des Westportales, eines der ersten Bauteile also, an Reichhaltigkeit nicht hinter den Ostteilen zurücksteht.

Hase 2) nimmt eine Vermutung für den Bau des Langhauses auf, findet aber keinen Zusammenhang und läßt sie deshalb wieder fallen: „Auffallend am Aeußern (der Kirche) erscheinen die beiden kleineren Fenster des Seitenschiffes nahe dem Kreuzflügel, und in der Länge übereinstimmend damit die Verrückung des Arkadengesimses im Innern. Man könnte hieraus, sowie aus dem Umstande, daß der Bogenfries an dem Seitenschiffe, außer über den genannten kleinen Fenstern gänzlich fehlt, schließen, daß der ursprüngliche Bau vom Anfange des 12. Jahrhunderts teilweise noch in demselben Jahrhundert wieder zerstört und etwa gegen Schluß desselben erneuert wurde, wobei man sowohl die Fenster vergrößerte als auch das Arkadengesims (im Langhause) höher legte, der mittlere Teil der südlichen Seitenschiffmauer mit den fünf größeren Fenstern spricht dafür, dagegen nicht die südliche äußere Mittel-

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1) Kunze: a. a. O. Seite 424.

2) Hase: a. a. O. Seite 103.

 

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schiffmauer, deren Fenster nebst verziertem Bogenfriese in Uebereinstimmung mit denselben Teilen am Chore sind." In den weiteren Ausführungen sieht dann Hase selbst die Haltlosigkeit seines Schlusses ein und läßt die schwierige Frage offen: „Die Verrückung des Arkadengesimses bleibt daher unerklärt oder wenigstens ohne Zusammenhang mit den Veränderungen der äußeren Seitenschiffmauer.“ 1)

Nach Zellers 2) Vermutung soll zwischen den Turmpfeilern früher ein Lettner gestanden haben, dessen Ueberdeckung so hoch lag, daß von ihr aus die Türme betreten werden konnten, denn die jetzigen Zugänge -- durch Luken in den westlichen Querhauswänden - erscheinen ihm so primitiv, daß eine zweckmäßigere Verbindung angenommen werden dürfe. Ueberbleibsel solcher Zugänge ließen sich jetzt nicht mehr feststellen.

Wäre Zellers Annahme richtig, so müßten mindestens noch Spuren ehemaliger Türen -- Wandungen und Stürze -- im Mauerwerk zu finden sein, denn ein Baumeister würde es nicht gewagt haben, unter der großen Last der Türme Türumrahmungen aus dem Mauerwerk zu reißen, um dann die Oeffnungen mit regelmäßigen Quadersteinen wieder zu füllen, nur zu dem alleinigen Zweck, für die Nachwelt alle Spuren zu verwischen. um keinerlei Erwägungen unberücksichtigt zu lassen, habe ich trotzdem die Wand untersucht. Nirgends waren aber Spuren zu finden. (Uebrigens war der Eingang zum Nordturm in der Nordwand und wurde, wie heute auch, vom Oberstock des Kreuzganges aus betreten. Daß die Tür heute durch Herausreißen einiger Mauerquader vergrößert ist, muß entweder dem Hinaufschaffen von Baumaterial oder Glocken nach dem Brande von 1787 oder auch schon dem Umbau von 1512 zugeschrieben werden. Der Zugang zum Südturm führt durch den Nordturm und über den Dachboden). Sollten im übrigen solche Zugänge -- ausgerechnet im Mittelschiff -- von einem Lettner aus wirklich die absonderliche Versetzung des Arkadenfrieses gerade an dieser Stelle rechtfertigen? Sicherlich nicht.

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1) Der mittlere Teil der südlichen Seitenschiffswand ist im Jahre 1696 nach einer dort gefundenen Inschrit von den Fundamenten aus erneuert worden („hic murus ex novo fundamento erectus est 1696"). Dabei hatte man den Teil der alten Wand, der den Turm trägt und ein Stück von der Südwestecke her aus Sicherheitsgründen - wegen der Westwand - stehen lassen.

2) Zeller: a. a. O. Seite 11.

 

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Wie gezeigt worden ist, war die gesamte Ostpartie der Kirche (Altarhaus mit Seitenkapellen, Querhaus, Vierungsarkade und Türme) gemeinsam hochgeführt worden. In der Flucht der Mittelschiffswand hat man vom Turme her nach Westen eine kräftige Verzahnung anstehen lassen, in die später die zu errichtende Arkadenwand eingreifen sollte. Ueber der Turmpfeilerarkade war der entsprechende Teil der für das Mittelschiff gleichhoch vorgesehenen Arkadenumrahmung eingesetzt, also die senkrechten Leisten an Vierungs- und Arkadenpfeilern und genau in der Wagerechten die obere Abschlußleiste. Da der Turm mit seiner Wandstärke über die Mitte des

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-11-Stand-der-Bauarbeiten-beim-Tode-der-Stifterin-1115.jpg

 

Abb. Nr. 11. Stand der Bauarbeiten beim Tode der Stifterin 1115.

 

Arkadenpfeilers nach Westen hinausreicht, war natürlich auch das entsprechende Stück des wagerechten Frieses gleich mit einzusetzen, sodaß also die Gesamtlänge der Abschlußleiste gleich war der Breite des Turmes vom Vierungspfeiler bis zur westlichen Turmaußenkante. (Siehe Abb. Nr. 11 u. 12).

Nach Fertigstellung des Ostteiles bis hierhin schuf man das entsprechende Widerlager im Westen, man führte die Westwand der Kirche so weit wie nötig hoch. 1) Unterdessen waren von

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1) Es erscheint mir notwendig, an dieser Stelle einen Irrtum Holtmeyers richtig zu stellen. In seiner Arbeit über Paulinzella sagt er auf S. 92 u. 93, die Längswände hätten mit dem Westgiebel innige Eckverbindung. Daraus ginge hervor, daß, bevor die Säulen errichtet und die Arkaden geschlagen wurden, die Außenmauern bereits gestanden hätten. Ganz abgesehen davon, daß die schweren Säulenschäfte und das übrige Baumaterial für die Mittelschiffswände dann durch die fertigen Türen hätten geschafft werden müssen, was nicht gut denkbar ist, habe ich feststellen können, daß bei Errichtung einer Wand die Ecke immer mitgemauert wurde, wobei man neben der Ecke eine Verzahnung für die später anzusetzende Wand stehen ließ. Die gute Eckverbindung allein darf nicht Anlaß in unrichtigen, weil unmöglichen, Folgerungen sein.

 

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Ummendorf her 1) die riesigen Säulenschäfte (Monolithe von ca. 4,40 m Höhe und ca. 2,65 m unterem Umfange). Basen und Kapitelle herangebracht worden. An der Innenseite der Westwand wurde der Wandpfeiler für den ersten Arkadenbogen errichtet, der erste Bogenstein in die Wand versetzt und die Friessteine senkrecht hinauf eingegliedert, das Anfangsstück der wagerechten Abschlußleiste ließ man aus der Wand anstehen. Alle Ansätze, sowohl für den Arkadenbogen als auch für die Umrahmungsleiste etc., lotete man genau in der Wagerechten von den Ansätzen an den Türmen zur Westwand herüber. Nach dem Boden zwischen der Westwand und den Türmen durfte man sich nicht richten, da er von Westen nach Osten hin anstieg. Er sollte erst zu gegebener Zeit durch entsprechende Abtragung im Osten in die Horizontale gebracht werden.

Es muß längere Zeit gedauert haben, bis alle Säulen und Kapitelle zur Aufstellung bereit lagen, oder der Baumeister überwachte nicht mehr persönlich diese letzte Arbeit an der Kirche - es wurde von den Hamerslebenern nach 1120 in Kaltenborn und sehr wahrscheinlich auch in Holzzelle gebaut -, denn inzwischen hatte man die beabsichtigt gewesene Abtragung des Bodens vergessen. Als man dann langsam von der Westwand aus Säule um Säule setzte und Bogen um Bogen schlug, kam man, ohne es zunächst zu merken, dem Boden entsprechend immer höher. Erst als man bereits beim vorletzten Bogen vor dem Turm war, merkte man den verhängnisvollen Irrtum und suchte auszugleichen, um Anschluß an die anstehenden Turmteile zu bekommen. Doch es war bereits zu spät, sodaß das Tiefersetzen der letzten zwei Bögen um wenige Zentimeter allein nicht mehr helfen konnte, denn schon waren ja die Bogenzwickel vermauert und das Mauerwerk darüber bereits mit der Arkadenumrahmung hochgeführt. Die wagerechte Anschlußleiste konnte man nicht über den letzten zwei Bögen nach unten biegen. So tat unser Baumeister, was er in einer solchen Lage eben noch tun konnte: er zog den Fries in bisheriger Richtung

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1) Pelizaeus hat, wie oben schon gesagt, in der ganzen Umgebung Hamerslebens nur in Ummendorf den gleichen Stein gefunden.

 

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bis an den Turm fort und setzte hier ein senkrechtes Anschlußstück ein. (Siehe Abb. Nr. 12). Das Stück des Frieses am Turm wagte er wegen der Turmlast nicht zu verändern. Zwar hätte er die wagerechte Leiste abhauen können, er konnte darüber aber keine Steine herausreißen und dafür neue Leistensteine einsetzen.

Einzig und allein dieses Versehen des Baumeisters konnte zu der Absonderlichkeit führen. Der Baubefund bestätigt auf das genaueste meine Annahme. Zellers Längsschnitt durch die Kirche 1) ist ziemlich sorgfältig, sodaß eine Nachprüfung an diesem erfolgen kann. Die beabsichtigt gewesene Bodenhöhe des Langhauses ist an der Westfront abzulesen. Legen wir uns versuchsweise die Wagerechte bis zur Vierung hin, nehmen hier das Maß nach oben bis Oberkante Arkadenfries und übertragen es auf den Ansatz an der Westseite, so finden wir meine Angaben bestätigt. Uebertragen wir an der Stelle des Arkadenpfeilers, wo der Fries absetzt, das Maß von der jetzigen Bodenhöhe zur beabsichtigt gewesenen Wagerechten senkrecht vom Fries nach oben, so treffen wir genau an die Ansatzstelle des zu hoch geführten Teiles. 2)

Damit findet eine Eigentümlichkeit, die seit Jahrzehnten den Kunstfachleuten -- Dehio, Hase, v. Quast, Zeller, Schmidt u. a. -- Anlaß zu den widersprechenden Hypothesen gab, ihre denkbar einfache, weil natürliche, Erklärung.

Bezüglich der Arkadenumrahmung ist ein sachlicher Irrtum Holtmeyers zu berichtigen. Holtmeyer 3) bezeichnet den Paulinzeller Baumeister als Erfinder der Arkadenumrahmung über den Mittelschiffsäulen, die uns an einer Anzahl Bauten der Hirsauer begegnet und für diese Schule geradezu typisch ist. Ueber den Kapitellen beginnend, führen Lisenen in schachbrettartiger Zahnschnittbehandlung an der Mittelschiffswand hoch und münden in einem horizontalen Gesims gleicher Musterung, das sich als dekorativer Abschluß des Arkadensystems durch das ganze Hauptschiff hinzieht.

Holtmeyer setzt irrtümlich voraus, daß Paulinzella älter ist als Hamersleben, und da die Dekoration in beiden Kirchen sich

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1) Zeller: a. a. O. Tafel IV. Figur 1.

2) Genaue Nachprüfungen am Bau haben die Zuverlässigkeit der Zeichnung Zellers ergeben, zu erwähnen wäre nur, daß Zeller die Einzeichnung der Absenker auf die Kapitelle vergaß.

3) Holtmeyer: „Beiträge zur Baugeschichte der Paulinzeller Klosterkirche.“ Diss. 1904, Jena. Seite 161.

 

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genau gleicht, schließt er auf unmittelbare Abhängigkeit Hamerslebens von dem Thüringer Bau. Wenn, wie wir sehen, Hamersleben bereits fertiggestellt ist, während man nach Holtmeyers Angaben noch am Paulinzeller Langhaus arbeitet (1118--1132), dann ist seine Annahme nicht mehr zu halten.

Aber auch Hamersleben hat keinen Anspruch darauf, als erstes Beispiel für diese Dekoration zu gelten. Tatsächlich kommt das Mutterkloster der Hirsauer Bauschule St. Peter und Paul dafür in Frage. Zwar haben die Brandschatzung der Franzosen und später die Unvernunft Baulustiger, die die ansehnliche Ruine als Steinbruch betrachteten, dafür gesorgt, daß nur noch kärgliche Reste auf uns gekommen sind, zum Glück hat sich aber noch eine Zeichnung der Ruine nach dem Zustande von 1702 1) erhalten, die uns die nötigen Aufschlüsse gibt. Die Arkadenumrahmung ist, wie wir uns überzeugen können, bereits angewandt, wenn auch noch als einfachere Mauerstreifen. Da Reste eines Schachbrettfrieses gefunden wurden, liegt möglicherweise ein Irrtum des Zeichners vor.

Hirsau ist also Ausgangspunkt für diese Eigentümlichkeit, die von dortigen Bauschülern in mehreren Variationen in die verschiedensten Gegenden gebracht wird. Nach Breitenau 2), in der Nähe von Kassel, 1113 gegründet und 1119 mit Mönchen von Hirsau direkt besiedelt, kommt sie bereits teils als Schachbrettmuster, teils als Tier- und Pflanzenornament. (Es sei bei dieser Gelegenheit auf die Anklänge der Tierdarstellungen zwischen Breitenau, Riechenberg (Krypta), Hamersleben hingewiesen.)

Die Wand des Oberlichtgadens ist nicht mit der Arkadenübermauerung zugleich in ihrer vollen Höhe errichtet worden. Der obere Teil mit den Fenstern folgte erst, als über den Arkaden die Verbindung der Westwand mit dem Turm hergestellt war. Das ist außer an den Fugen auch schon daran zu erkennen, daß die Sohlbänke der Mittelschiffsfenster die Wagerechte wieder einhalten. Es haben sieben Fenster Platz gefunden und zwar jedes senkrecht über dem Scheitel der Arkadenbogens. Ihr Kopfstück besteht aus je einem großen Quader, aus dem der Rundbogen

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1) Hans Christ: „Romanische Kirchen in Schwaben und Neckarfranken" Bd. I. Stuttgart 1925.

2) Stock in: „Die mittelalterlichen Baudenkmäler Niedersachsens", herausgegeben vom Architekten- und Ingenieurverein Hannover. Bd. I. Hannover 1861 Seite 117, ferner Trithemius: „Chronicon Hirsaugiense“ zum Jahre 1119.

 

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Abb. Nr. 12. Hauptschiff gegen NO

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gehauen ist. Das ist eine Eigentümlichkeit, der wir auch an einem anderen Bau der gleichen Schule begegnen (Paulinzella, Seitenschiff) 1). Soweit es die Hamerslebener Steinmetzen vermeiden konnten, Bögen aus Keilsteinen zu wölben, haben sie es getan. Diejenigen Fenster der Hamerslebener Kirche, die in späterer Zeit eingesetzt wurden, und zwar sowohl die romanischen als auch die in gotischer Form. sind alle gewölbt, mit Ausnahme der kleinen an der erneuerten Südkapelle vom Jahre 1887. Ueber den Kopfstücken der Fenster liegt noch eine Schicht regelmäßiger Mauerquader, dann folgen die Steine des Rundbogenfrieses, die das ausladende, mit Palmetten verzierte Dachgesims tragen. (Siehe Abbildung Nr. 13).- In Paulinzella sitzt der Rund-

 

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Abb. Nr. 13. Rundbogenfries und Dachgesims.

 

bogenfries direkt über den Fensterkopfsteinen. Die Konsolbildung ist in Hamersleben anders als in Paulinzella, das Dachgesims beider Kirchen unterscheidet sich erheblich. - Wie das Altar- und und das Querhaus, so haben auch das Mittelschiff und die beiden Seitenschiffe wagerechte Balkendecke.

Vor 1680, vermutlich schon beim Umbau im Jahre 1512 2), erhielten sämtliche Schiffe einschließlich Vierung und Altarhaus hölzerne Kreuzgewölbe, die die Stilreinheit des Baues auf das stärkste beeinträchtigten. Glücklicherweise wurden diese Attrappen bei der Restaurierung im Jahre 1856 aus Mittelschiff, Seitenschiffen und Querhausflügeln 3) wieder entfernt, leider tat man es nicht

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1) Holtmeyer: a. a. O. Seite 94 mit Zeichnung.

2) Daß sie vor Errichtung des Hochaltars, also vor 1680 eingezogen wurden, geht daraus hervor, daß die Aufsatzgruppe des Altars nach dem Gewölbe komponiert ist und dieses an drei Stellen berührt. Auch der Orgelprospekt hat sich danach gerichtet. Er hat eine ähnliche Aufsatzgruppierung.

3) Akten beim Hochbauamt 2 in Halberstadt.

 

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in Vierung und Altarhaus, wo sie noch heute sitzen. Die Konsolsteine, die das Holzgewölbe trugen, ließ man nach dessen Entfernung überall in der Wand sitzen. Diejenigen des Mittelschiffes, in Sohlbankhöhe der Fenster, tragen heute Apostelfiguren aus der Zeit des Hochaltars. Vor 1856 hatten die Figuren ihren Platz auf den Säulenabaken vor den Absenkern der Arkadenumrahmung. Man hatte zu diesem Zweck die Umrahmung zu einem Teil abgeschlagen, sodaß sie im Jahre 1856 mit Stuck wieder geflickt werden mußte.

Die beiden Seitenschiffe haben genau halbe Höhe des Mittelschiffes. Das nördliche weist keinerlei Besonderheiten auf. Da es am Kreuzgang liegt, hat es keine Fenster nach Norden. Aus demselben Grunde erhielt es auch keinen Bogenfries und kein Dachgesims. Sein Dach ist zugleich das des doppelgeschossigen Kreuzganges.

Von Westen her führt eine rechtwinkliche Tür als Nebeneingang in das nördliche Schiff. Die West- und die gesamte Seitenwand sind alt. Sie haben nur zwei spätere unbedeutende Aenderungen erfahren: In der Westwand über der Tür wurde ein Bogenfenster eingebrochen (die Wandungen haben keine Einbindung mit der Mauer, der Bogen ist aus Keilsteinen gewölbt), und die Seitenwand erhielt - vermutlich 1512 - eine gotische Spitzbogentür vom Kreuzgange her, die aber im Jahre 1856 wieder vermauert wurde.

Das südliche Seitenschiff ist, da freiliegend und Schauseite, reicher ausgestattet. Leider hat es im Jahre 1696 1) einen erheblichen Umbau erfahren, doch hat man damals nur den mittleren Teil zu verändern gewagt. Unter dem Turm und an der Südwestecke ließ man aus Sicherheitsgründen die alte Mauer stehen, sodaß wir heute noch in der Lage sind, uns ein genaues Bild des ursprünglichen Zustandes zu machen. Das Schiff enthielt keine Tür von Süden her. Die Wand war nur von 8 kleinen Fenstern gleicher Größe durchbrochen. Zwei davon sitzen noch unter dem Turm, ein weiteres ist in der Nähe der Westecke. Die 5 der neuen Wand wurden größer angelegt. Man könnte versucht sein anzunehmen, daß der Umbau nur deshalb erfolgt sei, um mehr Licht im Innern zu bekommen. Daß aber die Wand nach der In-

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1) Auf die an der Wand gefundene Inschrift mit der Jahreszahl ist weiter oben schon hingewiesen worden.

 

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schrift (ex novo fundamento. . .) von Grund aus erneuert wurde, läßt darauf schließen, daß das Mauerwerk schlecht war oder gewichen sein mußte. Wohl war es in erster Linie das Weichen, denn vor der Wand lag der Friedhof, und durch das Ausheben der Gräber wurde sie gefährdet. Eine gleiche Erscheinung kennen wir von Hildesheim her.

Ueber den Kopfstücken der Fenster zog sich vom Querhaus zur Westecke ein Rundbogenfries mit Konsolen hin und darüber ein Dachgesims mit Flechtornament. In die neue Wand setzte man den Rundbogenfries nicht mehr, dagegen fand das alte Dachgesims wieder Verwendung.

Die Tür, durch die man heute von Süden her eintritt, ist erst nach 1804 gebrochen worden. Im Jahre 1856 erhielt sie ein Bogenfeld mit zwei Basilisken (Siehe Abbildung Nr. 6), das bis dahin in dem heute vermauerten Eingang zur nördlichen Seitenkapelle saß. 1)


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Ein Stück reichprofilierten Wandsockels der alten Mauer zwischen Tür und Westecke läßt erkennen, daß auch der erneuerte Wandteil vorher einen solchen hatte. An seine Stelle setzte man einen einfach abgeschrägten, dessen Bearbeitung Mangel an Sorgfalt zeigt. Das Stück des alten Sockels unter dem Turm hat man dementsprechend abgehauen.

Das Pultdach des südlichen Seitenschiffes sitzt in Höhe der Fenstersohlbänke an der Mittelschiffswand.

Ueber die ursprüngliche Holzkonstruktion des Daches und die Bedeckung läßt sich heute nichts Genaues mehr feststellen. Es darf als sicher angenommen werden, daß im Laufe der Jahrhunderte Auswechselungen und Umdeckungen notwendig waren. Heute ist die Kirche mit Schiefer gedeckt. Dieses Material scheint auch ursprünglich verwendet gewesen zu sein. Bei meinen Grabungen fand ich alte, grobe Schieferplattenreste in größerer Menge, während Reste gebrannter Ziegeln (Fuchsschwänze o. ä.) nicht zum Vorschein kamen. Da Schiefer in der näheren Umgebung nicht vorkommt, könnte er vom Nordrand des Harzes herangeschafft worden sein.

Der kleine Dachreiter, der sich heute über der Vierung vom First des Langhausdaches erhebt, war vor 1856 nicht vorhanden. 2)

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1) Baubericht beim Hochbauamt II Halberstadt.

2) Entwurf und Werkzeichnungen beim Hochbauamt II Halberstadt.

 

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Von den alten Glasfenstern hat sich nichts erhalten. Am 9. August 1548 1) wurde das Kloster von den Magdeburgern überfallen, weil es Herzog Heinrich dem Jüngeren von Braunschweig und seinen Reitern Unterkunft gewährt hatte. Dabei wurde alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war, und die Fensterverglasung zerstört. Die heutigen Fenster wurden im Jahre 1905 eingesetzt.

Eines Baugliedes ist noch zu gedenken, das heute nicht mehr seiner früheren Bestimmung dient. Es handelt sich um eine Nischenwand, die jetzt im südlichen Querhausflügel an der Westwand ihren Platz hat (siehe Abbildung Nr. 8, im Hintergrund).


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Einfügung: Nischenwand im südlichen Querhaus


Bis zum Jahre 1887 saß sie zwischen den Pfeilern der nördlichen Seitenkapelle, mit der Schauseite nach dem Querhause zu. Vom Fußboden aus war 2,30 m hoch saubergeschichtetes Quadermauerwerk aufgeführt. Darauf saß die 3,30 m hohe Arkatur, die bis zum Pfeilergesims reichte. Darüber folgte wieder einfaches Mauerwerk, das den ganzen Kapellenbogen verschloß. Im Jahre 1887 war der Gedanke aufgetaucht, die Arkatur zu einem Hochaltar zu verwenden. Glücklicherweise stand man doch davon ab.

Aus dem Abschluß links und rechts ist zu ersehen, daß die Wand von vornherein als Kapellenvermauerung gedacht war und nicht etwa erst später von anderer Stelle dorthin gelangte. Die Verkröpfung des Kämpfers über der Säule mit dem Pfeiler dahinter ist das gleiche Motiv, das wir am Doppelportal der Westwand finden. Dem besonderen Charakter als Schauwand an weithin sichtbarer Stelle entsprechend ist die Gliederung etwas reicher, doch verrät die ganze Auffassung etwa die gleiche Zeit wie das Westportal. Quast 2) datiert die Wand später. Er läßt sich hier von Paulinzella und Thalbürgel irreleiten. Was den Baumeister veranlaßt haben mag, diese Wand -- vermutlich noch während des Bauens -- in die bereits fertige Kapellenöffnung zu setzen, ist schwer zu sagen. Es bestehen zwei Möglichkeiten: entweder man wollte den Stifterinnen und ihrer weiblichen Umgebung Gelegenheit schaffen, schon während des Bauens, von den Mönchen getrennt, am Gottesdienst teilzunehmen, oder die Stifterinnen wurden in der

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1) Ausführlicher Bericht eines Klosterinsassen bei Schmidt: Bau- und Kunstdenkmäler d. Kr. Oschersleben. Seite 112.

2) v. Quast: Zeitschrift für christliche Archäologie und Kunst. Band 2. 1858. Seite 80.

 

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Nordkapelle beigesetzt, da beim Tode der Mechtildis im Jahre 1115 erst die Ostpartie und die Hälfte der Westwand errichtet waren, somit ihre heutige Grabstätte in der Vierung vollkommen im Freien zwischen Bausteinen und Schutt hätte liegen müssen.

Im Ornament scheint der Baumeister den persönlichen Neigungen und seitherigen Gewohnheiten der einzelnen Steinmetzen weiten Spielraum gelassen zu haben. Die Technik der Steinbearbeitung und der Unterschied im Phantasiereichtum lassen auf mehrere Steinmetzmeister schließen.


tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Wuerfelkapitell-mit-Halbkreisverzierung-IMG-4552-small.jpg

Einfügung: Würfelkapitell mit Halbkreisverzierung


So finden wir ganz einfache Kapitelle mit der Halbkreisverzierung und kleinen Zungen an den Kreisbogenenden, wie wir sie von Hirsau selber und von anderen Hirsauer Bauten her kennen, zwischen reich verzierten, hochreliefartig bearbeiteten. 1)


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Einfügung: reich verziertes Würfelkapitell


Die schönsten Kapitelle brachte man in die Nähe der Vierung, doch ist die Steigerung vom Einfachen zum Reicheren von Westen her nicht konsequent durchgeführt. Grundsätzlich ist beim Kapitell die Würfelform beibehalten, wie man auch an der attischen Basis mit Eckblättern festhält.

Die beiden Arkadensäulen über den Chorschranken bedürfen besonderer Beachtung, da gerade ihr Ornament zuweilen Veran-

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1) Die Behandlung des Kämpfergesimses dagegen war an eine bestimmte Norm gebunden. Bei aller Verschiedenheit der Würfelornamentik ist doch stets für das Kämpferprofil die gleiche Schablone verwendet (umgekehrte attische Basis). Auffällig ist, daß dasselbe Kämpferprofil auch in Paulinzella auftritt, doch berechtigt das nicht dazu, auf unmittelbare Uebernahme, bezw. den gleichen Steinmetzen zu schließen; Breitenau hat an einem Pfeiler der Hauptapsis genau das gleiche. Die einheitlichen Profilschablonen scheinen demnach aus der Hirsauer Schule selbst zu stammen, da auch in Alpirsbach an gleicher Stelle die gleiche Schablone verwendet wird. Uebrigens tritt, soweit ich habe feststellen können, dieses Kämpferprofil in Alpirsbach zuerst auf. Wenn die Angabe Christs (Hans Christ: „Romanische Kirchen in Schwaben und Neckar-Franken” I, Stuttgart 1925), „Mitwirkung oberitalienischer Steinmetzen“ verbürgt ist, könnten diese es gewesen sein, die der Profilschablone als Norm in Alpirsbach und Hirsau Eingang verschafften, in Hirsau ist sie am unteren Gurtgesims des Westturmes von St. Peter u. Paul nachweisbar. Zu gleicher Zeit (kurz nach 1100) gelangt sie in das von Alpirsbach abhängige Altstadt-Rottweil als Kämpferprofil der Pfeiler. Man begegnet ihr dann häufig, sowohl in Nord- als auch in Südwestdeutschland. Zuvor war mehr die Schmiege unter der Kämpferplatte in Gebrauch.

Bei dieser Gelegenheit sei auf die Uebereinstimmung der Säulenproportionen Alpirsbach-Hamersleben aufmerksam gemacht. Auch Schaffhausen (zweites Münster, vollendet 1103) zeigt ganz ähnliche Maßverhältnisse, allerdings bei Verschiedenheit der Basen- und Kämpfergestaltung.

 

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lassung gab, die Kirche zu spät zu datieren, bezw. einen späteren Einbau der Vierungsarkade anzunehmen. Viel feingliedriger und reicher durchbrochen als die übrige Ornamentik der Kirche (siehe Abb. 15), kann sie unmöglich zur Zeit der Errichtung des Baues entstanden sein. Auffällig ist ja schon, daß nur der Säulenfuß über der südlichen Schrankenwand die Verzierung aufweist, während der über der nördlichen Wand völlig schmucklos blieb, also mit den Schiffssäulen übereinstimmt. Vergleicht man aber das Säulenornament mit dem der Stuckfriese unter und über den Aposteln an der nördlichen Außenseite der Schranke, so muß jeder Zweifel weichen. Die Stuckarbeit, von der weiter unten zu sprechen ist, wird etwa um 1200 entstanden sein. Zu dieser Zeit, wenn nicht vom gleichen Meister, sind beide Kapitelle überarbeitet und der eine Säulenfuß mit Ornament überzogen worden.


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Einfügung: Säulenfuß der südlichen Arkadensäule auf der Chorschranke und Palmettengesims


Zu erwähnen ist, daß das einfache Palmettengesims am Säulenstuhl in Höhe der Schrankenoberkante der ersten Bauzeit angehört. Das unmittelbare Nebeneinander so starker Verschiedenheiten in Form und Bearbeitung veranschaulicht gut den zeitlichen Abstand.

Die beiden Arkadenkapitelle haben gleiches Motiv: an den Ecken des Würfels stehen Engel mit gebreiteten Flügeln. In der Mitte jeder Kapitellseite befindet sich ein von diesen Engeln gehaltenes Medaillon, das den Kirchenheiligen St. Pancratius mit der Palme -- wie das Siegel des Klosters -- zeigt. 1) (Siehe Abb. Nr. 8).


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Kirchenheiliger St. Pancratius mit der Palme im Medaillon des Kapitells


Allgemein ist zur Entwickelung des Würfelkapitells folgendes zu sagen: Es ist durchaus nicht richtig, daß die Durchbildung des Würfelkapitells auf sächsischem Boden erfolgt, um von hier aus in andere Gegenden Deutschlands zu gelangen, wie immer wieder behauptet wird. Richtig ist, daß in Südwestdeutschland wie in Mitteldeutschland die Würfelform früher erscheint als in Sachsen.

Im Zeitraum vom achten bis ins zehnte Jahrhundert war die Kapitellform allmählich zur mißverstandenen Nachahmung dieses antiken Architekturteiles zurückgegangen. Das ist verständlich, wenn man bedenkt, daß die Säule, für ganz andere klimatische Verhältnisse gedacht, als fremdes Bauelement nach dem Norden gekommen war. Selbst in Italien, von wo aus Karl d. Gr. es zu uns übertrug, hatte es nicht mehr die klassische Form. Bodenständige und byzan-

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1) Zeller (a. a. O. Seite 11) vermutet in den dargestellten Personen auch Märtyrer, kommt aber nicht auf Pankratius. Sicher hat er das Klostersiegel nicht gekannt.

 

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tinische Weiterbildungen hatten sich längst ausgewirkt. In Deutschland wird zwar an der Verwendung des Kapitells als Ueberleitung vom Säulenschaft zur Wand- oder Bogenwölbung fast ausnahmslos festgehalten. Für die feine Symbolik des antiken Kapitellornamentes aber hat man das erforderliche Verständnis nicht. Man bildet nach aus der Erinnerung an Gesehenes. Die Erinnerung jedoch wird schwächer und schwächer. Wie weit man im 10. Jahrhundert vom klassischen Vorbild entfernt war, kann uns ein Kapitell der Wipertikrypta in Quedlinburg zeigen. Während das ionische Kapitell als Prellpunkt zweier gegeneinander wirkender Kräfte -- Stütze und Last -- mit weichem Kissen den Architrav auffing und den Druck in die Kissenzipfel, die Voluten, ableitete, also die Wucht des Druckes sinnfällig

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-14-Kapitelle.jpg

 

Abb. Nr. 14. Kapitelle.

 

machte und gleichzeitig für Ausgleich und Beruhigung sorgte, trifft in Quedlinburg Last und Stütze unvermittelt aufeinander. Der auffangende Pfühl fehlt, aus den ableitenden Voluten sind seitlich angebrachte, unmotivierte Anhängsel, Papierrollen gleich, geworden. Die Folge solcher Abgleitungen war: man fing gewissermaßen mit der Kapitellgestaltung von vorne an, ging also zur einfachsten Zweckform über. So kam man in dem Bestreben, nichts weiter als eine einfache Ueberleitung aus dem runden Säulenschaft zur quadratischen Deckplatte zu schaffen, geradezu von selbst zur Würfelform.

Fast gleichzeitig mit dem erwähnten Quedlinburger Kapitell tritt bereits an der Abteikirche in Essen die einfache Würfelform auf. Sie führt sich rasch ein. Um und nach 1000 wird sie vielerorts verwendet.

 

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Sie findet auch bei den Hirsauern Eingang und erhält allmählich geringe Flächenverzierung. (Siehe Abbildung Nr. 14). Langsam geht man zum Pflanzenornament über, bis schließlich Tiere und Menschen auftreten. Das Fortschreiten der Entwickelung ist in vielen Gegenden gleichzeitig zu beobachten. Auf welche direkten Einflüsse die Tiermotive in Hamersleben, Riechenberg, Breitenau u. a. zurückzuführen sind, kann schwer gesagt werden. In Frankreich werden sie um 1100 auch verwandt.

Daß die Ornamentik der Hirsauer aber auf Cluny zurückgeht, muß bezweifelt werden. Wäre es der Fall, so hätte zweifellos Abt Wilhelm von Hirsau, der sich in allen anderen Fragen streng an das clunyazensische Vorbild hielt, den plastischen Schmuck auch in Hirsau selbst angewandt. Dort ist aber, mit Ausnahme des nach Wilhelms Tod entstandenen Westturmes, nichts dergleichen gefunden worden. Auch Schaffhausen - zweites Münster -, das von Hirsau direkt abhängig ist und unter persönlichem Einfluß Wilhelms begonnen wurde, hat keine Kapitell-Ornamentik. (Die Bogenfeldplastiken und Ornamentfriese der Nebenbauten entstammen nachweislich der Zeit nach 1103). Alpirsbach, fast gleichzeitig von Hirsauern erbaut, zeigt nur an der letzten Säule nach der Vierung zu etwas Ornament am Würfelkapitell. Diese Säule war aber, wie aus dem Bauverlauf von Hamersleben und Paulinzella zu ersehen ist, stets die zuletzt gesetzte.

Wenn hiernach Cluny als Vorbild nicht gut in Frage kommen kann, so rückt der Gedanke näher, daß das Ornament kurz nach Wilhelms Tode von Oberitalien her nach Hirsau gebracht worden sein könnte. Diese Ansicht hat in der Tat in letzter Zeit sehr an Boden gewonnen. Demnach hätte das gleichzeitige burgundische und süddeutsche Ornament gleichen, nämlich oberitalienischen Ursprung. Nach Christ (s. Seite 45, Anmerk. 1) ist für Alpirsbach die Mitarbeit lombardischer Steinmetzen verbürgt. In Quedlinburg muß für das Ornament der Stiftskirche (1070-1129) auf St. Abondio in Como geschlossen werden. Das gleiche hat für Kloster Gröningen um 1100 zu gelten. Nach Regensburg werden 1138 Steinmetzen zum Bau eines Klosters des hl. Magnus aus Como geholt. Königslutter schließt nach 1135 direkt an Verona und Ferrara an. (Siehe Exkurs II). Wenn in Betracht gezogen wird, daß, wie in Wilhelms Zeiten, auch nachher die geistigen Urheber der Kirchen- und Klosterpläne die Aebte meist selbst waren,

 

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wird dem Hinweis auf die Tatsache besondere Wichtigkeit beizumessen sein, daß Gebhard von Hirsau, Wilhelms Nachfolger, kurz vor dessen Tod in Italien war, um vom Papst Reliquien für die zu weihende Hirsauer Peterskirche zu erbitten. Er hatte also Gelegenheit, italienische Kirchen zu sehen und mit Steinmetzmeistern bekannt zu werden. Bei seiner Rückkehr -- von Italien war er noch nach Cluny gereist -- traf er seinen Abt nicht mehr lebend an. Wenn Gebhard den Wunsch hatte, reicheres Ornament in der Bauschule seines Heimatklosters einzuführen, so stieß er nicht auf den Widerstand des strengen, die Einfachheit liebenden Abtes Wilhelm.

An der Chorschranke in Hamersleben befinden sich Stuckreliefs, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Früher waren alle Außenseiten der Chorschranken damit versehen. Nur ein Teil an der nördlichen Schrankenwand ist erhalten geblieben. Drei Apostel sind sitzend dargestellt und im Rechteck umrahmt. Darüber und darunter ziehen sich Palmettenfriese hin. Man wird sie ohne Bedenken der Zeit um 1200 zuschreiben können. (Siehe Abb. Nr. 8). Aehnliche Stuckdarstellungen tragen die Chorschranken der Liebfrauenkirche in Halberstadt, vielleicht von gleicher Hand, doch scheinen die Hamerslebener die späteren zu sein. v. Quast 1) geht sogar noch weiter und rechnet auch die Reliefs in St. Michael in Hildesheim demselben Meister zu, was ich wegen der großen Unterschiede in Auffassung und Technik aber für ausgeschlossen halte.

Ein schwieriges, aber äußerst interessantes Problem ist das der ursprünglichen Westfront. So oft die Hamerslebener Klosterkirche eingehender Betrachtung gewürdigt wurde, trat die Frage nach dem früheren Zustand der Westseite und etwaiger westlicher Vorbauten hervor. Immer aber kam man nur zu bloßen Vermutungen, die häufig gar nicht durch eigene Untersuchungen an Ort und Stelle zu stützen versucht wurden. Diejenigen aber, die den allerdings geringen Anhaltspunkten ernstlich nachgingen, wußten die Bruchstücke nicht für den Schluß auf die einzig mögliche und somit richtige Beantwortung zu verwenden. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurden vor der Westfront zu wiederholten Malen umfangreiche Nachgrabungen veranstaltet, die

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1) v. Quast: a. a. O. Seite 79.

 

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ohne jedes Ergebnis verliefen. Die letzten Grabungen im Jahre 1927 unter Zellers Leitung endigten damit, daß wiederum keine Spur gefunden wurde 1). Da Zeller in Hamersleben eine Vorkirche in den Ausmaßen der Paulinzeller vermutete 2), ließ er vom vermauerten Doppelportal ab -- nicht weit neben den später von mir bloßgelegten Fundamenten -- einen tiefen Graben nach Westen hin ausheben, der an der Stelle, wo die Türme gestanden haben müßten, nach Norden abbiegt. Wie Zeller selbst sagt, wurden nur Knochenreste 3) und Bauschutt gefunden. Weshalb er übrigens den Graben in westlicher Richtung hin direkt vor der Türöffnung und nicht neben ihr ansetzte, ist mir nicht klar geworden. Wenn die Fundamente der Vorkirchenschiffswand zu finden waren, so konnten sie niemals in der bezeichneten Flucht liegen. Einmal hätte dann die Vorkirchenwand beinahe in der Mitte der Tür an die Westwand stoßen müssen, zum andern hätten die Wandpfeiler der Nonnenempore außerhalb der Wand gesessen. Eine etwa vorhandene Vorkirche mußte nach den Anhaltspunkten unbedingt Mittelschiffsbreite haben. Damit fand der Schub der Mittelschiffswand zugleich besseres Widerlager. Es muß schon hier erwähnt werden, daß das spätere Weichen der ganzen Westwand von den Mittelschiffswänden kein Zufall ist. Oben klafft ein Spalt von 15 cm, und die Keilsteine des westlichen Arkadenbogens sind nach unten gerutscht. Im Jahre 1895 4) mußte man an die Außenseite zwei kräftige Strebepfeiler setzen, um einen Einsturz zu verhüten.

Zeller glaubt, daß wahrscheinlich, wenn überhaupt nach Westen noch Vorbauten begonnen wurden oder vorhanden waren, sie schon beim Neubau der anstoßenden Kloster- und Wirtschaftsgebäude entfernt wurden. Er sagt wörtlich: „Daß sie mindestens geplant waren, geht aus der Verzahnung hervor, die vor der Quaderwand des süd-

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1) Zeller: a. a. O. Seite 46.

2) Er hielt sich an die völlig unbewiesene Ueberlieferung, die Paulinzeller Kirche sei das Vorbild der Hamerslebener und deshalb müsse letztere jünger sein.

3) Zellers Vermutung, das Gelände müsse früher Friedhof gewesen sein, trifft zu. Im Jahre 1721 wurde bei Streitigkeiten zwischen der evangelischen und der katholischen Gemeinde von der Regierung entschieden: Die Katholiken werden auf dem Klosterhof, die Evangelischen auf dem evangelischen Friedhof beerdigt.

4) Nicht 1853, wie Zeller (Seite 10) berichtet. Akten und Zeichnungen dazu liegen beim Hochbauamt II Halberstadt.

 

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lichen Seitenschiffes nach Westen noch ansteht.“ Das ist ein Irrtum. Richtig ist zwar, daß an der bezeichneten Quaderwand ein Stein vorsteht. Es handelt sich aber nicht um eine Verzahnung. Der Stein sitzt vom Sockel aus in einer Höhe von 2,40 m, er hat einen Querschnitt von 40 mal 40 cm und ragt 55 cm weit aus der Wand. Von der Südwestecke des Seitenschiffes ist er 1,40 m entfernt.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-15-Eingang-der-Nonnen-in-der-Westwand-des-suedlichen-Seitenschiffes.jpg

 

Abb. Nr. 15. Eingang der Nonnen in der Westwand des südl. Seitenschiffes.

 

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Einfuegung-Hamersleben-Eingang-der-Nonnen-in-der-Westwand-des-suedlichen-Seitenschiffs-IMG-5191.jpg

 

Wie meine Abbildung zeigt (Abb. Nr. 15), handelt es sich um einen Podeststein, der unter einer vermauerten Tür sitzt. Diese Tür, die für die weiteren Untersuchungen von großer Wichtigkeit ist, wurde bis jetzt nicht gesehen, und auch Zeller fand sie nicht. Sie hat eine Höhe von 2,00 m und eine Breite von 1,00 m. Die Wandungen bestehen aus schweren Quadern mit nach der Oeffnung zu abgeschrägten -- gebrochenen -- Kanten. Der schwere Türsturz schließt die Tür rechtwinklig ab und ist oben rund. Zu dem erwähnten Podeststein unten rechts neben der Tür gehört ein zweiter, unten links, mit gleichem Querschnitt, der aber abgeschlagen ist. Die Vermauerung besteht aus kleinen, unregelmäßigen Steinen, deren Mörtel gleiche Beschaffenheit wie der des oben in der Westwand vor dem Mittelschiff sitzenden gotischen Fensters zeigt -- wenig Kalk und grobkörniger, weißlichroter Sand --. Daß das Vermauern der Tür und das Einsetzen des Fensters demnach zeitlich zusammenliegen müssen, ist kein Zufall, wie wir sehen werden.

 

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Hase 1) glaubte vor der Westwand ursprüngliche Türme annehmen zu dürfen, „da in dem westlichen Giebel die Reste eines großen Rundbogens noch in dem rohen Mauerwerk hervortreten, der wie bei vielen gleichzeitigen Kirchen Niedersachsens (Königslutter, St. Godehard etc.) zwischen den beiden Westtürmen in einem zweiten Geschosse eine Halle dem Innern der Kirche zu geöffnet zu haben scheint. Wären die Türme nicht ausgeführt gewesen, so hätte ein solcher Bogen nicht existieren können, da kein genügendes Widerlager vorhanden gewesen wäre, derselbe hätte auch keine Bedeutung gehabt". Ihm unterlief hier ein Irrtum. Die beiden Bogenansätze ergeben keinen hohen Schwibbogen. Die Zeichnung, die er seiner Arbeit anhängt, ist in diesem Punkt unrichtig und irreführend 2). Er führt den Bogen höher als er in Wirklichkeit noch vorhanden ist und legt ihn außerdem als Halbkreis an. Wäre der Bogen tatsächlich so geplant oder ausgeführt worden, dann wäre allerdings von den Seitenschiffswänden her ein kräftiges Widerlager nötig gewesen, von dem aber keine Spur zu sehen ist. Nehmen wir mit Hase an, als Widerlager hätten zwei Türme gedient, so müßten aus der Westwand zwischen Haupt- und Seitenschiffen sowohl, als auch an der äußeren Ecke der Seitenschiffswand kräftige Verzahnungen anstehen. Man könnte einwerfen, daß durch die im Jahre 1895 vorgesetzten Strebepfeiler die Ansätze unsichtbar wurden. Das dürfte aber nur für die Stelle in der Flucht der Mittelschiffswände gelten. Die Spuren an den Seitenschiffsecken müßten noch vorhanden sein, denn hier haben wir es mit ältestem Mauerwerk zu tun, das man auch dann -- am südlichen Schiff -- nicht niederzulegen wagte, als man im Jahre 1696 ein großes Stück der Schiffswand vom Fundament aus neu errichtete. An der Ecke ist aber nichts weiter zu finden als ein tadellos eingebundenes Eckmauerwerk. Der Sockel liegt unversehrt und zeigt nicht die geringsten Ansatzspuren nach Westen.

Nach meinen genauen Messungen an Ort und Stelle war nicht ein großer Bogen, der über das ganze Mittelschiff reichen sollte, angelegt, es waren vielmehr deren zwei vorgesehen, die in der Mitte der Schiffsbreite auf einem Pfeiler ruhen sollten, der Pfeiler hätte also genau senkrecht über dem Mittelpfeiler des Doppel-

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1) Hase: a. a. O. Seite 102.

2) Hase: a. a. O. Tafel 21, Westansicht.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-16-Ansicht-von-Westen.jpg

 

Abb. Nr. 16. Ansicht von W.

 

Rekonstruktionen der Emporenarkade

a) Hase: großer Bogen (punktiert)

b) Zeller: 5 klein: Bögen (punktiert)

c) Doppelarkade, wie sie die vorhandene Spur ergab (gezogene Linien).

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Teilansicht-von-Westen-IMG-4906-small.jpg

Einfügung: Teilansicht von Westen

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portales sitzen müssen. Er hätte etwa dessen (Querschnitt aufgewiesen. Haben meine Untersuchungen an dieser Tatsache nicht den leisesten Zweifel aufkommen lassen, so sei hier doch noch auf die Möglichkeit einer Nachprüfung an Hand der Abbildung (siehe Abbildung Nr. 16) hingewiesen. Die Aufnahme zeigt neben den Strebepfeilern deutlich die Quaderfugen der seitlichen Bogenpfeiler. Bis zur Höhe des auf der Innenseite auskragenden und mit schönem Palmettenschmuck versehenen Kämpfergesimses liegen die Fugen sämtlich wagerecht. Von hier aus beginnen die Keilsteine des Bogens. Die Fugen der Keilsteine zeigen uns aber deutlich, wo der Kreismittelpunkt in Kämpferhöhe zu finden ist. Wir brauchen sie nur zu verlängern, bis sie sich schneiden. Die Probe ergibt folgerichtig einen Schnittpunkt in Gesimshöhe. Mit dem nun gefundenen Halbmesser -- Mittelpunkt bis Innenkante Bogenpfeiler -- schlagen wir einen Kreisbogen, der an der einen Fensterrippe des gotischen Fensters endigen wird. Suchen wir auf der anderen Seite den gleichen Mittelpunkt und schlagen denselben Kreisbogen, so kommen wir an die andere Fensterrippe. Der Mittelpfeiler mußte also mindestens so breit wie das Mittelfeld des Fensters sein und sollte, nach den Seitenpfeilern zu urteilen, ein gleiches, oben ausladendes Gesims erhalten. Machen wir nun eine Gegenprobe: nach Hase soll es sich um einen einzigen Bogen handeln. Hiernach müßte der Kreismittelpunkt in Kämpferhöhe und in der Mitte des Fensters liegen. Zunächst laufen die Keilsteinfugen dann sehr weit neben den Mittelpunkt. Versuchen wir aber, den Kreisbogen zu schlagen, so geht dieser so steil an, daß wir bereits vom zweiten Keilstein ein erhebliches Stück wegschneiden. Ein Bogen kann es also auf keinen Fall gewesen sein. Machen wir den Versuch mit drei und mehr Bögen, so finden wir, daß bereits der zweite Keilstein außerhalb der Bogenlinie zu liegen kommt, ganz abgesehen davon, daß die Fugen neben die Mitte laufen. Es ist einfach unmöglich, etwas anderes als zwei Bögen hinein zu konstruieren. Nach der Höhe der Arkade läßt sich ziemlich genau die Höhe der geplanten Vorkirche ermitteln. Sie kann nur um weniges niedriger gedacht gewesen sein als das Mittelschiff, hätte also, der Höhe nach, in gleichem Verhältnis zur Hauptkirche stehen müssen wie Paulinzella.

 

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Unerfindlich ist die Stellungnahme Zellers 1) zu dieser Frage. Er sagt: „Hases Angabe ist unrichtig, daß die Reste eines großen Rundbogens noch in dem rohen Mauerwerk der Westseite hervortreten. Solche Ansätze sind jetzt nicht mehr sichtbar, sondern nur die seitlichen Leibungen ehemaliger Arkaden in der inneren Westseite." Hat Zeller an der Außenwand gar nichts entdeckt? Und doch sind die Reste auch auf der Photographie so deutlich erkennbar, daß zweifelsfreie Messungen vorgenommen werden können.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-17-Nonnenempore.jpg

 

Abb. Nr. 17. Nonnenempore.

a) Arkadenpfeiler. b) Brüstung.

 

 

Zeller nahm auf der Innenseite die beiden Arkadenpfeiler mit Basis und Kämpfer sowie das Brüstungsgesims der Nonnenempore genau auf und gibt uns so ein Bild von der schönen Gliederung dieser Bauteile 2). In seiner Arbeit schlägt er bei Fig. 5 vom Pfeiler zur Schiffsmitte zweieinhalb Arkadenbögen, rekonstruiert also, weil er keine Anhaltspunkte fand, fünf Arkadenbögen in die Westwand, wohl nur, um Aehnlichkeit mit Paulinzella zu erzielen.

Quast 3) schließt, nur nach Analogie anderer Kirchen der näheren Umgebung, auf eine früher vorhanden gewesene Vorhalle, von zwei Türmen flankiert, die „vor Errichtung der beiden öst-

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1) Zeller: a. a. O. Seite 10.

2) Zeller: a. a. O. Tafel 5, Figur 4, 5 und 6. (Siehe auch Abb. Nr. 17a).

3) v. Quast und H. Otte: a. a. O. Seite 80.

 

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lichen 1) die einzigen, nachher aber immer noch die vorzüglicheren gewesen sind."

Bei meinen Untersuchungen über Planung und etwaige Ausführung der Westpartie war von folgenden Voraussetzungen auszugehen:

Im Obergeschoß der Westwand ist unzweifelhaft die Anlage einer doppelten Bogenstellung zu erkennen. Diese Bogenstellung konnte nur dann einen Sinn haben, wenn ein Vorbau mit Empore beabsichtigt war. Wir wissen, daß sich die Stifterinnen ins Klosterleben zurückzogen. Beide Frauen liegen in der Kirche begraben. Sie werden also zweifellos in das von ihnen gestiftete Kloster gegangen sein. Nahmen sie hier am Gottesdienst teil, so mußte ihnen eine sogenannte Nonnenempore eingerichtet werden. Diese Empore befand sich in der Regel im westlichen Teil des Hauptschiffes, resp. außerhalb des Schiffes in einem zweigeschossigen Anbau, der „Vorkirche”. Durch das untere Geschoß betraten die Laien den Kirchenraum. Die Empore im Obergeschoß blieb den Nonnen vorbehalten. Sie hatte einen besonderen Treppenzugang und war gegen das Mittelschiff durch Arkaden geöffnet. Von einem einzurichtenden Nonnenkonvent ist im Hamerslebener Stiftungsbrief nicht die Rede. Die geplante Empore war also für die Stifterinnen bestimmt; außer ihnen sollten vielleicht noch einige Frauen ihrer Umgebung dort ihren Platz bekommen. Zum ersten Male hören wir von einem „Conventus regularium sororum ecclesiae S. Pancratii in Hamersleve” im Jahre 1238 2). Aus der Grabinschrift und der vom „monachus" der ersten Klostergeneration geschriebenen Klosterchronik 3) wissen wir, daß Mechthildis im Jahre 1115 im Alter von 60 Jahren starb und ihre Mutter Thiedburga zu dieser Zeit schon tot war. Die geplante Nonnenempore mußte also, wenn sie überhaupt vorhanden war, in diesem Jahre bereits fertig gewesen sein. Andernfalls hätte man den Plan geändert, denn auf die kleine Zahl der Nonnen aus der Umgebung der Stifterinnen wäre derartig große und kostspielige Rücksicht wohl kaum mehr genommen worden. Daß die Westwand aber tatsächlich einen

 

1) Er hatte, wie wir oben sahen, zu Unrecht einen nachträglichen Einbau der Osttürme angenommen.

2) Stefan Kunze: a. a. O. Seite 11.

3) Mader hatte die Chronik noch, ab er an seinem Manuscript zum „Chronicon S. Laurentii" arbeitete. Seitdem ist sie verschollen.

 

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Teil der Arkatur der beabsichtigten Empore aufweist, macht aufs höchste wahrscheinlich, daß dieser Teil zu Lebzeiten der Mechthildis, also 1115, bereits im Bau gewesen ist. Meine weiteren Untersuchungen hatten sich nun auf die Fragen zu konzentrieren: 1. Konnte beim Tode der Medithildis die Westwand schon vollkommen hochgezogen, die Emporenarkatur also bereits vollständig eingesetzt sein? 2. War zu dieser Zeit die geplante Vorhalle schon fertig, im Bau, oder noch nicht begonnen? Im letzten Falle: wurde sie überhaupt noch gebaut und später wieder niedergelegt? 3. War die etwaige Vorhalle ein- oder dreischiffig geplant?

Weiter oben sahen wir, daß bei Erstellung der Mittelschiffswände vor dem Schlagen der Arkadenbögen unbedingt die Westwand als Widerlager zu einem Teile hochgeführt werden mußte. Wie hoch man zunächst mit dem Mauerwerk ging, geht nicht allein aus den Spuren an der Westwand, sondern auch aus dem Befund der Mittelschiffswände hervor. Diese sind zweifellos in zwei Arbeitsgängen entstanden, der erste umfaßte die Aufrichtung der Säulen, das Schlagen der Bögen und deren Uebermauerung bis zur zweiten Quaderschicht über der Arkadenumrahmung 1), der zweite das Hochführen der gesamten Oberwand. Während man nämlich, wie wir sahen, beim ersten Arbeitsgang versehentlich der Bodensteigung nachgegangen war, hat man beim zweiten, soweit man es konnte, den Schaden wieder gutgemacht und die Fenster in die Horizontale gebracht. Zwei Arbeitsgänge müssen es übrigens schon deshalb gewesen sein, weil man es nicht wagen konnte, die Westwand in ihrer gesamten Höhe bis zum Dachgesims hochzuführen, um hieran die Arkadenbögen zu schlagen. Das wäre wegen der Gefahr sofortigen Weichens einer so hohen, zunächst völlig freistehenden Wand höchst unvernünftig gewesen und darf aus diesem Grunde nicht angenommen werden. Für die Arbeiten an den Mittelschiffswänden, für die man das Widerlager brauchte, nämlich für das Einspannen der Bögen, reichte eine Westwandhöhe bis über die Hälfte völlig aus. Bis dahin muß man sie also errichtet haben. Da die Brüstung der vorgesehenen Nonnenempore aber tiefer sitzen

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1) Jede gute Aufnahme aus der Zeit vor der Uebertünchung zeigt, und die Nachprüfung der Fugen bestätigt, daß in der zweiten Quaderschicht über der oberen Arkadenleiste der Uebergang aus der schrägen in die horizontale Lage hergestellt wurde.

 

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sollte als die höchste Schicht der zunächst benötigten Wand, so verlegte man natürlich das Brüstungsgesims gleich mit. Die beiden äußeren Pfeiler der Emporenarkade und die ersten zwei Bogensteine darüber waren, da man sie in die Wand einbinden mußte, selbstverständlich gleich mit zu setzen. Die Arkadenbögen und den Mittelpfeiler auf der Emporenbrüstung dagegen durfte man nicht jetzt schon errichten. Sie hätten sonst frei in der Luft gestanden. Diese Arbeit ist nur denkbar für den zweiten Arbeitsgang, das Hochführen der oberen Wandzone.

Man hatte seither immer angenommen, die Emporenarkade sei ursprünglich vollständig vorhanden gewesen und im Laufe der Jahrhunderte bei irgendwelcher Gelegenheit zugemauert worden. Dabei müßten also die Arkadenbögen und der Mittelpfeiler, die den Oberteil der Westwand zu tragen hatten, herausgerissen worden sein. Entspräche das den Tatsachen, so hätte man, bevor man sie herausriß, die ganze Oberwand abtragen müssen! Es wird niemand annehmen wollen, daß man sich bei einer späteren Aenderung ohne ersichtlichen Zweck diese Arbeit gemacht haben würde. Nicht ernst zu nehmen wäre vollends die Vermutung, beim Schließen der Arkadenöffnungen hätten etwa ästhetische Erwägungen dazu geführt, Pfeiler und Bögen herauszunehmen, um den Eindruck von Flickwerk zu vermeiden. (Dann wären auch die Bogenansätze, die heute noch sichtbar sind, beseitigt worden.) Jeder Baumeister würde, wenn aus einer Pfeilerarkadenstellung eine geschlossene Wand zu schaffen wäre, die Arkadenöffnungen vermauern und nicht erst eine hohe, 1,00 m starke Wand niederlegen, um sie dann in gleicher Stärke wieder aufzusetzen.

Meine Untersuchungen am Bau konnten auf den einzelnen Stein genau die Grenze ermitteln, bis zu der die Westwand hochgeführt war, bevor man mit dem Spannen der Hauptschiffsarkaden begann. (Siehe Abbildung Nr. 11).

Daß in der Westwand die Empore angelegt worden war, ließ ohne jeden Zweifel auf eine mindestens geplante Vorkirche schließen, daß aber die Bögen der Empore nicht noch, wie die übrigen Teile, im Mauerwerk sitzen, mußte das ehemaligeVorhandensein einer solchen doch sehr in Frage stellen. Die Zweifel wurden verstärkt durch folgende Feststellung:

Im Erdgeschoß der Westfront sitzt eine Doppeltür. Jede ihrer Leibungen hat eine Hohlnische. In jeder Nische sitzt eine Säule.

 

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Basen und Säulenkapitelle sind mit den Leibungspfeilern verkröpft und tragen einen Bogenwulst, der sich unter dem Türbogen an diesen schmiegt. (Siehe Abbildung Nr. 18). Der ganze Charakter

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-18-Zwischenportal-in-der-Westwand.jpg

 

Abb. Nr. 18. Zwischenportal in der Westwand.

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Hamersleben-Stiftskirche-St-Pankratius-Doppelportal-an-der-Westwand-des-Mittelschiffs-IMG-4676.jpg

Einfügung: Doppelportal an der Westwand des Mittelschiffs

 

der Doppeltür läßt erkennen, daß sie nicht als Haupteingang zur Kirche vorgesehen gewesen sein kann. Der reichprofilierte Sockel und das ebenso reich gehaltene Gesims liegen an der Innen- wie an der Außenseite ein Stück in die Wand hinein. An keiner Stelle, weder innen noch außen, hätte eine gutschließende Holztür angebracht werden können. Es fehlt der Anschlag. Es ist auch keine Spur zu finden, die darauf schließen lassen könnte, daß jemals der Versuch gemacht wurde, eine Tür einzusetzen. Nach diesem Tatbestand zu urteilen, war ein Vorraum unbedingt beabsichtigt,

 

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vor dem sich dann der eigentliche verschließbare Haupteingang befunden haben müßte. Eine Untersuchung der Türschwelle hat ergeben, daß diese niemals benutzt worden sein kann, denn es fanden sich noch deutlich die Spuren der Steinmetzwerkzeuge auf ihrer Oberfläche. Ein späterer Austausch der Schwelle ist ausgeschlossen, denn sie liegt unter den Sockeln der Türleibungen in die Wand hinein. Hätte also eine Auswechselung stattgefunden, so hätte ja die Schwelle am Türpfeiler abgebrochen werden müssen. (Beide Türöffnungen waren früher mit einem 62 cm starken Mauerwerk ausgefüllt, das von der glatten Außenwand bis zur Mitte der Türsäulen herein reichte. Im Jahre 1865 1) nahm man die Vermauerung heraus, um die Schönheit der Umrahmungen den Blicken zugänglich zu machen. Man setzte dafür vor die Außenseite eine dünne Backsteinwand. Die frühere Vermauerung bildete mit der übrigen Außenwand eine gleiche Fläche.)

Das Argument der unbenützten Türschwelle mußte mich mit den anderen weiter oben behandelten zur Ueberzeugung bringen, daß eine Vorkirche bestimmt geplant und, wie oben gezeigt, während des Bauens vor Inangriffnahme des Mittelschiffs wieder aufgegeben worden war.

Hatte meine Annahme zwar größte Wahrscheinlichkeit für sich, so durfte doch eine genaue Untersuchung der Westwand, besonders ihrer unteren Teile, und des davorliegenden Bodens nicht unterlassen werden, denn wenn schon die Vorkirche nur geplant war und nicht ausgeführt wurde, so ließen sich vielleicht zuverlässige Anhaltspunkte dafür finden, welche Bauabsichten für die Vorkirche bestanden und welche Vorkehrungen nach der Planänderung getroffen wurden, um den Nonnen, die nach der erwähnten Urkunde doch tatsächlich vorhanden gewesen sein müssen, eine Teilnahme am Gottesdienst auf einer Jungfrauenempore, die ebenfalls erwähnt wird 2), zu ermöglichen.

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1) Akten beim Hochbauamt II Halberstadt.

2) St. Kunze: a. a. O. Seite 11: „Im Jahre 1238 schreibt Bischof Ludolf von Halberstadt an Propst Werner zu Hamersleben, daß der conventus regularium sororum ecclesiae St. Pancratii in Hamersleve der Christenheit zum größten Aergernis gereiche und daß künftig keine Schwester mehr aufgenommen werden sollte, auch wenngleich sie in einem besonderen Frauenhause wohnten, welches nach der Trennung zum Frauengasthause umgeschaffen und „buten", d. i. außer Verbindung mit dem Mannskloster, erbaut und mit einer hohen Mauer umgeben war. Die Fenster des Hauses hatten Gitter, wie ihr Chor in der Kirche, dem Hochaltar gegenüber auf einer Erhöhung, sodaß man sie nicht sehen, sondern nur ihre Stimmen im Gesange vernehmen konnte.“

 

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Der Baubefund ergab folgendes:

Der Sockel der Westwand vor den Seitenschiffen hat einfache Schräge. Er ist überall gleich hoch (50 cm bis zur Schräge), an den Ecken ist er fest eingebunden. Die Quader der Wandecken zeigen gleiche Bearbeitung wie alle übrigen Ecksteine des Baues (siehe Abbildung Nr. 19).

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-19-Eckverband.jpg

 

Abb. Nr. 19. Eckverband.

 

Vor dem südlichen Seitenschiff führt der Sockel ununterbrochen bis neben einen neuen Strebepfeiler, der mit einem zweiten zusammen im Jahre 1895 zur Verstrebung der weichenden Westwand gesetzt wurde. Vor dem Mittelschiff läuft die Sockelschräge nicht weiter, neben der Doppeltür beginnt dann aber der reicher profilierte Pfeilersockel, der um die Türleibung herum auch an der Innenseite gleich weit in die Wand reicht. Neben der nördlichen Oeffnung ist ein gleicher Sockel. Dann ist die Wand wieder glatt bis über die Flucht der nördlichen Mittelschiffswand, vor welcher der andere neue Strebepfeiler sitzt. Daneben beginnt wieder ein Schrägsockel, der bis zu einer rechtwinklig umrahmten ursprünglichen Tür führt, sich hier aber nicht als Türumrahmung fortsetzt, sondern gegen die Oeffnung läuft, um auf der anderen Seite nach Norden hin seinen Weg in gleicher Weise zur Nordwestecke der Kirche zu nehmen. Auch an dieser Ecke ist die Quaderkantenbearbeitung wie sonst an den Bauecken. Die ganze Art des Einbindens der Steine aus der West- in die Nordwand kann die Vermutung Hases, es könne hier ein Turm gewesen sein, gar nicht aufkommen lassen. Dennoch stach ich an der Fundamentmauer 1,70 m tief in die Erde, um etwa doch vorhandenen Fundamentansätzen nachgehen zu können und um zu sehen, wie tief man überhaupt die Fundamentsohle gelegt hatte. Ich fand sie etwa 1,70 m tief. Eine Spur von Verzahnungen war nicht zu entdecken, nicht in der Flucht der Seitenschiffswand, auch nicht quer zu ihr. Einen gleichen Einstich machte ich auf der anderen Ecke der Westseite, mit gleichem Ergebnis.

 

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Damit war erwiesen, daß Türme an dieser Stelle weder vorgesehen noch ausgeführt waren und daß, wenn eine Vorkirche geplant war, sie nicht dreischiffig werden sollte. Da aber die ganze Gliederung der Westseite unbedingt auf einen Vorbau schließen läßt, konnte es sich nur noch um einen einschiffigen handeln, der in der Flucht der Mittelschiffswände ansitzen mußte. An den betreffenden Stellen ist aber eine Grabung deshalb nicht leicht, weil im Jahre 1895 die vorerwähnten zwei Strebepfeiler dahin gesetzt wurden, die bis über Seitenschiffshöhe hinaufreichen. Die Pfeiler haben einen Querschnitt im Sockel von 1,50 m X 1,50 m und einen solchen im Fundament von 2,00 m X 2,00 m. Durch sie konnten etwa vorhandene alte Ansätze im Fundament verdeckt werden, wenn sie nur kurz waren. Im aufgehenden Mauerwerk verdecken sie ohnehin jede Spur von Verzahnungen. Vor den Pfeilern hob ich Gräben von 1,70 m Tiefe aus, die genau in der Flucht der Mittelschiffswände lagen. Hier entdeckte ich ein altes Fundament, das auf eine Länge von 3,30 m aus der Westwand herauskommt. Seine Breite ist auf der Sohle 1,40 m, darüber 1,20 m. Die Steine sind in hellgrauen, feinen Kalkmörtel gebettet, der Verband ist äußerst fest. Damit jede Verwechselung mit den Fundamenten der neuen Pfeiler ausgeschlossen blieb, führte ich einen Graben bis an einen Pfeiler und fand dessen Sohle aus gelben Sandsteinen hergestellt, zwischen denen kein Mörtel zu finden war (!). Etwas darunter aber führte das alte Fundament weiter zur Westwand. Wie meine Vermessung ergab, sollte die Wand der Vorkirche nicht genau in der Flucht der Mittelschiffswand liegen, sondern um 30 cm nach dem Seitenschiff zu versetzt, sodaß also die Breite der Vorkirche 60 cm größer gewesen wäre als die des Mittelschiffes. (Siehe Abbildung Nr. 20).

Ein gleiches Versetzen hat an der Vorkirche in Paulinzella stattgefunden 1).

Damit war erwiesen, daß eine einschiffige Vorkirche vorgesehen war und der Teil davon, der mit der Westwand Verband haben sollte, bereits bei deren Errichtung so weit wie nötig in Verzahnung mitgeführt wurde 2). Wäre an dem übrigen Teil der Vorkirche

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1) Holtmeyer: a. a. O. Grundriß.

2) Dadurch, daß nachher die Verzahnung wieder entfernt wurde, hatte die Westwand nach Westen hin keine Verstrebung mehr, was ein Weichen zur Folge hatte. Man mußte einen Einsturz befürchten und setzte deshalb 1885 zwei Strebepfeiler vor die Wand.

 

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bereits gearbeitet worden, so mußte ich in der Flucht der gefundenen Fundamente weitere Spuren entdecken. Ich zog den Graben weiter, traf dabei auf Gräben, die Zeller im Jahre 1927 ausheben ließ, entdeckte aber nicht das geringste, weder von Vorkirchen- noch von Turmfundamenten. Zeller schließt aus gefundenen Knochenresten, daß möglicherweise alte Fundamente beim Anlegen eines Friedhofes

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-20-Grundriss-der-Westseite.jpg

 

Abb. Nr. 20. Grundriß der Westseite.

 

beseitigt wurden. Die Tatsache, daß auf dem von mir gefundenen Mauerwerk Knochen lagen, spricht dafür, daß man auch an anderen Stellen auf oder neben den alten Fundamenten beerdigt hätte. Der verwendete Mörtel bindet die Steine so fest, daß die Mauern nicht ohne große Schwierigkeiten hätten beseitigt werden können.

Nach diesen Feststellungen und dem Befund der Westwand war nur noch der Schluß möglich, daß die nötigen Anordnungen zur Ausführung der Vorkirche bereits getroffen waren und daß dieser Bauteil als letzte Arbeit des Gesamtprojektes in Angriff genommen werden sollte, daß es dazu aber nicht mehr kam. Zum Fallenlassen des Emporenbaues mußte ein ganz besonderer Umstand Anlaß gegeben haben. Die Empore sollte in erster Linie den Stifterinnen errichtet werden. Wir wissen, daß Mechthildis im Jahre 1115 starb, ihre Mutter war bereits tot. Den übrigen Jungfrauen gegenüber hielt sich Thietmar wohl zu einem so kostspieligen Emporenbau nicht mehr verpflichtet. Er war ohnehin, wie auch Bischof Reinhardt, wohl kein Freund der Nonnen. (Wir finden ihn 1120 im benachbarten Schöningen 1),

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1) Schmidt: Urkunden-Buch Halberstadt. Seite 118 u. f.

 

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wo er im Auftrage Reinhards das Nonnenkloster wegen verderbter Sitten auflöst und ein Augustiner-Mönchskloster einrichtet.) Demnach fand also höchstwahrscheinlich die Planänderung wegen des Todes der Stifterin im Jahre 1115 statt. 1)

Ist nun zwar mit dem Tode der Stifterinnen der Vorkirchenplan aufgegeben worden, so mußte immerhin für die übrigen Frauen wenigstens Gelegenheit zur Teilnahme am Gottesdienst geschaffen werden. Das war aber nicht ganz einfach. Wäre den Nonnen die Doppeltür in der Westwand als Zugang freigegeben worden, so hätten sie im Mittelschiff ihren Platz zu ebener Erde bei den Laien und zwar hinter diesen, gehabt. Das war nicht angängig. Wäre ihnen der Zugang in der Westwand des nördlichen Seitenschiffes zugewiesen worden, so war dieselbe Lage geschaffen. Außerdem lag die Tür direkt an den Gebäuden des inneren Klosterhofes der Männer. Das sollte aber unter allen Umständen vermieden werden. Die Nonnen sollten weder mit den Laien, noch mit den Mönchen zusammenkommen. Ihr Zugang mußte außerhalb der Mauern des Mönchsklosters und getrennt vom Eingang der Laien liegen.

All diesen Erwägungen wurde auch peinlichst Rechnung getragen: In die Westwand vor dem südlichen Seitenschiif wurde ein Zugang gebrochen. Er lag mit der Schwelle 2,65 m über dem

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1) Zweifel daran, daß der Bau in vier Jahren, von 1111 bis 1115, bereits soweit gefördert sein konnte, wie ihn die Rekonstruktionszeichnung (Abb. Nr. 11) zeigt, können gegenüber den gegebenen Anhaltspunkten und dem Befund nicht aufkommen. Es besteht kein Anlaß zur Annahme, es seien zunächst Notbauten errichtet worden, denen erst 20 bis 30 Jahre später die eigentliche Kirche folgte, wie Kunze (a. a. O.) glaubt. Träfe Kunzes Vermutung zu, daß der Baubeginn in die Zeit nach dem Tode der Stifterin fällt, so wäre die Vorkirche entweder ganz fertiggestellt oder überhaupt ganz unterlassen worden. Die plötzliche Aenderung mitten in der Arbeit kann deshalb nur mit dem Abgang der Stifterin zusammenhängen. Sichere Beispiele der gleichen Zeit belehren uns, daß ansehnliche Kirchen in verhältnismäßig kurzer Zeit fertiggestellt waren. So ist St. Aurelius in Hirsau 1059 begonnen und 1071 bereits fertig, also nach 12 Jahren, Breitenau entsteht in der Zeit von 1119 bis etwa 1140. Weitere Beispiele ließen sich anführen. Es muß nicht immer für romanische Kirchen eine Bauzeit von einem ganzen Menschenalter angenommen werden, wie es früher geschah, wenn man sich nicht auf Baunachrichten stützen konnte. Gelegentlich vermerkte Weihedaten sind oft irreführend. Bei Verlegung oder Erneuerung von Altären pflegten z. B. Neuweihen stattzufinden, über die berichtet wird, während Vermerke über die Hauptweihe der Kirche fehlen.

 

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äußeren Sockel, also auch an der Innenwand über dem Fußboden. Demnach war innen und außen ein Podest anzubringen, die Podeststeine stehen tatsächlich auf beiden Seiten noch vor. Außen führte eine Holztreppe vom Boden zum Podest.

Daß die Tür nachträglich in die Wand gebrochen ist, also nicht von vornherein geplant war, geht aus dem ganzen Charakter der Anlage des Quadermauerwerkes hervor. Daß sie aber der ältesten Bauzeit zuzurechnen ist, zeigt uns die Art der Steinbearbeitung und der Türsturz. Er besteht aus einem schweren, oben runden schmucklosen Stein. (Siehe Abbildung Nr. 15.)

War meine Annahme richtig, so mußte diese Tür durch eine Mauer vom Hofe des Mannsklosters getrennt gewesen sein. Dementsprechend nahm ich vor der Westwand neben der Tür eine Grabung vor. Bereits in 50 cm Tiefe fand ich dann auch tatsächlich die vermutete Mauer. Sie sitzt neben dem Vorkirchenfundament an der Westwand an, verläuft von dieser 3,60 m nach Westen und von hier über guten Eckverband nach Süden, parallel zur Kirchenwestwand. Von der Kirche her bis zur Ecke hat sie eine Stärke von 40 cm, von hier aus nach Süden 45 cm. Auf etwa 2,00 m konnte ich in südlicher Richtung die Mauer noch verfolgen, dann aber war sie mit schweren Steinplatten des jetzigen Durchganges vom Klosterhof zum Friedhof verdeckt. (Siehe Grundriß, Fig. Nr. 20).

Damit war zwar die Regelung des Zuganges der Nonnen nach der erfolgten Planänderung ermittelt, doch stand nicht fest, wo die Nonnen im Innern der Kirche ihren Platz hatten.

Das Podest der nachträglich eingesetzten Tür lag an der Innenwand über Fußbodenhöhe. Es mußte also auch die Empore höher sitzen. Wollte man trotz aller Bedenken die Annahme vertreten, die Nonnen hätten zu ebener Erde des Mittelschiffes ihren Platz gehabt, so hätte die Zugangstür doch in Fußbodenhöhe gesetzt werden können. Die Empore mußte also schon deshalb in der Höhe gesucht werden.

Beim Absuchen der Mittelschiffswände fand ich auch die Balkenlöcher einer solchen. Sie sitzen wenig unter der oberen Leiste der Arkadenumrahmung hinter der großen Barockorgel. Es handelt sich in jeder Wand um je zwei Balkenlöcher mit einem Querschnitt gleich dem der Deckenbalken des Schiffes. Sie sind in beiden Schiffswänden gleich hoch und in gleicher Entfernung

 

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voneinander. Nach den Entfernungen von der Westwand hatte diese Holzempore eine Tiefe von etwa 2,50 m. Hier hinauf führte an der inneren Westwand eine Holztreppe. Die Empore hatte nach Westen hin kein Licht, denn das gotische Fenster entstammt einer späteren Zeit, in der keine Nonnen mehr in Hamersleben waren und daher der hölzerne Einbau herausgerissen werden konnte.

Im Jahre 1238 (siehe Seite 59) wird dem Kloster die Neuaufnahme von Nonnen untersagt. Novizen werden an das Kloster Marienthal verwiesen, das im Jahre 1138 vom Pfalzgrafen Friedrich II. von Sommerschenburg gestiftet worden war 1). Die in Hamersleben eingesessenen Nonnen läßt man bis zu ihrem Tode da. Das Gut der Nonnen, der „Graue Hof" in Hamersleben, geht in den Besitz des Nonnenklosters Marienthal über, im Jahre 1294 (11. März 2)) erlaubt Bischof Volrad von Halberstadt dem Kloster Marienthal, eine Kapelle auf seinem „Grauen Hofe” in Hamersleben zu errichten, mit der Klausel, daß die Ausübung des Gottesdienstes dem Mannskloster nicht zum Schaden gereichen dürfe.

Hiernach wären die Nonnen nach 1294 dem Gottesdienst in der Klosterkirche ferngeblieben. Ihre Empore blieb vermutlich aber noch bis zum Jahre 1512 bestehen. In diesem Jahre ließ der Prior Bernhard Fabri 3) neben dem Umbau der oberen Turmgeschosse die Kirche „erweitern”. Da an keiner Stelle der Kirche irgendwelche Spur einer nachträglichen Erweiterung zu finden ist, kann es sich nur darum gehandelt haben, die doch nicht mehr benutzte Empore und die Treppe dazu zu entfernen und die Zugangstür der Nonnen zu vermauern. Durch diese Erweiterung kam nun aber die riesige fensterlose Westwand des Mittelschiffes zum Vorschein, die auf den Gotiker äußerst unangenehm wirken mußte. Man entschloß sich deshalb, in die Mitte der Wand ein dem Geiste der Zeit entsprechendes hohes gotisches Rippenfenster zu setzen. Die noch verbleibenden Wandflächen zu beiden Seiten wurden mit Freskomalereien versehen. Auf der nördlichen Seite ist St. Georg, auf der südlichen ein Mönch mit Sakramentshäuschen an einem Fisch-

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1) Caspar Abel: Heinrich Meiboms d. Aelt. Walbeckische Chronike, Helmstedt, 1749. Seite 60.

2) Stefan Kunze; a. a. O., Seite 18, Priorenverzeichnis des Thomas Hartmann und Chronikon St. Marienthal, Manuscr. tit. Hamersleben (Rerum Germanicarum Tom III).

3) Priorenverzeichnis des Thomas Hartmann.

 

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teich dargestellt. Die Arbeiten haben keinen Anspruch darauf, künstlerisch vollwertig genannt zu werden. Daß die Flächen nach dem Einsetzen des Fensters bemalt wurden, geht daraus hervor, daß ihre Umrahmung sich gleichzeitig um das Fenster herum fortsetzt.

Um 1680 erhielt das westliche Mittelschiff einen erneuten Einbau. Man setzte eine niedrige Orgelbühne und darauf einen Orgelprospekt, dessen obere Figuren fast an die Balkendecke des Mittelschiffes reichen.

Im Interesse der Erforschung Hirsauer Baugewohnheiten zu den verschiedenen Zeiten ist das Unterbleiben des Vorkirchenbaues in Hamersleben außerordentlich zu bedauern, umsomehr, als man hier damit hätte rechnen können, daß er einigermaßen unversehrt auf uns gekommen wäre. Die Erhaltung der Hauptkirche berechtigt zu dieser Annahme. Immerhin ist es möglich, auf Grund der Ermittelungen und nach Analogie anderer Kirchen sich eine ziemlich genaue Vorstellung der für Hamersleben bestandenen Bauabsichten zu machen. Die in der Westwand der Kirche vorhandenen Spuren bezeichnen uns zuverlässig Höhe und Breite des Vorkirchenschiffes, auch die Bodenhöhe der Empore geht daraus hervor. Die Gliederung der Emporenarkade konnte von mir ermittelt werden. (Siehe weiter oben). Es bliebe also nur noch die Frage offen, in welcher Länge der Vorbau geplant gewesen sein könnte, ob er im Westen vonTürmen flankiert und zwischen diesen mit Hauptportal und Atrium versehen sein sollte.

Nach den Hirsauer Gewohnheiten (St. Peter und Paul in Hirsau, Paulinzella) hatten die Vorkirchen eine innere Länge von gut anderthalb Mittelschiffsquadrat. Vor ihnen nach Westen zu lag, von zwei kräftigen quadratischen Türmen flankiert, das Atrium mit Hauptportal. Länge und Breite der Türme stimmte ungefähr mit der Seitenschiffsbreite der Hauptkirche überein, diesem Maß entsprechend mußte also auch die Tiefe des Atriums sein.

Für Hamersleben wäre bei 8,70 m Quadratseitenlänge eine Vorkirche von ca. 13,00 m Länge, als Höhe nicht ganz die des Kirchenmittelschiffes anzunehmen. Der Bau hätte ein Satteldach bekommen. Nach Westen würde sich ein Atrium von 3,60 m Tiefe mit Hauptportal anschließen, die Türme zu seinen Seiten hätten dieses Maß in Länge und Breite. Es bestände dann Uebereinstimmung im Querschnitt mit den Osttürmen. Sie wären quadratisch hochgeführt zu denken bis ein Geschoß über den Langhausfirst.

 

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(Die Osttürme haben, wie gezeigt worden ist, ihre ursprüngliche Form im Obergeschoß verloren). Die Wände der Vorkirche durften natürlich keine offenen Arkadenstellungen erhalten, wie wir sie von Hirsau, Paulinzella und Thalbürgel her kennen, denn überall dort war ja die Vorkirche dreischiffig ausgeführt worden. In Hamersleben mußten einfache Wände in der von mir gefundenen Stärke von ca. 1,20 m (mit einigen Fenstern im Erd- und Emporengeschoß) verwendet werden, die vermutlich oberen Rundbogenfries und palmettenverziertes Dachgesims als äußeren Schmuck erhalten hätten.

Alle diese Rekonstruktionen können aber lediglich auf Grund der Hirsauer Baugewohnheiten erfolgen. Von der wirklichen Absicht des Baumeisters wissen wir nichts, da sich Planzeichnungen nicht erhalten haben.

So sehr das Aufgeben des Vorkirchenbaues zu bedauern ist, für die zuverlässige Ermittelung der Bauzeit ist die Planänderung deshalb außerordentlich wertvoll, weil sie mit dem Todesjahr der Stifterin 1115 zusammenfällt. Nachdem gezeigt worden ist, daß bis zu diesem Jahre die ganze Ostpartie und der größte Teil der Westwand bereits ausgeführt waren, also nur noch das Langhaus fehlte, wird man nicht mehr umhin können, die gesamte Bauzeit der Hamerslebener Kirche, die seither stets gegen das Ende des zwölften Jahrhunderts verlegt wurde, in das erste Drittel vorzudatieren. Selbst wenn wir für das Langhaus, wegen der Säulenund Kapitellbearbeitung, die doppelte Zeit in Anrechnung bringen, als sie für die Ostpartie und Westwand gebraucht wurde, kommen wir höchstens auf das Jahr 1125. Damit wird aber auch die Behauptung, Hamersleben stehe in Abhängigkeit von Paulinzella, ja der Baumeister sei der gleiche, in keiner Hinsicht mehr zu halten sein. Nach Holtmeyer wurde die Ostpartie in Paulinzella während der Jahre 1112 bis 1118 errichtet. Im Jahre 1115 waren aber in Hamersleben Chorhaus, Querhaus, Türme und der größte Teil der Westwand mit Portal und einem Teil der Emporenarkade bereits fertig, also volle drei Jahre früher. Würden wir für das Hamerslebener Langhaus eine Bauzeit von 14 Jahren annehmen, wie es Holtmeyer für Paulinzella tut, dann wäre mit einer Fertigstellung der ganzen Kirche im Jahre 1129 zu rechnen, während dort bis 1132 gebaut wurde.

Wir sehen, daß gar keine Möglichkeit besteht, Hamersleben mit Paulinzella direkt in Verbindung zu bringen oder gar an-

 

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zunehmen, die Erfahrungen am Paulinzeller Bau seien vom Baumeister in Hamersleben ausgewertet worden, wie es Holtmeyer u. a. tun. Gewiß besteht zu Recht, daß die Hauptschiffe beider Kirchen Aehnlichkeiten aufweisen. Das ist aber auch das einzige und wird erklärt durch den gemeinsamen Ursprung: die Bauschule des Klosters Hirsau und die durch deren Abt Wilhelm aufgestellten „consuetudines”. Beachten wir aber, daß Hamersleben von Paulinzella in wesentlichen Teilen erheblich abweicht! Wir finden Unterschiede in der Anlage des Chorhauses, des Querschiffes und der Vierung, vom Ornament ganz zu schweigen. Wir hätten sehr wohl auch mit einer Verschiedenheit der Vorkirchen zu rechnen, wie der Unterschied in der Anlage der Emporenarkaden der Westwand zeigt. Dem aufmerksam Vergleichenden wird klar, daß der Paulinzeller Bau enger an das große Vorbild St. Peter und Paul in Hirsau anschließt, und daß sein Baumeister in Konstruktion und Ornament kaum über das von Hirsau her gewohnte hinausgeht. Tatsächlich kommt auch der Paulinzeller Bauleiter mit seinem Konvent direkt aus Hirsau; er war Wilhelms Schüler.

Der Hamerslebener Baumeister dagegen läßt eigene Ideen erkennen, er ist originell in der Durchführung von Baugedanken, die an der Mutterkirche und andern von ihr abhängigen Bauten auf scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen waren. Anders läßt sich das Unterbleiben des Einbaues der Seitenschifftürme in Hirsau und Paulinzella, wofür alle Vorkehrungen schon getroffen waren, nicht erklären. Wir haben gesehen, wie frei in Hamersleben an das Turmproblem herangegangen wurde. Es will doch viel besagen, daß ein Baumeister plötzlich gegen alle Gewohnheit auf die west-östlichen Vierungsbögen verzichtet und statt ihrer volles Mauerwerk über der Schrankenarkade anordnet, um Schwankungen der schwachfüßigen Türme beim Läuten zu vermeiden, daß er daraufhin konsequenterweise die Querschiffsflügel von vornherein tiefer hält, um gute Raumwirkung zu erzielen. Von einem Probieren ist an keiner Stelle der Kirche etwas zu spüren. Durch sein Werk gesehen, lernen wir den Meister kennen: auf dem soliden Boden hirsauischer Tradition ausgebildet, machen ihn meisterliche Reife und technisches Wagen frei von dem auf größte Einfachheit und Klarheit gerichteten Konservativismus seiner Klosterschule. Das Können der gerade zu seiner Zeit allenthalben nach Deutschland geholten lombardischen Steinmetzen muß großen Eindruck auf ihn gemacht

 

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haben. In Mainz 1) hatte er während der Erneuerung des Ostchores am Dom Gelegenheit, mit Lombarden bekannt zu werden. Man hatte sich für die Domarbeiten wahrlich nicht die schlechtesten verschrieben. Daß die Hamerslebener Steinmetzen zu den besten ihres Faches gehörten, ersieht jeder aus der gesamten Ornamentik.

Holtmeyer schließt von der Pfeilerarkade der Paulinzeller Vorkirche auf eine Uebertragung nach Hamersleben. Dort haben wir das gleiche Motiv am westlichen Doppelportal (siehe Abb. Nr. 18). Es darf die Feststellung genügen, daß nach Holtmeyers eigenen Angaben die Paulinzeller Vorkirche zwischen 1154 und 1174 gebaut wurde. Das Portal in Hamersleben dagegen war bereits 1115 fertig. Paulinzella kann also hierfür ebensowenig wie das von ihm abhängige Thalbürgel als Vorbild für Hamersleben in Frage kommen. Es möchte nun fast den Anschein erwecken, als ob es sich um eine Hamerslebener Schöpfung handele. Sollte aber hier wirklich auf Anhieb ein neuer Gedanke in so vollendeter Weise durchgeführt worden sein? Kaum, denn eine so reiche, konsequente Gliederung muß das Ergebnis längerer Entwicklung sein. In der Tat finden wir die Pfeiler-Säulenkombination auf früherer Entwicklungsstufe an einer Hirsauer Kirche: in Alpirsbach, unweit Hirsau, und zwar an den Arkaden des ursprünglichen Kapitelsaales. Ein Zusammenhang des Hamerslebener Pfeilermotivs mit dem in Alpirsbach ist unverkennbar. Alpirsbach ist 1091 gegründet, von Hirsauer Bauleuten ausgeführt und bereits 1103 geweiht. Vielleicht darf als Vorbild für die Alpirsbacher Lösung der Kirchenschiffspfeiler mit vorgesetzten Diensten, wie er im 11. Iahrhundert auftritt, angesprochen werden. Ausgeschlossen ist auch nicht, daß lombardische Steinmetzen als Urheber in Frage kommen. Nach Christ (siehe auch S. 45, Anm. 1) soll die Mitwirkung solcher in Alpirsbach verbürgt sein. Daß aber Wilhelm von Hirsau solchen Neuerungen freudig Aufnahme und Pflege gewährte, darf nach seiner ganzen Art und seinen Richtlinien nicht angenommen werden. Unter Berücksichtigung der Tatsache, daß sich zu Wilhelms Zeiten, hauptsächlich aber nach seinem Tode, Hirsauer Bauschüler der Pfeilerdurchbildung und reicherer Verwendung des Ornamentes annehmen, möchte man auf einen weiteren Lehrer schließen, der nach Wilhelms Tode sich erst recht entfalten konnte. Ihm müßte die lombardische Ornamentik

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1) Ich darf hierzu auf die früher angeführten Argumente hinweisen.

 

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bekannt gewesen sein, ja er dürfte lombardische Steinmetzen nach Hirsau gezogen haben. 1)

Es ist öfter versucht worden, für die Hamerslebener Vierungskonstruktion und die darauf zurückgehende Tieferhaltung der Querschiffsarme ein Vorbild ausfindig zu machen.

Zuletzt hat Kunze 2) den Versuch gemacht, Parallelen zu ziehen. Er nennt Eschau bei Straßburg, Hattstadt bei Marbach und Feldbach im Sundgau. Für die Trennung der Querhausflügel von der Vierung führt er die Kathedrale St. Cyr in Nevers (vor 1028), das Straßburger Münster und die Abteikirche in Epinal an.

Gewiß finden wir Kirchen, deren Querhaus man durch Tieferlegen des Daches den Charakter eines untergeordneten Schiffes gab (Kunze hätte auch das verstümmelte Querhaus in Murbach nennen können), gewiß treffen wir solche, wo man die Querschiffe durch Zwischenstellung eines Pfeilers von der Vierung trennt, und es ist möglich, daß unser Baumeister solche kannte. Alle Beispiele können aber auf Hamersleben keine Anwendung finden, da dort die Voraussetzungen anders liegen. In Hamersleben wird die Vierungsarkade voll übermauert als Widerlager für die Seitenschiffstürme. Durch die Arkadenübermauerung erhalten die Querhausflügel untergeordnete Bedeutung. Hieraus ist die Folgerung gezogen: Die Querhaushöhe stünde in unangenehmem Verhältnis zu Länge und Breite, deshalb werden die Flügel von vornherein niedriger geplant. Suchen wir mit Kunze Parallelen, so begegnen uns zwar Trennungen von Vierung und Querhaus durch Mittelpfeiler oder Schranken, ohne daß aber deshalb auch eine Tieferlegung der Querhausflügel erfolgt wäre.

Die Vorbilder müßten also Kirchen sein, bei denen die gleichen Beweggründe vorliegen, d. h. die Vierungswand müßte sich als Widerlager gegen die unten sehr stark durchbrochenen Türme bautechnisch unbedingt notwendig erweisen, und das Tieferhalten des Querhauses müßte die ästhetische Folgerung hieraus darstellen.

Solche zu finden dürfte schwer fallen. Dennoch existierte eine Kirche, die nicht nur das Hamerslebener Querhaus- und Turmprinzip zeigte, sondern auch die schöne Blendarkadengliederung an

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1) Siehe hierzu Seite 45.

2) Kunze: a. a. O. Seite 427, 28, 29.

 

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der Außenseite der Hauptapsis besaß: Die des Benediktinerinnenklosters Holzzelle bei Eisleben (Mansfelder Seekreis). Sie gehörte früher zum Archidiakonat des Klosters Kaltenborn und zur Diözese Halberstadt. Leider sind nur noch geringe Reste des Schiffes und Turmes vorhanden, wir besitzen aber noch eine Zeichnung, die trotz ihrer Primitivität einen Eindruck der ehemaligen Ostpartie vermitteln kann. 1)

Es handelt sich um eine reine dreischiffige Säulenbasilika mit niedrigem Querhaus. Zwei Türme waren über den Seitenschiffen am Querhaus angeordnet, die Vierung durch eine Arkadenstellung von den Kreuzflügeln getrennt. Die Außenwand der Hauptapsis hatte die gleiche Gliederung wie die in Hamersleben: Säulenstellung neben den Fenstern mit Blendarkadenbögen als Fensterumrahmungen.

Die Gesamtanlage stimmt auffallend mit Hamersleben überein. Die gleiche Uebereinstimmung einiger Säulenbasen beider Bauten zeigt die Abbildung Nr. 4. Die Reste sind zu spärlich, um noch mehr Beweise zu liefern, doch lassen die Ermittelungen kaum einen Zweifel darüber zu, daß der Hamerslebener Baumeister der Schöpfer der Holzzeller Klosterkirche ist. Wie gesagt, gehörte Holzzelle zum Archidiakonat Kaltenborn. Von Kaltenborn aber wissen wir, daß Thietmar von Hamersleben im Jahre 1120 von Bischof Reinhard beauftragt wurde, dort ein Augustiner-Mannskloster einzurichten. Hamerslebener Bauleute müssen es gewesen sein, die sofort mit der Kaltenborner Kirche begannen. Die gleiche Hand, die in Hamersleben das Brüstungsgesims der Nonnenempore ornamentierte, wendet das gleiche Palmettenmotiv haargenau auch in Kaltenborn an einem Pfeilergesims an 2) (Siehe Abbildung Nr. 3).

Leider ist das Pfeilergesims ziemlich das einzige, was von der ganzen Klosterkirche übrig ist. Es befindet sich im Besitz des Geschichts- und Altertumsvereins Sangerhausen.

In Hamersleben konnte man, nachdem der Vorkirchenbau aufgegeben worden war, Steinmetzen entbehren, und so werden diese wohl schon im Jahre 1120 mit der Arbeit in Kaltenborn begonnen haben.

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1) H. Größler: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Mansfelder Seekreises. Halle 1895. Seite 269 u. f. In der Rekonstruktion gibt man den Osttürmen die heutige Gestalt der Hamerslebener, in der Annahme, Hamersleben zeige die ursprüngliche Form noch.

2) Dr. Jul. Schmidt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Kreises Sangerhausen. Halle 1882, Seite 39 u. f.

 

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Wann das zu Kaltenborn gehörende Benediktinerinnenkloster Holzzelle gegründet wurde, ist bis jetzt nicht zu ermitteln gewesen. Daß es aber zu Thietmars Zeit und unter seiner Leitung entstanden ist, muß wegen der geradezu verblüffenden, sonst nie wiederkehrenden Uebereinstimmung mit Hamersleben geschlossen werden. Holzzelle liefert den erneuten Beweis dafür, daß der Gedanke der Turmverstrebung in der Vierung und der Tieferhaltung des Querhauses des Hamerslebener Baumeisters eigene Schöpfung ist.

Eine Abweichung der Holzzeller Klosterkirche der Hamerslebener gegenüber ist zu erwähnen: statt der in Hamersleben nach Osten hinausgezogenen Seitenkapellen hatte Holzzelle nur Conchen an der Ostwand des Querhauses. Es genügt aber die Feststellung, daß es sich hier um ein Frauenkloster des Benediktinerordens handelte, um das Verzichten auf die Büßerkapellen zu erklären.

(Vielleicht unterlief der oben ausführlich behandelte Fehler bei Errichtung der Hamerslebener Langhauswände in einer Zeit, in der der Bauleiter in Kaltenborn oder Holzzelle war.)

An dieser Stelle sei die Aufmerksamkeit auf eine weitere Kirche in der Nähe Hamerslebens gelenkt, über die zwar genaue Untersuchungen noch ausstehen, an der aber vieles darauf hindeutet, daß Hamerslebener Bauleute dort umfangreiche Veränderungen getroffen haben: Die Kirche des Benediktinerklosters Stötterlingenburg. Bischof Reinhard findet das Kloster in ziemlich verwahrlostem Zustand vor. Seine nach 1108 vorgenommene Reform kommt fast einer Neugründung gleich. 1)

Heute sind zwar die Seitenschiffe und das Querhaus entfernt, doch kann man an den stehengebliebenen Teilen folgendes einwandfrei nachweisen: Neben dem Chorhaus waren Seitenkapellen wie in Hamersleben angeordnet. Der vermauerte Vierungsbogen läßt erkennen, daß auch hier das Querhaus niedriger war als das Langhaus. Auch einzelne Ornamentformen deuten auf Hamersleben hin. Völlige Klarstellung der Zusammenhänge wird allerdings erst möglich sein, wenn neue Untersuchungen zu Grunde liegen.

Thietmar hat ferner im Jahre 1120 im Auftrag Bischof Reinhards von Halberstadt das Nonnenkloster in Schöningen aufgehoben und den Orden der Augustiner-Chorherren eingeführt. Nach der

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1) Doering: „Bau- und Kunstdenkmäler der Kreise Halberstadt, Stadt und Land". Halle 1902. Seite 133 u. f.

 

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Angabe Meiers im Inventar der Bau- und Kunstdenkmäler für das Großherzogtum Braunschweig stand das Nonnenkloster im Ostendorf, während sich die St. Lorenzkirche im Westen von Schöningen erhebt. Hiernach hätten wir es mit einer völligen Neuanlage Thietmars nach 1120 zu tun.


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Einfügung: Schöningen St. Lorenz Chor


Hamersleben und Schöningen liegen nicht weit voneinander entfernt. Wenn die Quellenangaben zuverlässig sind, würde an beiden Kirchen unter Thietmars Leitung noch gleichzeitig gearbeitet worden sein. Was liegt da näher, als eine direkte Abhängigkeit Schöningens von Hamersleben zu vermuten? Indessen ist keinerlei Verwandtschaft beider Bauten feststellbar. Leider hat St. Lorenz starke Veränderungen erfahren, dennoch sind in wichtigen Punkten Vergleiche möglich. Vom ersten Bau steht nur noch das Querhaus. Das Chorhaus und die Seitenkapellen sind ohne Einfluß von Königslutter nicht denkbar und demnach in die Zeit um 1150 zu setzen (siehe hierzu Exkurs II). Das heutige Hauptschiff entstand im 15. Jahrhundert. Auf Grund des Befundes sei in kurzen Zügen auf die einzelnen Bauabschnitte eingegangen: Der erste Bau war eine einfache, flachgedeckte, dreischiffige Basilika. Ueber die Gestalt des ersten Chores läßt sich nichts mehr aussagen. An den Ostwänden des Querhauses wurden zwei kleine Konchen, die noch vorhanden sind, in die sehr starken Wände eingelassen. Daß der erste Bau die Hirsauer Seitenkapellen als Fortführung der Seitenschiffe nicht gehabt haben kann, geht daraus hervor, daß zwischen den Konchen und den Vierungspfeilern zu wenig Platz für die Kapelleneingänge bleibt. An der Außenseite der Westwand des Querhauses zeigen uns die Spuren der Verbandsteine die Höhe der alten Seitenschiffswand. Von Verbandspuren für etwaige Winkeltürme über den Seitenschiffen ist nichts zu finden. Also auch hier Abweichung von Hamersleben. Um 1150 wird der Umbau des Chorhauses vorgenommen worden sein. Wodurch er, so kurz nach seiner Entstehung, veranlaßt wurde, ist uns nicht bekannt. Der Umbau umfaßte die völlige Erneuerung der Chorhauswände, einschließlich der östlichen Vierungspfeiler, die Apsis, die Seitenkapellen rnit Arkadenöffnungen gegen den Chor und die Türme über den östlichen Kapellenjochen. Das Ausmaß des Umbaues ist an den feststellbaren Ansatzstellen im Innern und an der reichen Profilierung des Außensockels klar zu erkennen. Der Außensockel des alten Querschiffes hat nur einfache Schräge.

 

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Da die geänderten Teile Kreuzgewölbe erhielten, wurden an den östlichen Vierungspfeilern Säulendienste mit hochgezogen. Sie liegen mit Sockel und Schaft in festem Verband mit der Wand, können also unmöglich später eingesetzt sein. In das alte Querschiff wurden bei dieser Gelegenheit ebenfalls Gewölbe eingezogen. Da hier aber keine Dienste waren, setzte man Konsolsteine als Gewölbeträger in die Wandecken. Das gleiche ist an den westlichen Vierungspfeilern für das Vierungsgewölbe zu beobachten. Hiernach ist beim Umbau eingewölbt worden: Vierung, Querhausflügel, Chor und Seitenkapellen. Meier nimmt die gleichzeitige Einwölbung auch des Hauptschiffes an. Konsolen dafür sind in den westlichen Winkeln der Vierungspfeiler nicht eingesetzt. Anhaltspunkte für Meiers Annahme haben wir also nicht.

Nach den aufgezeigten Unterschieden zwischen Hamersleben und Schöningen hätten wir es hier mit dem äußerst seltenen Fall zu tun, daß zu gleicher Zeit unter dem gleichen Propst für denselben Orden zwei nahe beisammenliegende Kirchen in grundverschiedener Weise ausgeführt wurden. Wie schon gesagt, setze ich die Richtigkeit der Meierschen Angaben voraus. Bedenklich bleibt mir, daß von dem Nonnenkloster, das danach im Ostendorf gestanden hat und 1120 umgewandelt wurde, nicht die geringste Spur zu finden ist.

 

Ich fasse das Ergebnis meiner Untersuchungen kurz zusammen:

Die Kirche des Augustiner-Chorherrenstiftes Hamersleben ist nicht, wie allerorts angegeben, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erbaut, sondern war spätestens gegen 1130 vollendet.

Eine Vorkirche mit Nonnenempore war geplant und schon begonnen, wurde aber nach dem Tode der Stifterin Mechthildis im Jahre 1115 aufgegeben.

Die Nonnen erhielten im Mittelschiff an der Westwand eine Holzempore.

Die Turmanlage entstammt dem ursprünglichen Bau. Beide Türme hatten quadratische Form. Der achteckige Aufbau ist auf eine Aenderung im Jahre 1512 zurückzuführen.

Die Chorschranken der Vierung als Verstrebung der Türme sind nicht einem späteren Einbau zuzuschreiben.

Die Querhausflügel wurden als Folge des Schrankeneinbaues von vornherein niedriger geplant.

 

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Die Kirche hat niemals einen so bedeutenden Umbau erlitten, daß sich der ursprüngliche Charakter des Baues geändert hätte. Sie ist das Werk eines Hirsauschülers mit eigenem starkem Schöpferwillen, der zwar an den allgemeinen Hirsauer Richtlinien festhält, doch im übrigen Neuerungen zugänglich ist.

Auf Thietmars Initiative dürfen die Neubauten der Klosterkirchen Kaltenborn und Holzzelle, vielleicht auch der Umbau der Klosterkirche Stötterlingenburg zurückgeführt werden. Er läßt in Norddeutschland vermutlich zum ersten Male die Blendarkadengliederung an der Hauptchor-Außenwand anwenden, die von Mainz mitgebracht worden sein dürfte.

Mit Paulinzella hat Hamersleben über die grundlegenden Hirsauer Baugewohnheiten hinaus nicht soviel Gemeinsames, daß auf einen direkten Zusammenhang geschlossen werden darf. Gerung von Paulinzella hält sich streng an seinen Lehrer Wilhelm von Hirsau. Der Baumeister von Hamersleben dagegen ist freier und schöpferischer.

Die seither vertretene Annahme, Hamersleben sei eine Nachbildung von Paulinzella, ist schon deshalb völlig unmöglich, weil Hamersleben früher vollendet ist.

Die Arkadenumrahmung tritt vor Paulinzella bereits in verschiedenen Gegenden auf und muß auf Hirsau direkt zurückgeführt werden. Ihre Verwendung an der Hirsauer Peterskirche ist nachgewiesen.

Das Pfeilermotiv mit vorgesetzter Säule (Abbildung Nr. 18) wird von Hirsauschülern in einfacher Form bereits vor Paulinzella (in Alpirsbach) verwendet.

Für die prächtige Hamerslebener Kapitellornamentik war ein direktes Vorbild bislang nicht zu finden. Ihre künstlerische Reife und andere, oben bereits besprochene Beobachtungen deuten auf die Mitarbeit eines lombardischen Steinmetzmeisters hin.

 

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Exkurs I.

Die Kirche des ehemaligen Augustiner-Chorherrenstiftes Riechenberg bei Goslar.

Im Verlauf der Untersuchungen über die Stiftskirche zu Hamersleben war notwendigerweise die Kirche des ehemaligen Stiftes Riechenberg bei Goslar wegen ihrer Uebereinstimmung in der Langhausgestaltung und der Winkeltürme über den Seitenschiffen wiederholt zum Vergleich heranzuziehen. Die Kirche ist für die Beurteilung der Baukunst in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts immerhin so wichtig, daß sie verdient, über die gelegentlichen Hinweise hinaus einer besonderen Betrachtung gewürdigt zu werden. Heute finden wir außer der prächtigen Krypta nur noch spärliche Reste, sodaß man sich auf Grund des Vorhandenen kein klares Bild des ursprünglichen Zustandes machen kann. Umso wertvoller sind deshalb die zuverlässigen Angaben in einem Baubericht des Bauinspektors Pelizaeus vom Jahre 1857 1), der die völlig erhaltene Kirche noch aus eigener Anschauung gekannt hat. Der Bericht findet seine Bestätigung und Ergänzung durch eine davon unabhängige Arbeit mit Zeichnungen Hases 2). Diese Unterlagen reichen aus, um zusammen mit den vorhandenen Resten eine Rekonstruktion der Kirche vorzunehmen.

Geschichtliches.

Im Chronicon Stederburgense 3) finden wir zum Jahre 1117 den Eintrag: „Ecclesia in Riechenberg primum incepta est" und zum Jahre 1122: „Dedikatio ecclesiae in Riechenberg”. Näher unterrichtet uns Heineccius 4). Nach ihm ist das Kloster von dem Sub-

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1) Akten beim Hochbauamt II Halberstadt.

2) „Die mittelalterlichen Baudenkmäler Niedersachsens“. Hannover 1861.

3) „Rerum Germanicarum” Tom. I. pag. 453.

4) „Antiquitatum Goslariensium” pag. 114.

 

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diakon am Dom zu Goslar, Peter von Riechenberg, zu Ehren der heiligen Jungfrau 1117 gestiftet und dem Benediktinerorden unterstellt worden. Nach Genehmigung der Stiftung wurde sofort mit der Einrichtung begonnen. Eine Weihe fand bereits 1122 statt. Da in fünf Jahren das große Gotteshaus schwerlich schon vollständig fertig gewesen sein kann, dürfte es sich um eine Teilweihe handeln. Das Kloster war im Anfang nur von einer kleinen Anzahl Mönchen besetzt. Erst im Jahre 1131, als Bischof Bernhard von Hildesheim auf einer Synode den Orden der Augustiner-Chorherren einführte, hielt ein voller Konvent seinen Einzug. Bischof Bernhard (1130-1153) machte während seiner Amtszeit dem Kloster eine Schenkung. Gerade diese ist es, durch die uns wenigstens ungefähre Anhaltspunkte für die Datierung der Krypta gegeben werden. Als nämlich der Nachfolger Bernhards, Bischof Bruno von Hildesheim, nach seinem Amtsantritt die alten Besitzungen Riechenbergs erneut bestätigte - mit Urkunde vom Jahre 1154 1) -, führte er die Schenkung seines Vorgängers mit folgenden Worten an: „ . . . itemque unum mansum in eadem villa a domino Bernhardo episcopo dotis ratione in consecratione nove crypte collatum...” 2)

Das genaue Jahr der Weihe ist leider nicht bekannt, da die Schenkungsurkunde verschollen ist. Immerhin liegt die Grenze auf 20 Jahre, nämlich der Amtszeit Bernhards, fest. Gründe, die ich noch zu streifen habe, sprechen dafür, daß wir die Vollendung der Krypta nicht lange vor das Jahr 1150 setzen dürfen.

Das Kloster hat wiederholt Brände erlebt, von einem Brand der Kirche selbst ist aber nichts erwähnt. In der Mitte des 14. Jahrhunderts war der ehemalige Wohlstand des Klosters derart zurückgegangen, daß die Mönche mit bischöflicher Erlaubnis, wie Prael 3) berichtet, die Bleidächer der Kirche verkauften.

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1) Janike: U. B. des Hochstiftes Hildesheim. S. 269.

2) Zeller, a. a. O., Seite 22, schreibt wörtlich: „Aus Anlaß der Einweihung der neuen Krypta in Riechenberg übergab 1121 Bischof Berthold I. von Hildesheim (1119 - 1130) dem Kloster eine Hufe in Hahndorf.“ Er beruft sich dabei auf die von mir angezogene Urkunde vom Jahre 1154, darin ist aber gar nicht vom Jahre 1122 die Rede, ferner ist die Schenkung nicht von Berthold, sondern von Bernhard (1130 - 1153), wie aus obigem Originaltext ohne weiteres zu ersehen ist.

3) Prael: a. a. O., Seite 54.

 

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Im Jahre 1803 erfolgte die Säkularisation des Klosters. Kirche und Klausur waren zu der Zeit noch wohlerhalten. Nachdem die Mönche zunächst auf dem benachbarten Grauhof Unterkunft gefunden hatten, stand die Kirche unbenutzt. Als im Jahre 1815 das Wohnhaus des Gutspächters niederbrannte, sollte das stolze, unversehrte Gotteshaus von seinem Schicksal ereilt werden. Mit Genehmigung der Regierung benutzte man die Kirche beim Neubau des Wohnhauses als Steinbruch!! Nur dem Umstande, daß an der Kirche mehr Material war, als man benötigte, ist es zu danken, daß nicht alles bis auf den letzten Rest verschwunden ist.

 

Die Kirche.

Es ist in vielen Fällen nachweisbar und durch den Baubefund in Hamersleben erneut bestätigt, daß beim Bau einer Kirche mit dem Ostteil begonnen wurde, dem der Westteil folgte. Die Langhauswände wurden in der Regel zuletzt errichtet. Auch bei Riechenberg darf man also annehmen, daß die erste Arbeit der unter dem Chorhaus liegenden Krypta galt, dem einzigen noch völlig erhaltenen Bauteil. Die Krypta ist dreischiffig. Das Mittelschiff wird durch je drei freistehende Säulen von den Seitenschiffen getrennt. Der ganze Raum ist mit einfachen Kreuzgewölben ohne Gurtbögen überwölbt, die horizontalen Scheitel haben. Zwischen den Wandsäulen läuft eine niedrige Sitzbank entlang. Die annähernd attischen Säulenbasen haben die üblichen geschweiften Eckknollen, die Schäfte sind gleichmäßig verjüngt, über den oberen Schaftringen sitzen Würfelkapitelle und darüber, nach oben ausladend, Kämpfer. Die phantasiereiche Ornamentik, mit der die Säulen von der Basis bis zum Kämpfer überzogen sind, zeigt eine Reife, wie man sie in der ersten Hälfe des 12. Jahrhunderts selten findet. Das war wohl mit der Grund, daß die Krypta denn auch tatsächlich auf 1200 datiert wurde. Am Ostende der Krypta, in der Flucht des mittleren Schiffes, befindet sich die rechteckige Altarnische. Nebennischen in der Flucht der Seitenschiffe sind nicht vorhanden. Der Raum erhält Licht durch je drei Fenster an der Seite und das eine, das in der Nische sitzt. Zwei Eingänge sind links und rechts vor der Westwand angeordnet. Von hier führt je eine Treppe direkt ins Freie, und zwar in den Winkeln zwischen Chorhaus und den Nebenapsiden des Querschiffes. Letztere sind so weit vom Chorhaus weg-

 

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gerückt, daß je eine Eingangstür dazwischen Platz finden konnte. Man hatte also die Möglichkeit, vom Innern der Kirche durch diese Türen in der östlichen Querhauswand über eine Treppe hinab in die Krypta zu gelangen. Außerdem konnte man die Krypta auch von Osten her betreten, ohne also den Weg durch die Kirche nehmen zu müssen (siehe Abb. Nr. 22). Die Treppenwinkel wurden mit einer Tonne überwölbt, wovon ein großer Teil noch erhalten ist. Eine Tür führt vom Chor auf die Oberfläche dieses Tonnengewölbes.

Die Annahme, daß von hier aus etwaige Winkeltürme betreten werden konnten, bestätigt sich nicht. Es sind keinerlei An-

 

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Abb. Nr. 21. Außensockel am Chor.

 

zeichen dafür vorhanden, daß solche Türme beabsichtigt oder ausgeführt waren. Der Zweck dieser kleinen Plattform und ihre Verbindung durch eine Tür mit dem Chor bleibt vorläufig rätselhaft. Daß es sich um eine ursprüngliche Anlage handelt, geht eindeutig daraus hervor, daß der reichprofilierte Sockel, der sich um das gesamte Chorhaus zieht, in festem Verband zu diesen Winkeln überleitet (Sockelprofil, Abbildung Nr. 21) 1). Der Chor ist etwas gestreckt, hat also nicht quadratischen Grundriß wie die Vierung. Die Querschiffe sind quadratisch und den Vierungsmassen entsprechend. Der Chor ist halbrund geschlossen und hatte drei Apsidenfenster, außerdem in den Längswänden je zwei Fenster in

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1) Zellers (a. a. O.) Grundriß der Kirche ist irreführend. Der oben beschriebene Winkelausbau in vollständig übersehen, auch anderes Vorhandene fehlt.

 

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der Größe derjenigen des Hauptschiffes. Die Außenwand der Chorpartie ist durch Lisenen gegliedert, die an der Hauptapsis vom Sockel bis zur halben Höhe aufsteigen und sich dort mit einem Rundbogenfries verbinden. Während erhebliche Teile des aufgehenden Mauerwerkes an der Nordseite des Chorhauses und des Querschiffes erhalten sind, liegen die Reste des südlichen Querhausarmes, der Südschiffsaußenwand und des Langhauses unter heutiger Bodenhöhe. Auch von den westlichen Vierungspfeilern steht nichts mehr über dem Boden. In dem Winkel zwischen nördlichem Querhausflügel und nördlichem Seitenschiff ist glücklicherweise noch ein Stück der ursprünglichen nördlichen Seitenschiffswand erhalten, das uns einen wichtigen Aufschluß gibt. An der Innenwand befindet sich noch die Pfeilervorlage (mit Halbsäulchen an den Ecken) für die bei den Hirsauern vorkommenden Winkeltürme. Ueber dem erhaltenen kurzen Stück dieser Pfeilervorlage stehen aus der gesamten Wandhöhe die Verzahnungssteine vor, sodaß also Zweifel darüber, ob Winkeltürme geplant waren, gar nicht aufkommen können. Ueberdies sitzt in der Ecke, wo die nördliche Seitenschiffswand gegen das Querhaus stößt, der Anfang eines Kreuzgewölbes, das man unter den Türmen einzuspannen pflegte. Im übrigen ist an der besagten Turmstelle das Mauerwerk des Seitenschiffes stärker, tritt also auch außen aus der Wandflucht vor. Ob die Winkeltürme über Dach geführt waren, vermögen wir heute nicht mehr festzustellen. Zuverlässige Zeichnungen des Zustandes vor dem Abbruch waren bis jetzt nicht aufzufinden. Die Berichte von Pelizaeus und dem letzten Küster der Kirche, die unabhängig voneinander von „Winkeltürmen über den Seitenschiffen wie in Hamersleben” sprechen, lassen das Vorhandensein der vollständigen Türme allerdings gesichert erscheinen.

Ueber die Arkadenstützen des Langhauses war man sich zeitweilig nicht im klaren. Ich darf mich auch hier auf die Aussagen der genannten zwei Personen stützen. Pelizaeus sagt in seinem Bericht ausdrücklich, es handele sich um eine reine Säulenbasilika ohne Pfeiler zwischen den Säulen. Der letzte Küster der Kirche machte Hase gegenüber die gleiche Angabe. Immerhin wäre es wünschenswert, eine Grabung vorzunehmen, denn es besteht die Möglichkeit, noch Säulenkapitelle unter dem Schutt zu finden, von denen Pelizaeus sagt, daß sie reich mit Ornament geschmückt gewesen seien, ähnlich denen in Hamersleben.

 

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Der Westbau ist im wesentlichen noch bis zur Dachhöhe des Mittelschiffes erhalten. Zwischen zwei quadratischen Türmen in der Breite der Seitenschiffe öffnet sich der westliche Zwischenbau in voller Höhe des Hauptschiffes gegen dieses. Er ist in Höhe der Vierungsbögen mit einfacher Tonne gewölbt. Die beiden Türme sind nach dem Zwischenbau und den Seitenschiffen zu mit Arkaden in Höhe der ursprünglichen Langhausarkaden geöffnet. Die Stärke der Mittelschiffsarkadenwand kann an den Halbpfeilern des Westbaues und den darüber sitzenden Verzahnungssteinen abgelesen werden. Ein Westportal zwischen den Türmen war weder vorgesehen noch ausgeführt. Das Mauerwerk der Westwand ist durchaus regelmäßig, ohne Spuren von früheren Aenderungen. Das Portal muß infolgedessen an der Längsseite vermutet werden. Drei höher sitzende Fenster des Zwischenbaues sind vermauert. Auch von einer Zwischenempore sind Spuren nicht zu finden. Wie aus den noch vorhandenen Resten geschlossen werden kann, waren die Pfeiler und Pfeilervorlagen an den Ecken mit Halbsäulchen geziert, die zwar auf kleinen, mit geschweiften Eckknollen versehenen Basen saßen, aber kein Kapitell trugen, sondern geschweift gegen die Ecke liefen.

Riechenberg nimmt eine Sonderstellung unter den Kirchen nördlich des Harzes ein. Zeigt sie einerseits als reine Säulenbasilika mit Winkeltürmen über den Seitenschiffen am Querhaus und ihren Proportionen weitgehende Uebereinstimmung mit Hamersleben und anderen Hirsauer Bauten, so darf andererseits doch nicht übersehen werden, daß die Chorhausgestaltung höchstwahrscheinlich an den nahen Dom in Goslar anknüpft. Ich gebe zum Vergleich die Grundrisse des Chorhauses beider Kirchen und ihrer Krypten wieder (Abb. Nr. 22 u. 23). Die Art, wie die Nebenapsiden vom Hauptchor abgerückt sind, die Anlage der Türen als Kryptenzugänge, die Eingänge der Krypta und diese selbst zeigen zweifellos enge Beziehungen. Eine Anknüpfung an den Goslarer Dom liegt bei Riechenberg umso näher, als der Stifter Riechenbergs ja Subdiakon am Dom war. Natürlich darf nicht daran gedacht werden, daß diese Chorhausgestaltung erstmalig in Goslar auftritt. Auch Goslar hat Vorbilder, und an Hand dieser wird es möglich sein, den Gang der Entwicklung zurück zu verfolgen. Ich lasse die Geschichte sprechen:

Goslar erlebte unter dem Salier Heinrich III. einen ungeheueren Aufschwung. Die Silberadern des Rammelsberges lockten den Kaiser

 

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noch stärker als seinen Vater vom Mittelrhein nach Sachsen. Sein Vater, Konrad II., hatte sich durch Poppo von Stablo, einen Clunyazenserabt, ein Familienstift in Limburg a. H. schaffen lassen. Der

 

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Abb. Nr. 22. Riechenberg. Grundriß der Kirche und der Krypta (Die dunklen Teile sind erhalten, die schraffierten ergänzt).

 

gewaltige Dom in Speier, der zugleich ein Repräsentationsbau der Kaisermacht werden sollte, wird von ihm gegründet. Wir sehen, daß Konrad II. das Mittelrheingebiet, seine Heimat, bevorzugt. Noch sind beide Bauten nicht fertig, als er 1039 stirbt. Sein Sohn, Heinrich III., läßt zwar bis 1045 Limburg noch vollenden, die Fortführung der Arbeiten in Speier aber geraten ins Schleppen. Heinrich wendet sich Goslar zu, sicherlich nicht aus innerer Hingezogenheit zu den Sachsen. Die Goslarer Kaiserpfalz wird von nun an sein

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Lieblingsaufenthalt. Seinem Palast gegenüber läßt er den Dom bauen, dessen Weihe in das Jahr 1050 fällt. Während so die Arbeiten, die am Mittelrhein begonnen waren, vernachlässigt werden -- die Annalisten bezeichnen übereinstimmend Heinrich IV. wegen seines großen Anteils am Speierer Dombau als Erbauer--, zieht der Kaiser die Tüchtigsten aus Süddeutschland plötzlich nach Goslar. Wir wissen z. B. daß Benno, der nachmalige Bischof von Osnabrück, der auf der Reichenau, in Straßburg und Speier ausgebildet wurde, im Jahre 1047, also unmittelbar nach der Vollendung Limburgs, vom Kaiser

 

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Abb. Nr. 23. Dom in Goslar. Grundriß des Chores und der Krypta.


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Einfügung: Goslar Domvorhalle

 

als oberster Leiter über die in Goslar entstehenden Bauten dorthin berufen wird. Es ist kaum daran zu zweifeln, daß bei dieser Gelegenheit auch die tüchtigsten Steinmetzen nach Goslar gezogen werden. So wird plötzlich das Zentrum künstlerischen Schaffens an den Nordrand des Harzes verlegt. Kaiserliche Klosterstiftungen schaffen den Baukünstlern mannigfache Gelegenheit zur Betätigung.

Wie unter Heinrich III., so bleibt auch unter seinem Sohne Heinrich IV. Goslar der bevorzugte Platz für die Hofhaltung, bis ihn die schlimmste Zeit seiner Kämpfe daraus verdrängt. Zu welcher Geltung Goslar inzwischen gekommen war, geht daraus hervor, daß im Jahre 1077, während Heinrich auf seinem schweren Gang nach Canossa war, sein Gegenkönig Rudolf von Schwaben seinen Einzug in die Pfalz Goslar hielt, daß ferner im Jahre 1081 der nächste Gegenkönig Hermann durch den Erzbischof von Mainz in Goslar gesalbt wurde. Auch Heinrich V. blieb Goslar treu. Um 1107 erhält es Stadtrecht, noch 1120, jetzt das letzte Mal,

 

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finden wir Heinrich in Goslars Mauern. Sein Nachfolger, der Sachse Lothar von Süpplingenburg, hält in Goslar Hof, setzt also die Tradition fort.

Es müßte sonderbar zugegangen sein, wenn nicht an einer Stätte, die vor allen anderen deutschen besonderen Vorzug genoß, alle Fäden kultureller und künstlerischer Betätigung zusammengelaufen wären. Leider ist so manches Bauwerk als Zwischenglied der Entwicklungsreihe im Laufe der Jahrhunderte in Schutt gesunken, sodaß wir den Gang der Entwicklung nicht mehr Schritt für Schritt verfolgen können. Wir sind deshalb gezwungen, in größeren Abständen von Riechenberg zurückzugehen. Wie oben

 

tl_files/Fotos/Hamersleben/Abb-24-Klosterkirche-Limburg-an-der-Haardt-Grundriss-Chor-und-Krypta.jpg

 

Abb. Nr. 24. Klosterkirche Limburg an der Haardt

Grundriß des Chores und der Krypta.

 

gezeigt, besteht eine enge Verwandtschaft zwischen der Chorhausgestaltung Riechenbergs und derjenigen des Goslarer Domes. Das Goslarer Chorhaus wiederum zeigt in seiner Kryptenanlage und ihren Zugängen auffallende Uebereinstimrnung mit der des nur fünf Jahre vorher vollendeten alten Familienstiftes Konrads II., Limburg a. H. Auch hier sind die Seitenapsiden vom Chor soweit abgerückt, wie es notwendig war, um die Türöffnung dazwischen anzubringen. Ueber gleiche Treppen gelangte man in den Apsidenwinkeln zu den Eingängen der Krypta, die ebenfalls gleichzeitig von außen her betreten werden konnte. (Abbildung Nr. 24). Die Ueberwölbung der Kryptentreppe mit einer Tonne und die Tür

 

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vom Chor auf dieses Gewölbe stimmten in Limburg und Riechenberg völlig überein. Allerdings ist in Limburg der Hauptchor noch gerade geschlossen. Es könnte zwar eingewendet werden, daß der Zugang dahin gelegt werden mußte, weil sich die Krypta unter dem Chorhaus befand und andere Zugangsmöglichkeiten nicht bestünden. Dem gegenüber müßte gesagt werden, daß, wie es auch zuweilen geschah, von der Vierung aus eine Treppe ohne weiteres in die Krypta geführt werden konnte. Im übrigen finden wir die Limburger Regelung Poppos an einem seiner weiteren Werke, der Klosterkirche in Hersfeld, wieder. Auch Benno, der vom Mittelrhein kommt, und nachweislich die Säulenbasilika auf dem Moritzberg bei Hildesheim erbaut, übernimmt diese Anordnung. Wir finden sie ferner in gleicher Art an der Kirche in Süpplingenburg.

Rätselhaft erscheint in Riechenberg zunächst die Angleichung des Langhauses und der Winkeltürme an die Hirsauer Baugewohnheiten. Hätte man einem in Hirsau geschulten Architekten den Gesamtbau übertragen, so wären höchstwahrscheinlich auch die beiden Seitenkapellen neben dem Chorhaus ausgeführt worden, wie es in Hamersleben geschah. Vermutlich wäre auch auf die Krypta verzichtet worden. Die Augustiner Chorherren waren aber nicht an bestimmte Bauvorschriften ihres Ordens gebunden, wie es bei den Clunyazensern der Fall war. Wir sehen, daß sie bald Hirsauer, bald andere Baugewohnheiten übernehmen. Sollte ein Wechsel in der Bauleitung eingetreten sein, als das Chorhaus und der Westbau bereits stand? Die Frage ist umso mehr berechtigt, als das vermutliche Vorbild für den Riechenberger Ostteil, der Dom in Goslar, die Hirsauer Seitenkapellen nicht hatte und auch sonst kein spezifisch hirsauisches Gepräge trug. Völlige Klarheit dürfte in diesem Punkte kaum zu erlangen sein, wenn nicht bei kommenden Ausgrabungen Kapitelle der Hauptschiffssäulen gefunden werden, die weiteren Aufschluß geben können.

Die prächtige Ornamentik der Kryptensäulen, die man auf 1200, ja noch später datierte, stimmt mit der an verschiedenen Kirchen in Goslar aus der Zeit um 1150 verblüffend überein. Ich darf dabei besonders auf die jetzt noch bestehende nördliche Domvorhalle hinweisen, deren Eingangssäule geradezu in allen Einzelheiten in Riechenberg wiederkehrt. Man hat diese Halle, wohl mit Rücksicht auf die später über dem Portal in die Wand eingefügten Stuckfiguren, auf „um 1200” datiert. Wäre das richtig,0

 

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so bestünde ein klaffender Widerspruch zwischen unserer durch Urkunde belegten Riechenberger Datierung und derjenigen der Domvorhalle, für die Belege nicht vorhanden sind 1), oder aber die künstlerische Entwicklung wäre über 50 Jahre lang auf einem toten Punkt stehen geblieben. Das ist ausgeschlossen.

 

Ich fasse zusammen: Die Stiftskirche in Riechenberg erhält in ihren Ostteilen samt der Krypta in den Jahren der Amtszeit Bischof Bernhards (1130-1153) die oben geschilderte Gestalt. In ebendieser Zeit, spätestens um 1150, ist die Krypta bereits vollendet, bietet uns also bezüglich der Ornamentik ziemlich sicheren Anhalt für die Datierung gleichartiger Ornamentik anderer Bauten, besonders in Goslar, die seither stets um 50 bis 60 Jahre zu spät angesetzt zu werden pflegte. Das Langhaus schließt sich als reine Säulenbasilika mit Winkeltürmen den Hirsauer Gepflogenheiten an. Die Vollendung des Gesamtbaues dürfte nicht allzuweit nach 1150 zu setzen sein.

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1) Hölscher: „Die Kaiserpfalz Goslar" Berlin 1927 erbringt zwar eine Urkunde vom Jahre 1251, die von einer Errichtung der Vorhalle (Kapelle der Maria Magdalena) durch den Scholastikus Alexander von Walmoden – zwischen 1230 und 1250 - spricht. Nach dieser Urkunde scheint bei flüchtiger Betrachtung meine frühe Datierung widerlegt zu werden. Aber schon Heineccius macht im Jahre 1707 („Antiquitatum Goslariensium” in „Rerum Germanicarum” III pag. 288) richtig darauf aufmerksam, daß in verschiedenen Nachrichten diese Kapelle bereits lange vor Alexander von Walmodens Zeit erwähnt wird, und daß es sich deshalb um eine Neuausstattung und Neuweihe handeln müsse, wie es zu der Zeit häufig geschehen sei. Die Veranlasser der Restaurationen seien in den Urkunden oft kurzerhand als Erbauer genannt.

 

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Exkurs II.

Die Kirche des ehemaligen Benediktinerstiftes in Königslutter.

 

Es wird überraschen, daß ich eine Kirche, wie die in Königslutter, die zu den beiden oben betrachteten -- von den Seitenkapellen am Hauptchor abgesehen -- keine besonderen Beziehungen hat, in meine Untersuchungen mit einbeziehe. Um es gleich zu sagen: Ich glaubte nicht auf die Stiftskirche in Königslutter verzichten zu dürfen, weil sie zeigt, wie verschiedenartig die Fäden sein können, die zu gleicher Zeit, gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts, in ein und derselben Gegend zusammenlaufen, wenn diese als Kernland des deutschen Reiches besondere kaiserliche Gunst genießt. Zugleich möchte ich den Nachweis führen, daß die Hypothese Meiers 1), die von Dehio 2) und anderen übernommen wurde, das Langhaus in Königslutter sei der älteste Bauteil und die Ostpartie mit der Wölbung erst im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts angefügt, nicht zutreffen kann.

Die Stiftung des Klosters Königslutter fällt in das Jahr 1110. Graf Bernhard von Haldensleben gründet ein Jungfrauenstift des Augustinerordens, das sich aber scheinbar nicht recht entwickeln kann. Im Jahre 1135 wird auf Veranlassung der Gattin Kaiser Lothars, Riechensa, das Stift aufgehoben und der Konvent nach Drübeck verlegt. In Königslutter wird ein Benediktinerstift errichtet. Mönche vom Kloster Berge bei Magdeburg halten im Jahre 1135 ihren Einzug. Die Umwandlung des Stiftes sollte eine willkommene Gelegenheit bieten, ein großes Werk, der Macht des Sachsenkaisers entsprechend, in der Nähe seines Stammsitzes Süpplingenburg erstehen zu lassen. Ein gleiches Beispiel lernten wir unter Konrad II. kennen, der unweit seines Stammsitzes Limburg den mächtigen Kaiserdom in Speier gründet.

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1) P. J. Meier: Bau- und Kunstdenkmäler des Großh. Braunschweig, Bd. I.

2) Dehio: Geschichte der deutschen Kunst, Bd. I, S. 122.

 

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Es leuchtet ein, daß Lothar keine Mittel scheute, seinen Lieblingsbau, in dem er später auch seine letzte Ruhe fand, besonders prächtig auszustatten. Sein unvermuteter Tod zwei Jahre nach Baubeginn, im Jahre 1137, dürfte die Zuwendung kaiserlicher Mittel gehemmt haben. Sollte aber seine Gemahlin Richensa die Absicht gehabt haben, das Werk im Sinne des verstorbenen Gemahls würdig zu vollenden, so würde die Hemmung sicher vier Jahre später eingetreten sein, da Richensa bereits 1141 starb und an der Seite ihres Gatten beigesetzt wurde.

Man kann geradezu bis auf den einzelnen Stein den Augenblick der Beschränkung in den Mitteln verfolgen, und es ist garnicht zu verstehen, daß man immer wieder über diese Fingerzeige hinwegsehen konnte. Es würde den damaligen Gepflogenheiten widersprechen, wenn das Langhaus tatsächlich zuerst errichtet worden wäre, wie immer wieder gesagt wird. Ist es vom bautechnischen Standpunkt aus betrachtet schon unmöglich, die Mittelschiffsarkadenwand als erste zu errichten, so würde man wenigstens bestimmt beim Anfügen der Ost- und Westteile die Ansatzsteine (Verzahnung), die in die Arkadenwand greifen, nicht stärker als diese selbst gewählt haben. Ich habe darauf weiter unten noch näher einzugehen. Auf jeden Fall sind die Ost- und Westteile der Kirche vor dem Langhaus errichtet, beide Teile von vornherein auf Wölbung berechnet und im Ostteil auch gewölbt, für die Einwölbung des Hauptschiffes und der Seitenschiffe, sowohl an den Vierungspfeilern als auch am Westwerk, durch Anordnung von Diensten die erforderlichen Vorkehrungen getroffen.

Die Stiftskirche ist eine dreischiffige Pfeilerbasilika konsequentester Durchführung des „gebundenen“ Systems. Der Größe des Vierungsquadrates entsprechend legen sich im Osten ein Chorhausquadrat, im Norden und Süden die Querhausquadrate an. Das Hauptschiff besteht aus vier ebensolchen Quadraten, die Seitenschiffe haben genau halbe Weite. Ueber das Querhaus nach Osten hin erstrecken sich, das Chorquadrat begleitend, die bei den Benediktinern der Hirsauer Kongregation üblichen Seitenkapellen, durch Pfeilerarkaden mit vorgesetzter Säule gegen den Hauptchor geöffnet. Der verbleibende Rest der östlichen Querschiffswand hat im Norden und Süden kleine Apsiden. Die Apsiden des Hauptchores und der Seitenkapellen sind halbrund geschlossen.

 

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An der Westseite der Kirche sitzen vor den Seitenschiffen auf mächtigen Grundmauern zwei Türme, deren nördlicher als Treppenturm ausgeführt ist. Zwischen den Türmen ist eine Empore an-

 

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Abb. Nr. 25. Königslutter. Stiftskirche. Die hell schraffierten Teile wurden nach der Planänderung ausgeführt.


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Einfügung: Kaiserdom Königslutter Chor

 

geordnet. Ein anspruchsloses, jetzt vermauertes Portal führte von Westen her in die Kirche. Das Hauptportal, ein besonderes Kleinod, sitzt im westlichen Teil des nördlichen Seitenschiffes. Zwei Löwen links und rechts neben dem Eingang tragen je eine Säule, über deren Kapitell das weit in die Wand einliegende, nach außen abgetreppte Türkopfstück liegt. Das schöne Motiv, zweifellos lango-

 

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bardischen Ursprungs, wird umrahmt von der senkrecht aufsteigenden Fortsetzung des Wandsockels. Die Umrahmung legt sich zunächst links und rechts im Bogen auf das obere Abschlußgesims des Portals, um sich von hier aus im Halbkreis darüber hinzuziehen. Ein ebenfalls reichgehaltenes, durch Säulenstellungen und Archivolten gegliedertes Portal führt in das nördliche Querschiff. Aus dem süd-

 

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Abb. Nr. 26. Königslutter. Stiftskirche.

Hauptschiffsarkade und Vierungspfeiler.

 

lichen Querschiff geht eine Tür in den doppelschiffigen Kreuzgang, dessen Ornamentik von seltener Kostbarkeit und Reichhaltigkeit ist.

Schon der Grundriß der Kirche zeigt in seiner Mächtigkeit der östlichen Bauteile und der Westpartie die Vorkehrungen für das Gewölbe. Es fällt aber auf, daß im Gegensatz dazu die Arkadenpfeiler der Hauptschiffswand merklich schwächer ausgeführt sind. Eine Ausnahme machen lediglich die nordwestlichen zwei Pfeiler, die kräftige Vorlagen nach dem Seitenschiff zu tragen (beim Löwenportal). Die Gesamtbreite dieser Pfeiler mit Vorlage stimmt sonderbarerweise genau mit der Breite der entsprechenden Vorlage für die Arkadenwand am Vierungspfeiler überein.

Bei meinen Untersuchungen hatte ich in erster Linie auf die Stellen des Baues mein besonderes Augenmerk zu richten, an denen die Veränderungen stattgefunden haben müssen. Es fällt schon auf, daß die erste Arkade am Vierungspfeiler verschieden breite Bogensteine trägt, und zwar sind die Anfangsbogensteine, die in den Vierungspfeiler eingebunden sind, stärker als die übrigen. Ginge man von der Annahme aus, daß wirklich an das bereits bestehende Langhaus die Ostteile angefügt wurden, so wäre es nicht zu verstehen, daß man gerade die letzten drei Bogensteine, die übrigens

 

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den Schub aufzufangen haben, herausgerissen haben sollte, um an ihre Stelle weit breitere zu setzen, deren überstehender Teil völlig nutzlos wäre. Zu diesem Zweck hätte aber die Arkade unterfangen werden müssen. Der Unterschied der Bogensteine ist links und rechts gleich (hierzu Abbildung Nr. 26). Es fällt weiter auf, daß über den stärkeren Bogensteinen, etwas mehr gegen den Vierungspfeiler zurücktretend, ein Wandstreifen genau in der Breite der überstehenden Bogensteine aufsteigt, zweifellos die Anlage einer stärker geplanten Arkadenwand. Weitere Aufschlüsse waren in der aufsteigenden Außenwand, auf dem Boden des Seitenschiffes zu finden. Da, wo die Hauptschiffswand gegen das Querschiff stößt, fand ich folgendes: Aus der gleichmäßigen Quaderwand des Querschiffes ragen am Vierungspfeiler mächtige Zahnsteine (regel-

 

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Abb. Nr. 27. Winkel Querschiff - Langhauswand über dem nördl. Seitenschiff.

 

mäßig jeder erste und dritte Stein) in die Mittelschiffswand. Die Steine sind so stark, daß sie 35 cm aus der Hauptschiffswand vortreten. Die Mittelschiffswand selbst besteht aus kleinquadrigem Mauerwerk und ist, wie mit aller Deutlichkeit zu ersehen, zwischen die Zahnsteine eingeschoben, zum Teil sind Steine senkrecht gestellt, um gerade noch die Ecke auszufüllen, zum Teil sind Steine der Langhauswand um die Zahnsteine herumgestückt (Abb. Nr. 27). Wer wollte da noch daran zweifeln, daß die Mittelschiffswand an die Querhauswand angelegt wurde?

Liegen so in der Flucht der westlichen Vierungspfeiler die Ansatzstellen und ihre eindeutigen Schlüsse auf die Entstehung der einzelnen Teile klar, so gebietet die Vorsicht, die entsprechenden Ansätze im Westen zu suchen. Was sich im Osten zeigt, bestätigt sich im Westen. Die Halbpfeiler vor der Wand der Westpartie-

 

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die zur Aufnahme der ersten Westarkade bestimmt sind, haben nach den Seitenschiffen zu etwa in halber Höhe kräftige Vorlagen, zweifellos zur Aufnahme der Seitenschiffsgewölbe. Das Ansetzen der Hauptschiffswand, schwächer als ursprünglich beabsichtigt, geht auch aus dem aufsteigenden Mauerwerk hervor. Diese unzweideutigen Beweise ergeben alle notwendigen Aufschlüsse über die Reihenfolge der Entstehung der einzelnen Kirchenteile, über ursprüngliche Absicht und die dann erfolgte Planänderung. Es ist nun interessant zu verfolgen, in welchem Augenblick die Aenderung des Planes vorgenommen wurde. Die Planänderung ist wichtig für die Datierung, da sie nur mit dem Wegfall kaiserlicher

 

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Abb. Nr. 28. Sockel der Außenwand

 

Gunst und der Beschränkung der Mittel für die Vollendung der Kirche begründet werden kann, falls nicht nach der Bestattung des Kaiserpaares die Absicht bestimmend gewesen ist, das Langhaus auf dem raschesten Wege fertigzustellen. Sei es nun der eine oder andere Grund, die Zeit um 1140 bliebe für die Aenderung bestehen. Sollte ein Eingang wie das Löwenportal so reich ausgestattet werden können, wenn man sich allgemein große Beschränkung auferlegen mußte oder Eile nottat? Das Stück Wand, in dem das Portal sitzt, läßt erkennen, daß es mit dem Westwerk zugleich soweit wie nötig hochgeführt wurde. An der Innenseite sitzen Wandvorlagen, den Mittelschiffspfeilern gegenüber, in festem Verband mit der Außenwand. Sie entsprechen den Vorlagen an den Arkadenpfeilern. Die Vorlage vor dem letzten Pfeiler ist als fast volle Säule ausgebildet, dementsprechend auch der Dienst an der Außenwand. Die des zweiten Pfeilers rückt als Halbpfeiler in das Seitenschiff und findet an der Wand ihr Gegenstück. Die Kapitelle der

 

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Vorlagen sitzen alle gleich hoch, aber tiefer als der Kämpfer der Arkadenpfeiler. Für die Seitenschiffe scheint Stützenwechsel vorgesehen gewesen zu sein. Folgerichtig sitzt an dem östlichen Stück der Seitenschiffswand, das festen Verband mit dem nördlichen Querschiff hat und bei Errichtung der Ostpartie mit dieser hochgeführt zu werden pflegte, eine Säule als Wanddienst, dem entsprechenden Arkadenpfeiler gegenüber -- dieser natürlich ohne Pfeilervorsprung, da nach der Planänderung errichtet --, an der südlichen Seitenschiffsaußenwand ist die gleiche Anordnung getroffen.

Es läßt sich also ohne weiteres die Grenze für den Augenblick der Planänderung ziehen (Siehe Grundriß Abbild. Nr. 25). Nachdem man die kostspielige Einwölbung des Langhauses aufgegeben hatte, war es überflüssig, die Mittelschiffswände in der für Gewölbe berechneten Stärke hochzuführen. Es war auch nicht mehr nötig, bei Anordnung der Hauptschiffsfenster auf die Gewölbe Rücksicht zu nehmen, also je zwei zusammen zu rücken, wie es an der Ostpartie geschah. Man konnte sie gleichmäßig über die Oberwand des Hauptschiffes verteilen. Die Lisenengliederung der Außenwand, die wir an den Ostteilen finden, unterblieb am Hauptschiff. Auch am nördlichen Seitenschiff wird auf die beabsichtigte Lisenengliederung verzichtet. Nur so ist es zu verstehen, daß am östlichen Teil der Wand noch eine Lisene vom Sockel zum Dachgesims hochführt, während die übrige Wand bis zum Löwenportal glatt ist. Wie oben bereits gesagt, gehört das östliche Stück Seitenschiffswand mit dieser Lisene und das westliche Stück mit dem Löwenportal dem ersten Arbeitsgang an.

Die Westpartie war wohl bei der Planänderung bis zur mittleren Turmhalle bereits hochgeführt. Es sollten wohl, nach dem massiven Unterbau zu urteilen, zwei kräftigeTürme bedeutender Höhe den westlichen Abschluß bilden. Dazu kam es nicht mehr. Die jetzt vorhandenen kurzen, achteckigen Turmstümpfe machen deshalb im Vergleich zu dem stolzen Vierungsturm, der der ersten Bauperiode angehört, einen reichlich dürftigen Eindruck.

Die Ornamentik des Baues zeigt keinen deutschen oder gar sächsischen Charakter. Es ist auch schon wiederholt und mit Recht darauf hingewiesen worden, daß es nur langobardische Künstler gewesen sein können, die der Kaiser zu diesem besonderen Zweck an seinen Lieblingsbau herangezogen hat. Das kann aber so manches bisher Unverständliche erklären. Die Reichhaltigkeit und lockere Ge-

 

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staltung der Kapitellornamente an den Diensten der Ostteile liegt also nicht in der zeitlichen deutschen Kunstentwicklung begründet -- sonst wäre sie in der Art kaum vor dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts möglich --, sondern in dem Auftreten langobardischer Steinkünster, die ihren uns neuen, reichen heimatlichen Formenschatz und ihr erstaunliches Können nach Niedersachsen brachten. Es ist interessant zu sehen, wie das eine oder andere Dienstkapitell, scheinbar von der Hand eines beteiligten deutschen Steinmetzen, durch seine Schwere geradezu aus dem Gesamtrahmen fällt. Auch das unvermutet frühe Auftreten des Gewölbebaues in Niedersachsen in solcher Vollendung dürfte dadurch verständlicher werden. Von außerordentlicher Wichtigkeit ist die Tatsache, daß Königslutter im nördlichen Vorlande des Harzes den Reigen der Gewölbebauten beginnt. Jedenfalls ist uns bis jetzt keine Kirche nördlich des Harzes bekannt, die vor Königslutter Großgewölbe erhalten hätte. (Jenseits des Harzes, an St. Ulrich in Sangerhausen, tritt das Großgewölbe allerdings schon um 1115 auf.)

 

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die wichtigsten Teile der Stiftskirche in Königslutter, die die Ausführung des Gewölbes erlebt haben, wohl schon bereits um 1140 errichtet waren. Die Kirche dürfte um 1150 völlig fertiggestellt gewesen sein. Wenn zuweilen unbelegt behauptet wird, daß die Vorkehrungen für den Einbau der Gewölbe beim Anlegen der Ostteile zwar getroffen wurden, das Gewölbe selbst aber erst einige Jahrzehnte später folgte, so ist nicht einzusehen, daß in der Zeit reicher kaiserlicher Zuwendungen auf die Durchführung des Gewölbeplanes verzichtet und erst später, als die Zuwendungen nicht mehr erfolgten, die kostspielige Vollendung durchgeführt worden sein sollte.

Haupt- und Seitenschiffe erhielten flache Holzdecken, die in den Jahren 1693--95 durch die heute vorhandenen Gewölbe ersetzt wurden.

Die Lage des Stiftergrabes sei wegen ihrer prinzipiellen Bedeutung mit einigen Worten erwähnt. Das Grab liegt in der Längsachse des Mittelschiffes bei der dritten Arkade westlich der Vierung. Meier verbindet die Frage des Grabplatzes mit der des Bauverlaufs. Weiter möchte er in der günstigeren Bodenbeschaffenheit an der fraglichen Stelle den Anlaß zur Platzwahl sehen.

Es handelt sich bei der Grabstelle um einen ganz bestimmten Platz. Wie wir sahen -- Seite 30 --, hat bei den Benediktinern

 

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die Vierung die Bezeichnung „chorus maior” und ist dem höheren Klerus vorbehalten. Westlich der Vierung schließt sich daran der „Chorus minor" für die dienenden Brüder, nimmt also ein Stück des Mittelschiifes bis zum ersten Arkadenpfeiler ein. Hier sitzt die Schranke mit dem Lettner als Trennung des Chores vom Laienraum. Vor der Schranke steht im Mittelschiff der Altar des Heiligen Kreuzes, vor dessen Stufen die Stifter bestattet zu werden pflegten. Zahlreiche Beispiele können diese Feststellung bestätigen. Der Hl. Kreuzaltar wird auch in Königslutter urkundlich als „in medio ecclesiae“ gelegen erwähnt, was Meier irrtümlich als Mitte der Vierung deutet.

 

Quelle: Dissertation Albert Guth an der Universität Gießen 1930

 

Hinweis: Fotos wurden teilweise durch Aufnahmen von 2014 ersetzt sowie zusätzlich zur Verbesserung des Verständnisses eingefügt.